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Terrorismus

Charlie Hebdo: Ein Jahr nach den Attentaten

Die Provokationen gehen weiter: Blutverschmierter Gott auf der «Charlie Hebdo»-Sonderausgabe.
Die Provokationen gehen weiter: Blutverschmierter Gott auf der «Charlie Hebdo»-Sonderausgabe.
Bild: IAN LANGSDON/EPA/KEYSTONE

«Charlie Hebdo»: Bodyguards für die Zeichner – aber eine spitze Feder wie eh und je

Genau ein Jahr ist es her, seit die Redaktion von «Charlie Hebdo» einem blutigen Attentat zum Opfer fiel. Mittlerweile sind die neuen Büroräume bezogen und der Absatz des Magazins so hoch wie nie – aber es gab auch Misstöne in der Redaktion.
07.01.2016, 05:5807.01.2016, 07:55
Corsin Manser
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Die neuen Büros gleichen einem Hochsicherheitstrakt. Mehrere Sicherheitsschleusen, elektronische Schlösser und diverse Bodyguards müssen passiert werden, bis man ins Herz der neuen «Charlie Hebdo»-Redaktion gelangt.

Seit Oktober 2015 befindet sich die neue Werkstätte der Karikaturisten im Süden von Paris, zuvor fanden die Mitarbeiter von Charlie Hebdo in den Räumlichkeiten der Zeitung «Libération» Unterschlupf. Es wurde alles daran gesetzt, dass sich ein Attentat wie jenes, das sich heute vor einem Jahr ereignet hat, nicht wiederholen wird. 

Die Gedenktafel vor den alten «Charlie Hebdo»-Büros: Beim Sturm auf die Redaktion kamen zwölf Menschen ums Leben. 
Die Gedenktafel vor den alten «Charlie Hebdo»-Büros: Beim Sturm auf die Redaktion kamen zwölf Menschen ums Leben. 
Bild: EPA/REUTERS POOL

Rund 1.5 Millionen Euro sollen die Sicherheitsvorkehrungen gekostet haben. Hinzu kommen gemäss der französischen Zeitung «Le Monde» monatliche Kosten von 500'000 Euro für die engagierten Sicherheitskräfte. Nichts wird dem Zufall überlassen, auch in ihrer Freizeit werden die Künstler von Personenschützern begleitet.

«Jede Woche müssen wir über die Attentate reden. Ich will das nicht mehr, es ist ermüdend.»
Patrick Pelloux

Mit den Gräueltaten abzuschliessen, ist unter diesem Setting schwierig, der Nebel des Attentats hat Charlie Hebdo weiterhin fest im Griff. Die Lage bleibt angespannt, unter den überlebenden Redaktoren soll es vor allem im ersten Halbjahr nach den Anschlägen immer wieder zu grösseren Auseinandersetzungen gekommen sein. 

Einigen Mitarbeitern wurde dies zu viel, sie haben im Verlaufe des vergangenen Jahres einen Schlussstrich gezogen. So kündete unter anderem Karikaturist Patrick Pelloux Ende September an, «Charlie Hebdo» zu verlassen: «Jede Woche müssen wir über die Attentate reden. Ich will das nicht mehr, es ist ermüdend.»

Trotz des Damoklesschwerts, welches irgendwie nicht so recht über dem Satiremagazin verschwinden will, kämpfen die verbliebenen Mitarbeiter mit beeindruckender Konsequenz weiter: Vergangenes Jahr wurde wie geplant jede Woche ein neues Heft gedruckt. Sich dem Terror zu beugen, stand für die Überlebenden nie zur Diskussion. «Für einen grossen Cartoonisten ist zeichnen wie atmen, wir können gar nicht anders, als weitermachen», so die Devise von Chefredaktor Gérard Biard. 

Die Auflage massiv gesteigert

Das Publikum, welches Biard und sein Team erreicht, ist durch die Attentate auf einen Schlag um ein Vielfaches grösser geworden. Die Auflage der Wochenzeitschrift ist regelrecht explodiert.

Besonders viel Aufmerksamkeit erhielt die erste Ausgabe nach den Attentaten. Diese wurde in sechs Sprachen übersetzt und ging fast acht Millionen Mal über den Ladentisch. Zum Vergleich: Vor dem Anschlag wurden pro Woche rund 60'000 Hefte gedruckt, wovon nur rund die Hälfte abgesetzt wurde. Mittlerweile hat «Charlie Hebdo» etwa 180'000 Abonnenten und verkauft rund 90'000 weitere Exemplare wöchentlich an den Kiosken. Insgesamt erreicht die Zeitschrift heute fast zehn Mal mehr Leser als noch vor einem Jahr. 

«Es ist alles vergeben»: Die erste Ausgabe nach den Anschlägen wurde fast acht Millionen Mal gedruckt.
«Es ist alles vergeben»: Die erste Ausgabe nach den Anschlägen wurde fast acht Millionen Mal gedruckt.
Bild: X00102

Aus ökonomischer Sicht ist die neu erlangte internationale Bekanntheit für das Magazin erfreulich, noch im Jahr 2014 kämpfte das Magazin ums finanzielle Überleben. Darüber muss sich «Charlie Hebdo» so bald wohl keine Gedanken mehr machen. Es mussten sogar zwei neue Stellen geschaffen werden. Neuerdings kümmert sich beim Satire-Magazin ein Vollzeit-Angestellter um die Abo-Verwaltung, das HR-Team wurde ebenfalls verstärkt.  

«Für einen grossen Cartoonisten ist zeichnen wie atmen, wir können gar nicht anders, als weitermachen»
Gérard Biard

Provokationen gewinnen an Relevanz

Seit den Anschlägen ist zudem die Resonanz des Magazins gestiegen. Die Karikaturen haben auch im Ausland an Relevanz gewonnen. Angesichts des provokativen Charakters der Zeichnungen hat dies fast schon zwangsläufig auch zu mehr Kritik geführt. Besondere Sprengkraft entwickelte zum Beispiel die Illustration, welche nach dem Absturz des russischen Passagierfliegers über dem Sinai veröffentlicht wurde.

«Russland hat seine Bombardierungen verschärft», schrieb das Magazin und zeichnete, wie Wrackteile und ein Passagier des Fliegers auf einen «IS»-Kämpfer niederprasseln. Moskau liess darauf von offizieller Seite verlauten, die Karikaturen seien «eine schmutzige Verhöhnung.»

Staatsaffären hin oder her, «Charlie Hebdo» scheint mit der Kritik kein Problem zu haben. Die Tonalität ist die gleiche geblieben, die Redaktion nimmt weiterhin kein Blatt vor den Mund. Auch heikle Themen wie der Tod des Flüchtlingskindes Aylan Kurdi werden aufgegriffen und in einen provokativen Kontext gestellt. 

Gespannt wartete man auch auf die Reaktion von Charlie Hebdo nach den blutigen Anschlägen im November. Entstanden ist eine Titelseite, die den trotzigen Spirit der Redaktion treffend wiedergibt. Sie zeigt einen Mann, der trotz Schusswunden weiterfeiert. 

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