Mit dem Machtwechsel in Washington rückt möglicherweise eine Verhandlungslösung für den Krieg in der Ukraine näher. Angesichts des langsamen, aber doch steten russischen Vormarschs würde ein solcher Friedensvertrag die Ukraine wohl dazu zwingen, Gebiete an Russland abzutreten. Dadurch würde Moskau für seine völkerrechtswidrige Aggression belohnt – mit unabsehbaren Folgen auch für die freien Länder Europas.
Laut einer im Herbst durchgeführten Umfrage befürworten inzwischen 52 Prozent der Ukrainer eine schnelle Verhandlungslösung. Innerhalb eines Jahres hat sich dieser Anteil fast verdoppelt. Auch in Russland sind laut einer aktuellen Umfrage inzwischen 52 Prozent der Befragten für Friedensverhandlungen.
Wenn es um Gebietsabtretungen geht, ist in der Ukraine aber nur etwas mehr als die Hälfte der Verhandlungsbefürworter dazu bereit. Gemessen an allen Befragten sind es sogar nur 27 Prozent, die Russland um des Friedens willen Gebiete überlassen wollen. Das zeigt: Nach wie vor sind Gebietsabtretungen in der ukrainischen Bevölkerung unpopulär.
Dabei gehen auf dem Schlachtfeld derzeit jeden Tag mehr als 20 Quadratkilometer verloren, vor allem im Oblast Donezk im Osten des Landes, wo der Hauptstoss der russischen Offensive erfolgt. Das sind faktisch unfreiwillige «Gebietsabtretungen», deren Folgen man schon heute besichtigen kann. Inzwischen hat auch die Führung in Kiew durchblicken lassen, dass sie nicht mehr an eine militärische Rückeroberung der von Russland besetzten Landesteile glaubt.
Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die Ukraine den Krieg verloren hat: Seit Februar 2022 haben die Russen gerade einmal 12 Prozent des Territoriums erobert, das Kiew zu Beginn der Invasion kontrollierte. Übertragen auf die Schweiz entspräche dies einem Gebietsverlust von knapp der Fläche des Kantons Wallis – und dies nach 33 Monaten Krieg.
Wenn es um mögliche Abtretungen in der Ukraine geht, muss man die Halbinsel Krim und Teile des Donbass hinzuzählen, die Russland schon 2014 besetzt hat. Diese Territorien plus alle Eroberungen seit Februar 2022 machen etwas mehr als 18 Prozent der Ukraine in den Grenzen von 1991 aus. Es ist davon auszugehen, dass Putin in Verhandlungen nicht auf diese 18 Prozent verzichten wird – im Austausch gegen einen wohl nur temporären Frieden.
Das ist auch das Problem mit allfälligen Gebietskonzessionen: Der Aggressor würde ermuntert, seine Angriffe – vielleicht nach einer Kampf- und Aufrüstungspause – fortzusetzen. Verhindert werden könnte das nur durch hieb- und stichfeste Sicherheitsgarantien der westlichen Welt.
Allerdings hatten die USA und Grossbritannien der Ukraine schon 1994 Sicherheitsgarantien gewährt, die sich später als absolut wertlos herausstellten. Niemand hat jemals ernsthaft versucht, die russischen Annexionen rückgängig zu machen oder den Kreml in die Schranken zu weisen.
Was im Westen häufig verdrängt wird, ist Folgendes: Wenn ukrainisches Land in Moskaus Hände fällt, folgen immer Fluchtbewegungen. Aus der Stadt Bachmut, die im Mai 2023 von den Russen erobert wurde, sind zum Beispiel etwa 95 Prozent der Einwohner geflüchtet. Nur wenige blieben, um unter russischer Herrschaft zu leben.
Daran dürfte sich auch in Zukunft nichts ändern. Und selbst jene, die bleiben wollen, werden sich mit einer vollkommen zerstörten Infrastruktur konfrontiert sehen und mit ausgebombten Städten, in denen es keine Arbeit und keinerlei Aussicht auf Wiederaufbau gibt.
Die Zahlen sind erdrückend: Bachmuts Nachbarstadt, Konstantinowka, hatte vor der russischen Invasion rund 70'000 Einwohner. Seit dem Fall von Bachmut ist die Front nun aber viel näher gerückt. Von den Aussenquartieren sind es noch etwa 8 Kilometer bis zu den nächsten russischen Stellungen. Artillerie- und Bombenangriffe nehmen zu, und in den letzten Monaten hat ein grosser Teil der Bevölkerung die Stadt fluchtartig verlassen.
Die aktuelle Einwohnerzahl schätzen die Behörden nun noch auf 18'000. Überall in der Stadt wurden riesige Plakate aufgehängt, um die Menschen zur Evakuierung zu bewegen. Und es vergeht kein Tag, an dem die Menschen nicht eine SMS der Behörden erhalten mit der Aufforderung, den Oblast Donezk zu verlassen.
An den wenigen noch funktionierenden Bankomaten bilden sich Schlangen. Fast alle Cafés und Restaurants sind geschlossen, auch weil die Ausgangssperre inzwischen von 3 Uhr nachmittags bis 11 Uhr morgens dauert. Obwohl es noch häufig Strom und Heizung gibt, wird das Leben so immer unerträglicher – ganz abgesehen von gelegentlichen Explosionen russischer Raketen und Gleitbomben.
Ein ähnlicher Exodus ist weiter westlich in den Frontstädten Pokrowsk und Mirnograd zu beobachten. Dort sind die Zerstörungen viel weiter fortgeschritten als im vergleichsweise ruhigen Konstantinowka. Erzwungen werden Evakuierungen nur im Fall von Familien mit Kindern, die restlichen Zivilisten dürfen selbst entscheiden, ob sie flüchten oder auf die Ankunft der Russen warten wollen.
In der Bergwerksstadt Mirnograd hält ein Autofahrer neben uns und lässt das Seitenfenster herunter. Er erzählt erregt, dass die aktuellen Einwohnerzahlen der Behörden zu niedrig seien. Viele Einwohner hätten zunächst zwar die Flucht ergriffen, seien dann aber nach und nach wieder heimgekehrt, weil sie weiter im Landesinnern keine adäquaten Unterkünfte gefunden hätten. Auch sei das Leben als Vertriebener im eigenen Land nicht gerade erbaulich.
Tatsächlich stehen an manchen Ausfallstrassen Polizeiautos. Die Uniformierten kontrollieren Fahrzeuge, die sich auf dem Weg nach Pokrowsk und Mirnograd befinden. Die fliegenden Strassensperren sollen verhindern, dass Familien mit Kindern in die Frontstädte zurückkehren.
Der Teil des Oblast Donezk, der vor der russischen Grossinvasion unter ukrainischer Kontrolle stand, hatte zu Kriegsbeginn etwa 1,9 Millionen Einwohner. Heute sind es weniger als 330'000. Und der Oblast Donezk ist nur eine von insgesamt vier Regionen, die Russland sich ganz einzuverleiben gedenkt.
Von diesen vier Landesteilen kontrollieren die Ukrainer noch rund 26'000 Quadratkilometer, und auf dieser Fläche leben schätzungsweise noch zwei Millionen Menschen. Ein Grossteil dieser Menschen wird flüchten, wenn ihr Land an Russland abgetreten wird. Und in den übrigen Teilen der Ukraine würden sich weitere Millionen Menschen wohl gut überlegen, ob sie in ihrer Heimat noch eine Zukunft sehen. (aargauerzeitung.ch)
Ist das unser Ernst?!