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Was in der syrischen Metropole Aleppo geschieht, lässt niemanden kalt, der menschliche Regungen besitzt. Zwei Millionen Menschen in der belagerten Stadt sind nach Angaben des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. Die medizinische Versorgung ist katastrophal, weil gezielt Spitäler angegriffen werden. Das humanitäre Völkerrecht verbietet derartige Attacken, die als Kriegsverbrechen eingestuft werden.
Die UNO fordert eindringlich eine 48-stündige Feuerpause für Aleppo, doch das Regime von Präsident Baschar Assad und seine Verbündeten – Russland, Iran, schiitische Milizen – auf der einen und die von Islamisten dominierten Rebellen auf der anderen Seite scheinen entschlossen, die Schlacht um Aleppo auszufechten. Sie setzen nach wie vor auf eine militärische «Lösung». Vor allem Assad will die Stadt unbedingt unter seine Kontrolle bringen.
Die Zeche zahlt die geschundene Zivilbevölkerung. Für den streitbaren Publizisten Henryk M. Broder ist Aleppo «schlimmer als Auschwitz». Er fordert, «das Geschehen mit militärischen Mitteln zu stoppen». Bereits vor einem Monat äusserte sich «Bild» in ähnlicher Weise: Falls die Konfliktparteien in Aleppo nicht gewisse «Minimalforderungen der Menschlichkeit» erfüllen, «muss die Welt zeigen, dass sie bereit ist, die grundlegenden Menschenrechte zu verteidigen. Und dies mit allen vorhandenen und dazu notwendigen Mitteln.»
Derartige Forderungen sind so verständlich wie hilflos. Sie reflektieren die moralische Empörung angesichts des Blutvergiessens und der Ruchlosigkeit der am Krieg beteiligten Parteien. Gleichzeitig sind sie Ausdruck einer verhängnisvollen Erlösungsfantasie: Die USA und Europa sollen ihre geballte militärische Macht einsetzen, dann kommt alles gut in Syrien.
Wenn die Welt nur so einfach wäre. Militärische Interventionen des Westens in dieser Region haben nur selten positive Folgen gehabt. Für die syrischen Bürgerkrieg gilt dies erst recht. In dem chaotischen Konflikt bieten sich dem Westen nur schlechte Optionen.
Seit Beginn des Aufstands vor mehr als fünf Jahren ist Syrien ein Pulverfass. Unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings erhoben sich Teile der Bevölkerung – längst nicht alle, die Christen etwa unterstützen Assad – gegen den verhassten Diktator. Dieser war entschlossen, seine Macht und die der alawitischen Minderheit, der sein Clan angehört, mit allen Mitteln zu verteidigen. Mit brutalster Gewalt ging er gegen die Aufständischen vor.
Ein Sturz Assads schien dennoch nur eine Frage der Zeit zu sein. Doch der Machthaber konnte auf mächtige Freunde zählen: Für Iran ist Syrien der wichtigste Verbündete in der arabischen Welt, weshalb nicht nur iranische Revolutionsgardisten, sondern auch schiitische Milizen aus Irak und Libanon an der Seite von Assads Streitkräften kämpfen. Auch Russland hat eminente strategische Interessen, es unterhält in Syrien seine einzigen Militärbasen am Mittelmeer.
Umgekehrt witterten Saudi-Arabien und Katar die Chance, den Erzfeind Iran mit der Beseitigung Assads empfindlich zu schwächen. Die beiden Golfmonarchien lieferten den Rebellen Waffen und finanzielle Unterstützung. Aus einem internen Konflikt wurde ein Stellvertreterkrieg um die Vormacht in der Region am Persischen – oder Arabischen – Golf.
Der Westen hatte in diesem Machtspiel auf dem Rücken der Menschen von Anfang an schlechte Karten. An Forderungen nach einem verstärkten Eingreifen fehlte es nie. So wurde etwa eine Flugverbotszone zum Schutz der Bevölkerung in den «befreiten» Gebieten angeregt. Dies hätte womöglich ein noch früheres Eingreifen der Russen provoziert. Wohin das hätte führen können, zeigt der Abschuss eines russischen Kampfjets durch eine türkische F-16 im letzten November.
