Moskau verkündet Eroberung von Pokrowsk – das Wichtigste in 7 Punkten
Was ist passiert?
Das russische Militär hat dem Kreml zufolge die seit etwa einem Jahr umkämpfte ukrainische Bergarbeiterstadt Pokrowsk im Donezker Gebiet vollständig eingenommen. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sei die Eroberung von Pokrowsk gemeldet worden, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Journalisten.
Ebenso sei die Stadt Wowtschansk in der benachbarten Region Charkiw eingenommen worden. Unabhängig lassen sich die Angaben nicht prüfen.
Was sagt Kiew?
Aus Kiew gab es keine Bestätigung oder direkte Äusserung zu Pokrowsk. Allerdings sagte, Andrij Kowalenko, der das ukrainische Zentrum für die Bekämpfung von Desinformation leitet, dass Russland angesichts der laufenden Friedensgespräche vermehrt «laute Meldungen» abgeben werde, um die Verhandlungen zu beeinflussen und dem Westen zu suggerieren, die Ukraine stünde vor dem Kollaps.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bei seinem Besuch in Paris gesagt, dass die Intensität der Kämpfe um Pokrowsk und auch im Charkiwer Gebiet «hoch» sei. Zudem ist bekannt, dass die ukrainische Armee besonders bei Pokrowsk seit Wochen unter hohem Druck steht.
Was will Russland mit der Meldung?
Beobachter verbinden die russische Erfolgsmeldung denn auch tatsächlich mit dem am Dienstag erwarteten Besuch des US-Sondergesandten Steve Witkoff in Moskau. Der Kreml wolle so dem Unterhändler aus Washington vor Gesprächen über einen Friedensplan militärische Fortschritte präsentieren und die ukrainische Verhandlungsposition schwächen.
Vorher hatte Kremlchef Wladimir Putin bereits mehrfach angegeben, dass die ukrainischen Truppen in Pokrowsk eingekreist seien. Der ukrainische Präsident und der Generalstab wiesen dies wiederholt zurück. Selenskyj wurde deshalb vorgeworfen, ähnlich wie bei den bereits vorher verlorenen Städten Bachmut und Awdijiwka den Rückzug aus politischen Gründen zu lange hinauszuzögern.
Was würde die Einnahme für die Ukraine bedeuten?
Die Eroberung von Pokrowsk wäre die grösste militärische Niederlage für die Ukraine seit dem Fall von Awdijiwka im Februar 2024. Kiew wollte den USA und den Europäern zeigen, dass die milliardenschweren Waffenlieferungen dem Land helfen, sein Gebiet zu verteidigen – mit ein Grund, weshalb der Rückzug hartnäckig herausgezögert wurde. Kritiker bemängeln schon länger, die Ukraine habe zu grosse Verluste riskiert, um Pokrowsk möglichst lange zu halten – statt mit den Ressourcen andere Verteidigungslinien zu verstärken.
Warum ist Pokrowsk wichtig?
Die Stadt, in der einmal rund 60'000 Menschen gelebt haben, gilt als ein Symbol für den ukrainischen Widerstand gegen den seit mehr als dreieinhalb Jahren andauernden russischen Angriffskrieg. Mittlerweile ist sie stark zerstört.
Westlich von Pokrowsk gibt es keine grossen Siedlungen, was die weitere Verteidigung für die ukrainischen Streitkräfte erschwert. Russland kommt mit einer Einnahme seinem Kriegsziel näher, das Industriegebiet Donbass vollständig zu erobern. Allerdings ist es bis zur vollständigen Besetzung des Gebiets Donezk noch ein weiter und verlustreicher Weg für Russland.
Wie geht es jetzt weiter?
Moskaus Truppen könnten sich nun auf die Städte Kramatorsk und Slowjansk im Nordosten konzentrieren, die eine wichtige, über Jahre aufgebaute Verteidigungslinie bilden.
Dazu könnte der Kreml den Erfolg auch in Richtung des Gebietes Dnipropetrowsk und dem nur 90 Kilometer entfernten Verkehrsknotenpunkt Pawlohrad weiter entwickeln. Der Nachschub der um Kramatorsk und Slowjansk verbliebenen ukrainischen Truppen verläuft zu grossen Teilen über Pawlohrad. Im Gegensatz zum dicht besiedelten Bergbaugebiet Donezk finden sich in der agrarisch geprägten Steppenlandschaft nur wenig natürliche Hindernisse.
Zu Moskaus Kriegszielen gehört die Einnahme der ukrainischen Regionen, Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, die Russland neben der bereits 2014 annektierten Krim zu seinen Gebieten erklärt hat. Allerdings kontrolliert das russische Militär bis heute keines dieser Gebiete vollständig.
Wie ist die generelle Lage im Krieg?
Kiews Truppen stehen an mehreren Frontabschnitten im Süden und im Osten massiv unter Druck. Probleme bereiten der Ukraine der Soldatenmangel wegen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung und verbreiteter Fahnenflucht.
Moskaus Streitkräfte sind an der Front im Osten seit Herbst 2023 langsam und unter hohen Verlusten auf dem Vormarsch. Nach Pokrowsk drangen sie mit einer neuen Taktik in mehreren kleineren Infanteriegruppen ein und umgingen die ukrainischen Linien. Sie verzichteten auf Angriffe grösserer Einheiten und den Einsatz gepanzerter Technik, die ein leichtes Ziel für ukrainische Drohnen sind.
Der ukrainische Militärgeheimdienst HUR hatte noch über eine Operation seiner Spezialeinsatzkräfte berichtet, die den Fall von Pokrowsk aufhalten sollten. Das Blatt für die Ukraine wenden konnten sie nun mutmasslich nicht mehr.
Insgesamt sind aber auch nach einem Fall von Pokrowsk keine plötzlichen Änderungen im Kriegsverlauf zu erwarten. Beide Seiten setzen in dem Abnutzungskrieg auf eine Erschöpfung des Gegners. Doch stehen die ukrainischen Chancen für einen Erfolg ungleich schlechter wegen der massiv grösseren menschlichen und materiellen Ressourcen der Russen. (sda/dpa/vro/con)
