International
Ukraine

Russland erobert Luhansk: «Die grosse Gegenoffensive ist eine Illusion»

Russland erobert Luhansk: «Die grosse Gegenoffensive ist eine Illusion»

Die Schlinge um den Donbass hat sich weiter zugezogen. Die Ukraine sieht sich für die weiteren Schlachten dennoch gut gewappnet. Ist das naiv?
05.07.2022, 10:17
Liesa Wölm / t-online
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online

Die Stadt Lyssytschansk ist gefallen. Nach wochenlangen Kämpfen haben die ukrainischen Truppen die Verteidigung der Stadt in der Region Luhansk am Sonntag aufgegeben – «um das Leben der ukrainischen Verteidiger zu schützen», teilte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte mit. Damit ist eine der beiden selbst ernannten «Volksrepubliken» im Donbass komplett unter russischer Kontrolle.

epa10051474 A still image taken from a handout video provided by the Russian Defence Ministry press service shows a local man flying the Russian flag on his balcony in Lysychansk, Luhansk region, Ukra ...
Ausschnitt aus einem russischen Propaganda-Video: Ein Anwohner Lyssytschansks hisst die russische Flagge auf den Balkon. Bild: keystone

Aber was bedeutet das? Und wie geht es nun weiter?

Lyssytschansk ist strategisch, aber auch symbolisch von Bedeutung. Die Stadt war ein wichtiges Industriezentrum unter anderem für die Ölverarbeitung. In der letzten Juniwoche hatte das ukrainische Militär bereits die Grossstadt Sjewjerodonezk aufgeben müssen, die von Lyssytschansk nur durch einen Fluss getrennt ist. Vor dem Krieg lebten insgesamt 380.000 Einwohner in dem Ballungsgebiet.

>> Alle aktuellen Entwicklungen im Liveticker

Hochrangige russische Kommandeure im Einsatz

Berichten zufolge waren zwei hochrangige russische Kommandeure für das taktische Vorgehen in der Region Luhansk verantwortlich: der Befehlshaber des Zentralen Militärdistrikts, Generaloberst Aleksandr Lapin, und der Befehlshaber der russischen Luft- und Raumfahrtkräfte, Armeegeneral Sergej Suworikin.

Die Beteiligung von zwei so hochrangigen Offizieren sei bemerkenswert, heisst es im aktuellen Bericht des Institute for the Study of War (ISW). Sie deute wahrscheinlich darauf hin, welch grosse Bedeutung Putin der Sicherung von Lyssytschansk beimesse.

Lyssytschansk war die letzte ukrainische Bastion in der Region Luhansk. Mit ihrer Eroberung kommt Präsident Wladimir Putin dem Ziel einen Schritt näher, den gesamten Donbass zu kontrollieren – ein wichtiges Ziel der russischen Invasion.

«Wir müssen den Krieg gewinnen, nicht die Schlacht um Lyssytschansk»

Die Aufgabe von Lyssytschansk sei schmerzhaft, aber nicht kritisch, sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj. «Es tut sehr weh, aber es bedeutet nicht, den Krieg zu verlieren.» In militärischer Hinsicht sei es schlecht, Positionen aufzugeben, räumte der Gouverneur ein. Er unterstrich aber: «Wir müssen den Krieg gewinnen, nicht die Schlacht um Lyssytschansk.»

Der Rückzug aus der einstigen Grossstadt sei «zentralisiert» gewesen, sagte Hajdaj. Damit deutete er an, dass der Rückzug geplant und ordentlich vonstattengegangen sei. Die ukrainischen Soldaten seien aber Gefahr gelaufen, eingekesselt zu werden.

Zum Thema:
Der Donbass, auch Donezbecken genannt, ist ein großes Steinkohle- und Industriegebiet in der Ostukraine, das an Russland grenzt. Seit April 2014 sind Teile des Donbass Schauplatz des Konflikts zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten. Die von Moskau unterstützten Separatisten riefen in dem Gebiet damals die «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk aus. Im Februar 2022 erkannte Kremlchef Wladimir Putin die Gebiete als unabhängig an – kurz vor der Invasion in die Ukraine. International werden die Regionen nicht anerkannt. Im Zuge des Angriffskrieges gilt die Eroberung des Donbass als Putins wichtigstes Kriegsziel.

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt sich trotz des russischen Erfolgs weiter kämpferisch. «Die Ukraine gibt nichts verloren», sagte er am Sonntag. Er setzt die Hoffnung auf die Lieferung westlicher Waffen, um besetzte Gebiete zurückzuerobern. Aber ist das realistisch?

LPR Russia Ukraine Military Operation Daily 8229703 03.07.2022 Locals pass by destroyed cars in the city of Lysychansk, controlled by pro-Russian troops, Russia. Viktor Antonyuk / Sputnik Lisichansk L ...
Spuren des Krieges in Lyssytschansk. Bild: imago-images

Aus Sicht des Militärexperte Wolfgang Richter neigt sich die Waagschale derzeit in Richtung Russland. «Putins Armee arbeitet inzwischen konzentrierter.» Sie setze Artillerie auf engem Raum ein. So kämpfe sie sich Schritt für Schritt nach vorne, wenn auch langsam. «Russland scheint erfolgreich zu sein», sagt Richter.

