International
Russland

Amnesty-Bericht wirft schlechtes Licht auf ukrainisches Militär

Amnesty-Bericht wirft schlechtes Licht auf ukrainisches Militär – Selenskyj empört

Während Wochen haben Forschende von Amnesty International russische Angriffe in ukrainischen Gebieten untersucht. Am Donnerstag wurde der Bericht dazu veröffentlicht. Fazit: Die ukrainische Kriegsführung hat Zivilisten in erhebliche Gefahr gebracht.
05.08.2022, 20:1705.08.2022, 21:18
Mehr «International»

Seit Februar muss sich die Ukraine gegen die russische Invasion verteidigen, wobei sie bisher viel internationale Unterstützung erfahren hat. Nun aber muss das von Wolodymyr Selenskyj geführte Land aus einer ungewohnten Ecke Kritik einstecken. In einem am Donnerstag veröffentlichten Report kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die ukrainische Kriegsführung.

A Ukrainian serviceman carries a 155 mm artillery shell before firing at Russian positions from a U.S.- supplied M777 howitzer in Kharkiv region, Ukraine, Thursday, July 14, 2022. (AP Photo/Evgeniy Ma ...
Ein ukrainischer Soldat in der Charkiw Region mit einer 155-mm-Artilleriegranate auf der Schulter.Bild: keystone

Der Report basiert auf Untersuchungen, die zwischen April und Juli in der Charkiw, Donbass und Mykolaiv Region durchgeführt wurden. Im Fokus der Untersuchungen lagen russische Angriffe, wofür die Forschenden die betroffenen Gebiete aufsuchten, um dort unter anderem Überlebende, Zeugen und Verwandte der Opfer zu interviewen.

Das Wichtigste aus dem Report und die Reaktion der Ukraine in 4 Punkten:

Zu nahe in Wohngebieten

Bei den Untersuchungen fanden die Forschenden heraus, dass ukrainische Streitkräfte Angriffe aus bewohnten Wohngebieten gestartet und sich in 19 Städten und Dörfern in zivilen Gebäuden verschanzt hatten. Zwar seien diese Wohngebiete nur wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt gewesen, so Amnesty, doch hätte es realistische Alternativen gegeben. Beispielsweise Militärbasen und bewaldete Gebiete, in denen das Leben von Zivilisten nicht gefährdet worden wären. Amnesty mahnt:

«Solche Strategien verletzen das internationale humanitäre Recht und gefährden Zivilisten, da sie zivile Objekte in militärische Ziele verwandeln.»
epa10076282 A handout photo made available by the press service of the State Emergency Service of Ukraine shows a damaged building after a shelling in Mykolaiv, Ukraine, 17 July 2022. According to Myk ...
Ein Gebäude, dass am 17. Juli bei einem russischen Angriff in Mykolaiv beschädigt wurde.Bild: keystone

Zudem sei Amnesty nicht bekannt, dass die ukrainischen Streitkräfte alle nötigen Massnahmen getroffen hätten, um die Zivilisten zu schützen. So hätten die Zivilisten zur Evakuierung aufgerufen werden und dabei unterstützt werden sollen.

Im Report beschreibt Amnesty den Fall einer Frau aus einem Dorf südlich von Mykolaiv. Das Militär habe sich im Nachbarhaus aufgehalten und ihr 50-jähriger Sohn habe den Soldaten oft Essen gebracht, berichtete die Frau. Sie habe ihn mehrmals angefleht, dies zu unterlassen, da sie um seine Sicherheit besorgt war. Zu Recht, denn am 10. Juni geschah genau das, wovor sie sich gefürchtet hatte:

«An jenem Nachmittag, als der Angriff erfolgte, befand sich mein Sohn im Hof unseres Hauses und ich war im Haus. Er war auf der Stelle tot. Sein Körper wurde in Stücke gerissen. Unser Haus wurde teilweise zerstört.»

Forschende fanden militärische Ausrüstung und Uniformen im Nachbarhaus.

In einem anderen Fall seien sie Zeugen davon geworden, wie sich ukrainische Streitkräfte in einem Wohnhaus niedergelassen hätten, welches nur gerade mal 20 Meter vom Eingang eines unterirdischen Schutzraums entfernt gewesen sei.

