Mitte Woche war sie plötzlich da, die schwimmende Ponton-Brücke über den Fluss Pripyat im weissrussischen Niemandsland, keine sechs Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. In der verlassenen Sperrzone rund um das einstige Atomkraftwerk Tschernobyl war bislang nur der Fluss zu sehen. Jetzt aber zeigen Satellitenbilder einen neuen Übergang: einen, wie ihn Panzer typischerweise nutzen, um Gewässer zu überqueren.
Dass eine russische Invasion der Ukraine «schon in den nächsten Tagen» bevorsteht, davon gehen die Briten und die Amerikaner inzwischen fest aus. Und dass es die rund 30'000 in Weissrussland stationierten russischen Soldaten sind, die den Angriff lancieren könnten, halten Experten für plausibel. Das wären schlechte Neuigkeiten für Kiew. Die ukrainische Hauptstadt liegt gerade mal 120 Kilometer südlich der weissrussischen Grenze. Verständlich, dass die neue Militärbrücke dort oben am Pripyat in Kiew zu reden gibt.
Wladimir Klitschko, der Bruder des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko. versucht zwar noch, mit sonnigen Selfies vom Maidan Zuversicht auszustrahlen. Und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski lässt sich beim Sandwichessen mit Soldaten an der Front ablichten. «Meine Freunde aber haben ihre Koffer gepackt und sind nach Lemberg ganz im Westen geflohen», erzählt eine Bekannte aus Kiew. Sie selber bleibe noch, aber wohl nicht mehr lange.
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— Klitschko (@Klitschko) February 14, 2022
Wie genau würde Kiew denn auf einen russischen Angriff reagieren? Wie bringt man die drei Millionen Menschen rechtzeitig in Sicherheit? Anruf bei Roman Tkatschuk, Leiter des Sicherheitsdepartements und Zivilschutzchef von Kiew. Eine Rauchpause lang habe er Zeit, sagt Tkatschuk grummelig ins Telefon, und erzählt über das Kiewer Bunker-Problem.
Rund 3000 private Schutzräume gibt es in der Stadt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion durften deren Besitzer die Bunker ganz legal umnutzen. Viele sind heute verstellt, manche beherbergen Restaurants, in einem befindet sich ein Stripclub. «Wenn ein Angriff kommt, dann müssen die Besitzer der Bunker den Schutzsuchenden die Türen öffnen, ganz egal, was sie sonst mit den Räumen machen», sagt Tkatschuk.
Dass das im Ernstfall alles andere als reibungslos funktionieren wird, gibt er unverhohlen zu.
Zu den 3000 privaten Bunkern kämen rund 1500 Metro-Stationen, Spitalkeller oder Strassenunterführungen, die Tkatschuks Leute seit dem Ausbruch des Krieges im Donbass 2014 regelmässig kontrollieren. Und wenn der Angriff kommt? Wie wissen dann die Leute, wohin sie genau flüchten sollen? «Das sollen sie auf der Website nachschauen», sagt Tkatschuk. Die Übersetzerin zuckt mit den Schultern. Von einer solchen Website habe sie nie gehört. Im Ernstfall, sagt sie, würden die Stadtbewohner Kiew sowieso verlassen.
Letzte Frage, Herr Tkatschuk: Gibt es in der Ukraine so was wie das Zivilverteidigungsbuch, das der Schweizer Bundesrat 1969 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges an alle Haushaltungen verschicken liess? Das Verhaltenstipps für den Ernstfall, Inventarlisten für jeden Bunker und sogar die Lyrics von mutmachenden Songs wie dem «Beresinalied» enthielt? Tkatschuk lacht laut. Man arbeite gerade an solchen Instruktionen, sagt er, und dann hängt er auf.
Nicht viel mehr Zeit als der Zivilschutzchef hat der Leiter des Psychologischen Instituts am «Main Military Clinical Hospital», dem grössten Militärspital des Landes im Stadtzentrum von Kiew. Der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, steht vor seinem Büro zwischen Topfpflanzen und einem Sofa. An den gelb gestrichenen Wänden hängen historische Fotos aus der Geschichte des Spitals, das hier 1755 seinen Betrieb aufnahm. «Nur einmal mussten wir unsere Patienten seither evakuieren, 1943 mitten im Krieg», sagt der Oberst der ukrainischen Armee. «Wir haben nicht vor, das je wieder zu tun.»
30'000 Patienten nimmt das Spital jährlich auf, rund eine Million Menschen werden von den 2000 Ärztinnen und Ärzten ambulant behandelt. «Fast die Hälfte unseres Personals war 2014 in den Lazaretten im Donbass stationiert», erzählt der Oberst. Seither hätten sie in den Militärspitälern des Landes fast gleich viele Verletzte verarztet wie im gesamten Zweiten Weltkrieg. Tragisch sei das, aber eben.
Angst aber hat der Oberst nicht. Die ukrainische Armee werde die «Aggressoren» stoppen. «Und wenn nicht, dann sind wir hier bereit.» Wie er das genau meint, sagt er nicht mehr. Er ruft nur noch: «Victory!», macht das V-Zeichen und verschwindet in seinem Büro.
Weniger zuversichtlich ist Anna Kanash, Anästhesistin am Urologischen Institut in Kiew. «Nur die Dummen sind furchtlos», sagt sie am Telefon. Auch sie war 2014 mit einem Team im Donbass. Da hatten sie einen Wohnwagen zu einem kleinen Notfalllazarett umfunktioniert, um die Verwundeten zu pflegen. Jetzt rüstet sie mit ihren Kolleginnen hier in Kiew mehrere Ambulanzen um für den Ernstfall. «An unserem Spital mussten sich alle Ärzte schriftlich dazu verpflichten, selbst bei einem Angriff dazubleiben. Wer geht, wenn der Krieg in die Stadt kommt, gilt als Deserteur», sagt Anna Kanash.
Das ist hart – aber nötig. Alleine seit Anfang Jahr hätten an ihrem Spital sechs Kollegen gekündigt. Wenige hundert Franken pro Monat verdienen Mediziner in der Ukraine. Viele suchen im Ausland einen Job. Kanash kann das nachvollziehen.
Es gäbe jetzt neue Kurse: Erste Hilfe für Zivilisten, Überleben im Krieg. Auf Facebook würden sie die Kurse bewerben. Die Nachfrage sei gross, sagt Anna Kanash, genau wie die Angst, dass bald plötzlich alles vorbei sein könnte. (aargauerzeitung.ch)
Niemand hat die Absicht die Ukraine zu überfallen. Oder doch ?