Eine zweischneidige Sache ist auch die Lieferung von Luftabwehrraketen an die Rebellen. Sie könnten sich damit gegen die syrische Luftwaffe wehren, insbesondere gegen die mörderischen Fassbomben-Abwürfe, mit denen Assad sein Volk terrorisiert. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Lenkwaffen in den falschen Händen am Ende nicht gegen syrische oder russische Flugzeuge und Helikopter eingesetzt werden, sondern gegen israelische Passagiermaschinen.
Ohnehin scheuen Amerikaner und Europäer vor einem militärischen Eingreifen ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrats zurück. Dort aber blockiert Russland mit seiner Vetomacht alle Beschlüsse, die gegen Assad gerichtet sein könnten. Es hat aus den Erfahrungen im Libyen-Konflikt gelernt. Der Sicherheitsrat beschloss damals Massnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung, die faktisch in ein Mandat zur Entmachtung von Diktator Muammar Gaddafi umgedeutet wurden.
Einmal allerdings war es fast so weit: Nach einer Reihe von Giftgasangriffen vor drei Jahren – deren Urheberschaft umstritten ist – erklärte US-Präsident Barack Obama seine «roten Linien» für überschritten. Ein Militärschlag gegen das syrische Regime schien beschlossene Sache. Doch Assad erwies sich in dieser Lage als Überlebenskünstler. Er erklärte sich zur Zerstörung seines Chemiewaffen-Arsenals bereit und «entwaffnete» Obama damit im wahrsten Sinn des Wortes.
Heute sind dem Westen trotz der Katastrophe in Aleppo mehr oder weniger die Hände gebunden. Eine militärische Intervention wäre mit einem gigantischen Aufwand und einem unkalkulierbaren Risiko verbunden. Von den «moderaten» Rebellen ist ohnehin so gut wie nichts geblieben. Man hat faktisch nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Hier Assad, dort die Islamisten.
Realpolitik ist hässlich, doch die Alternativen sind schlimmer. Der Westen sollte sich auf den Kampf gegen den «Islamischen Staat» konzentrieren, der eine konkrete Bedrohung darstellt. Daneben gilt es, die Hilfe für Flüchtlinge vor Ort zu verstärken, denn sie werden nicht so bald zurückkehren können. Ausserdem verhandeln Amerikaner und Russen offenbar über einen Plan, der regelmässige Hilfslieferungen nach Aleppo möglich machen soll, um die schlimmste Not zu lindern.
Weiter soll sich der Westen bemühen, die Friedensgespräche in Genf wieder aufzunehmen, auch wenn dies im Moment aussichtslos erscheint, weil beide Seiten die Waffen nicht niederlegen wollen. Eine Ende des Konflikts liesse sich wohl nur erreichen, wenn Russland und Iran überzeugt werden könnten, Assad fallenzulassen, bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Interessen. Doch dafür sitzt das Misstrauen zu tief. Auch in diesem Fall zahlt der Westen für vergangene Fehler.
Die Empörung über Aleppo ist verständlich. Auschwitz-Vergleiche aber helfen nicht weiter. Eher sollte man sich an der jüngeren Vergangenheit orientieren. «Die Bestrebungen der USA, Regimewechsel herbeizuführen, haben zum Kollaps von Staaten und zur Ausbreitung extremistischer islamischer Gruppen geführt», hielt der amerikanische Syrien-Kenner Joshua Landis in einem Interview mit der NZZ fest. Eine wahre wie bittere Erkenntnis.
Wir sollten uns für Aleppo schämen, meint Henryk M. Broder. Das mag zutreffen. Aber mehr Grund zur Scham haben Russen, Iraner und Saudis, die dieses Inferno möglich machen.