Militärische Basen in Spitälern und Schulen

Weitere Untersuchungsergebnisse belasten das ukrainische Militär schwer: Forschende von Amnesty International sollen beobachtet haben, wie ukrainische Streitkräfte an fünf Orten Krankenhäuser als De-facto-Militärstützpunkte nutzten. Weiter schreibt Amnesty:

«In zwei Städten ruhten sich Dutzende von Soldaten in den Krankenhäusern aus, tummelten sich dort und nahmen Mahlzeiten ein. In einer anderen Stadt feuerten die Soldaten aus der Nähe des Krankenhauses.»

Gemäss Amnesty habe sich das ukrainische Militär auch regelmässig in Schulen in der Donbass und Mykolaiv Region niedergelassen. In 22 von 29 Schulen hätten Amnesty Forschende entweder direkt Soldaten angetroffen oder Hinweise auf einen aktuellen oder kürzlichen Aufenthalt gefunden. Viele russische Angriffe hätten Schulen getroffen, welche von ukrainischen Streitkräften benutzt worden seien, so Amnesty weiter.

epa10098951 Ukrainian rescuers work at the site of a college shelling in Kharkiv, Ukraine, 30 July 2022. Kharkiv and surrounding areas have been the target of heavy shelling since February 2022, when  ...
Ein College in Kharkiv, welches am 30. Juli bei einer russischen Attacke zerstört wurde.Bild: keystone

In mindestens drei Städten sei das Militär nach der Bombardierung einer Schule in eine andere nahegelegene Schule gezogen. Damit hätten sie die angrenzende Nachbarschaft dem Risiko einer weiteren Attacke ausgesetzt.

Wenn in Schulen kein Unterricht stattfindet, ist es den Konfliktparteien gemäss humanitärem Völkerrecht nicht ausdrücklich verboten, sich dort niederzulassen. Sie sind allerdings dazu verpflichtet, Schulen zu vermeiden, wenn sich diese in der Nähe von Häusern und Gebäuden befinden, in denen sich Zivilisten aufhalten. In diesen Fällen sollte die Zivilbevölkerung gewarnt werden. Dies scheint laut Amnesty Internation in den untersuchten Fällen nicht geschehen zu sein.

Willkürliche Angriffe der russischen Streitkräfte

Zu Ende des Reports betont Amnesty schliesslich aber noch, dass die russischen Attacken mit zivilen Opfern niemals gerechtfertigt gewesen seien:

«Gleichzeitig rechtfertigen die ukrainischen Verstösse in keiner Weise die vielen wahllosen Schläge des russischen Militärs mit zivilen Opfern, die wir in den vergangenen Monaten dokumentiert haben.»

Weiter betont Amnesty, dass alle Konfliktparteien jederzeit zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten unterscheiden müssten. Dafür müssten alle möglichen Vorkehrungen getroffen werden – auch bei der Wahl der Waffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung zu minimieren. Ein Gesetz, gegen das Russland schon mehrmals mit dem Einsatz von Streumunition und explosiven Waffen mit grossflächiger Wirkung verstossen hat.

Die Ukraine reagiert empört

Die Reaktion des ukrainischen Präsidenten auf den Report fiel heftig aus. In seiner täglichen Videoansprache machte Selenskyj seinem Ärger am Donnerstagabend Luft:

«Wenn jemand einen Bericht anfertigt, in dem Opfer und Angreifer gewissermassen auf eine Stufe gestellt werden, wenn gewisse Daten über das Opfer analysiert werden und dabei ignoriert wird, was der Angreifer zur selben Zeit gemacht hat, dann kann das nicht toleriert werden.»
FILE - In this photo provided by the Ukrainian Presidential Press Office on July 8, 2022, Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy, attends a meeting with military officials during his visit the war-hi ...
Nicht glücklich über den Report von Amnesty Internation: Wolodymyr Selenskyj.Bild: keystone

Amnesty International schiebe die Verantwortung des Aggressors auf das Opfer, kritisiert Selenskyi weiter.

«Es kann nicht einmal hypothetisch irgendeine Bedingung geben, unter der ein russischer Angriff auf die Ukraine gerechtfertigt wäre. Eine Aggression gegen unseren Staat ist unprovoziert, invasiv und offen terroristisch.»

Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak ging in seiner Kritik gar einen Schritt weiter und warf Amnesty die Beteiligung an einer russischen Propaganda-Kampagne vor, mit welcher die westlichen Waffenlieferungen gestoppt werden sollen.

