Nacht für Nacht wiederholt sich in der Ukraine das gleiche Schauspiel: Russland beschiesst Städte und Infrastrukturen massiv aus der Luft, mit Raketen und Kampfdrohnen. In der Nacht auf Freitag traf es Dnipro und Odessa. Immer wieder werden zivile Ziele getroffen. In der Stadt Synelnykowe starben sechs Menschen, darunter zwei Kinder.
Die ukrainische Luftabwehr holt viele Geschosse vom Himmel, doch sie hat längst nicht (mehr) die Mittel, um das Land vollständig zu schützen. Israel hingegen gelang es vor einer Woche scheinbar mühelos, den Angriff Irans mit hunderten Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen abzuwehren, auch mit Unterstützung der USA, Grossbritanniens und Frankreichs.
In der Ukraine verfolgte man dies mit Erstaunen und einer gewissen Verbitterung. Der Himmel über der Ukraine könnte genauso gut verteidigt werden wie der Himmel über Israel, wenn die ausländischen Partner die Waffen dafür lieferten, schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Telegram. Indirekt bezichtigt er den Westen einer gewissen Doppelmoral.
Allzu heftig fällt die Kritik nicht aus. Die Ukrainer wissen, dass sie den Krieg ohne westliche Hilfe verlieren würden. Ein Problem ist zudem die Geografie. Israel ist ein kleines Land, dessen Luftraum relativ einfach verteidigt werden kann. Für die Ukraine mit ihrer Grösse sei eine ähnlich dichte Luftabwehr schwierig, hielt das Institute for the Study of War (ISW) fest.
Dennoch fragen sich die Ukrainer, warum man nicht mehr Hilfe erhält, etwa für Charkiw. Die zweitgrösste Stadt des Landes liegt nahe an der russischen Grenze und ist besonders schwerem Beschuss ausgesetzt. Stadtpräsident Ihor Terechow warnte im Interview mit dem «Guardian», Charkiw drohe «ein zweites Aleppo» zu werden.
Die zweitgrösste Stadt Syriens wurde im Bürgerkrieg von der russischen Luftwaffe in einen Trümmerhaufen verwandelt. Im Visier der Russen war zuletzt vor allem die Energieversorgung von Charkiw. Mehrere Kraftwerke wurden bombardiert. Befürchtet wird auch, dass Charkiw zum Ziel einer russischen Grossoffensive werden könnte.
Dem als eher besonnen bekannten ukrainischen Aussenminister Dmytro Kuleba riss kürzlich der Geduldsfaden. In einem wenige Tage vor dem iranischen Angriff auf Israel veröffentlichten Gespräch mit der «Washington Post» kündigte er an, nicht länger nett um Hilfe bitten zu wollen: «Wir haben alles versucht, doch nichts scheint zu wirken.»
Konkret forderte Kuleba mehr Patriot-Luftabwehrsysteme. Sein Team habe mehr als 100 verfügbare Patriots ausgemacht, sagte er der «Washington Post». Mit 26 Batterien könne die Ukraine einen Abwehrschild über dem gesamten Land aufbauen, so Kuleba, doch für den Anfang brauche man «so schnell wie möglich» sieben Stück.
An der 75-Jahr-Feier der NATO in Brüssel gab Dmytro Kuleba eine Kostprobe seines neuen, härteren Auftretens: «Es tut mir leid, wenn ich die Geburtstagsparty störe, aber wie kann es sein, dass die mächtigste Militärallianz der Welt keine sieben Patriot-Batterien für das einzige Land der Welt auftreiben kann, das jeden Tag Luftangriffe abwehren muss?»
Die Deutschen gehen immerhin mit gutem Beispiel voran. Sie werden der Ukraine eine weitere Patriot-Batterie zur Verfügung stellen, wofür sich Selenskyj beim Besuch von Vizekanzler Robert Habeck am Donnerstag in Kiew bedankte. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte an, sechs weitere Patriots in anderen NATO-Ländern auftreiben zu wollen.
Erste Zusagen gibt es offenbar aus Dänemark und den Niederlanden. Beim Treffen der G7-Aussenminister auf der Insel Capri soll ebenfalls darüber gesprochen werden, wie man auf der ganzen Welt die Luftverteidigung für die Ukraine «zusammenkratzen» könne, sagte Aussenministerin Annalena Baerbock im ZDF. Gefordert sind nicht zuletzt die USA.
Dort kam die Abstimmung im Repräsentantenhaus über ein umfassendes Hilfspaket, in dem 61 Milliarden Dollar für die Ukraine enthalten sind, am Donnerstag einen entscheidenden Schritt voran. Der zuständige Ausschuss segnete den Plan von Speaker Mike Johnson für eine Aufteilung des Pakets ab. Allerdings stimmten drei ultrarechte Republikaner dagegen.
Dank der Stimmen der Demokraten kam die Vorlage durch. Nun dürfte die Abstimmung am Samstag stattfinden. «Ich schicke lieber Patronen in die Ukraine als amerikanische Jungs», sagte Johnson in einem Interview mit dem rechten Sender Newsmax. Selbst Donald Trump betonte auf Truth Social, das Überleben der Ukraine sei auch für die USA wichtig.
Dieses Bekenntnis überrascht, denn Trump hatte die Ukraine-Hilfe monatelang sabotiert. Zwar beklagte er einmal mehr, die Europäer würden zu wenig zahlen. Dennoch dürfte die US-Militärhilfe für die Ukraine wieder in Gang kommen, auch bei der Luftabwehr.