«Die einzige Gefahr für Ukrainer ist die russische Armee aus Henkern und Vergewaltigern, die in die Ukraine kommen und einen Genozid verüben», schrieb Podoljak auf Twitter. Er verwies zudem darauf, dass immer wieder Bewohner aus frontnahen Städten evakuiert würden – eben weil das Leben der Zivilbevölkerung für die Ukraine Priorität habe.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar wurden wiederholt Fälle schwerster Verbrechen an Zivilisten öffentlich, für die die Ukraine – aber auch grosse Teile der internationalen Gemeinschaft – Russland verantwortlich machen. Zu den schockierendsten Fällen zählen etwa der Fund Hunderter Leichen im Kiewer Vorort Butscha oder ein Raketenangriff, der im April fliehende Ukrainer in der östlichen Stadt Kramatorsk traf.

Mit Material der Nachrichtenagenturen sda und dpa.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das schreibt die Presse zu Butscha
1 / 14
Das schreibt die Presse zu Butscha
«La Repubblica», Italien: «Der Horror von Butscha».
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
290 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
_andreas
05.08.2022 20:52registriert April 2020
Nicht umsonst ruft Selenskyj immerwieder dazu auf bestimmte Gebiete zu verlassen. Wenn man z.B. Mariopol sieht spielt es keine Rolle wo sich das Ukrainische Millitär aufhält, die Russen zerbomben eh wahllos alles.

Übrigens millitärische Basen bzw viele millitärisch genutzte Unterkünfte gibts auch bei uns in unmitelbarer nähe zu Schulen und Spitälern.
19656
Melden
Zum Kommentar
avatar
goschi
05.08.2022 20:55registriert Januar 2014
zur Einordnung:

Das Kriegsvölkerrecht sieht durchaus vor, dass auch Soldaten Spitäler nutzen dürfen und diese verlieren den Schutz EXPLIZIT nicht dadurchg.

Ausserdem sind zivilgebäude ohne Schutzzeichen völlig zulässige Nutzbauten, gerade Schulen wären in der Schweiz zB auch als Behelfskaserne vorgesehen gewesen.

Der AI-bericht hat - leider typisch AI - das problem, dass er durch die Formulierung und die ideologisiert harte Bewertung eine Täter-opfer umkehr macht, so wird keinerlei Bezug genommen, dass sich die ukraine in der verteidigung befindet, Russland die Städte sowieso angreift.
18263
Melden
Zum Kommentar
avatar
manhunt
05.08.2022 21:38registriert April 2014
es wird von AI völlig ausser acht gelassen, dass sich viele zivilisten partout nicht evakuieren lassen wollen. und das, obwohl die ukrainischen behörden wiederholt dazu aufrufen und auch hilfe anbieten. darum strategisch wichtige gebäude oder geländepunkte nicht zu nutzen, wäre für die ukrainische verteidigungsfähigkeit fatal. ich glaube durchaus, dass auch die ukrainische armee fehler begeht. trotzdem hat dieser bericht einen sehr faden beigeschmack.
5723
Melden
Zum Kommentar
290
SVP will Benzin und Diesel verbilligen, Rösti-Departement übt Kritik – die Sonntagsnews
Weniger Solarstrom aus den Alpen, rechtsextreme Verbindungen der Jungen SVP und gestrichene Sendungen von SRF Kultur: Das und mehr findet sich in den Sonntagszeitungen.

Der Energiekonzern Axpo hat die Prognosen zur Stromproduktion von alpinen Solaranlagen deutlich nach unten geschraubt. Statt mit zwei Terawattstunden rechnet Axpo kurzfristig noch mit einem Viertel der angestrebten Menge, wie die «SonntagsZeitung» einer neuen Schätzung entnahm. Die langfristige Produktionsprognose reduzierte der Konzern demnach gar um den Faktor 10. Das sei nicht einmal die Hälfte dessen, was sich die Politik bereits für 2030 versprochen habe. Grund seien in erster Linie die höheren Baukosten im hochalpinen Gelände. Energieminister Albert Rösti kenne das Problem. Doch wolle er weiterhin auf die alpine Solarkraft setzen. «Jede Anlage, die gebaut wird, leistet einen Beitrag», sagte er.

Zur Story