Das ist das nächste grosse Ziel

Das nächste Ziel der russischen Invasion ist Experten zufolge der Raum Slowjansk-Kramatorsk. Dort sitzt die Operationszentrale der ukrainischen Streitkräfte im Donbass. Kramatorsk ist eine der letzten grossen Industriestädte, die in der Ostukraine noch vollständig von Kiew kontrolliert werden – also ebenfalls ein wichtiges strategisches Ziel für Russland.

«In Richtung Slowjansk versuchen die Russen, die Kontrolle über die Ortschaften Bohorodytschne, Dolyna und Masaniwka herzustellen», teilte der ukrainische Generalstab in Kiew am Montag mit. Die drei Ortschaften liegen weniger als 20 Kilometer im Norden und Nordosten von Slowjansk, auf der Südseite des Flusses Siwerskyj Donez.

Slowjansk, wo einst 100'000 Menschen lebten, steht bereits seit Tagen unter heftigem Raketenbeschuss. Nach ukrainischen Behördenangaben starben dort am Sonntag mindestens sechs Menschen, 15 weitere seien verletzt worden. Gouverneur Hajdaj zufolge sei auch der strategisch wichtige Ort Bachmut ins Visier des russischen Militärs gerückt. Die Stadt werde bereits massiv beschossen. Unabhängig prüfen liessen sich diese Angaben nicht.

LPR Russia Ukraine Military Operation Daily 8229736 03.07.2022 Servicemen of the Chechen special police regiment named after Akhmat Kadyrov are seen in the city of Lysychansk, controlled by pro-Russia ...
Eine tschetschenie Spezialeinheit posiert in Lyssytschansk.Bild: imago-images

«Die grosse Gegenoffensive ist eine Illusion»

Im Raum Kramatorsk werde die ukrainische Armee vermutlich eine Verzögerungstaktik einsetzen, um möglichst hohe russische Verluste zu erzeugen, sagt der SWP-Experte Richter. Anfangs werde die Ukraine noch im Vorteil sein, weil sie sich auf den Angriff auf das Gebiet vorbereiten konnte. «Aber die große Gegenoffensive ist eine Illusion», so Richter. Die ukrainische Armee werde Ressourcen vom Westen bekommen, aber auch Russland könne seine Kräfte hochfahren, etwa durch eine Generalmobilmachung. «Dann würde die Wehrpflicht eingeführt und die Industrie auf Kriegsindustrie umgestellt», erklärt der Experte.

Selbst wenn es auf ukrainischer Seite taktische Gegenstösse gebe, laufe es auf eine Abnutzungsschlacht hinaus. «Und wer sitzt da am längeren Hebel? Es wird nicht die Ukraine sein», sagt Richter. Über kurz oder lang müsse man doch wieder verhandeln müssen.

Doch derzeit glaubten beide Seiten, dass Verhandlungen nicht zielführend seien. «Sowohl Russland als auch die Ukraine sind derzeit der Auffassung, gewinnen zu können – deshalb sieht man keine Anzeichen für einen Kompromissfrieden», so der Experte.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Zum Start der Sommer-RS – so ging es den Soldaten 1975
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
96 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Paul Badman
05.07.2022 10:46registriert November 2015
Bin ja weit weg davon, ein Militärexperte zu sein. Aber mir scheint, die Gegenoffensive wird eher im Süden beginnen, mit Rückeroberung von Cherson. Die Russen werden sich dann dahin bewegen müssen, weil den Südzugang zur Krim wollen sie nicht verlieren. Danach sind im Donbass bessere Stärkeverhältnisse. Put out Putin!
4616
Melden
Zum Kommentar
avatar
RicoH
05.07.2022 10:41registriert Mai 2019
Wenn Putin könnte, hätte er schon längst die Generalmobilmachung ausgerufen. Offenbar ist das innenpolitisch nicht so leicht umsetzbar, wie sich das Herr Richter denkt.
Für die Ukraine ist immer noch alles im Bereich des Möglichen, wenn sie genug Unterstützung erhalten.
5324
Melden
Zum Kommentar
avatar
pontian
05.07.2022 11:21registriert Januar 2016
Wenn alleine Gebietsgewinne über einen Kriegsausgang entscheiden würden, hätten im September 1942 die Achsenmächte zum Sieger des 2. Weltkriegs erklärt werden müssen.

Damals Stand die Wehrmacht vor Moskau und an der Wolga. In Grosny fuhren deutsche Panzer und auf dem höchsten Gipfel des Kaukasus wehte das Hakenkreuz. Zudem beherrschte das Afrikakorps ein Gebiet von Tunesien bis Ägypten und bedrohte die wichtige britische Versorgungslinie Suezkanal.

Damals schien es undenkbar, dass Berlin je fallen könnte. Nicht einmal drei Jahre später war es dann soweit.
3914
Melden
Zum Kommentar
96
Krebskranker König Charles sendet Audiobotschaft zu Ostern

Grossbritanniens König Charles III. (75) hat zum bevorstehenden Osterfest an die Bedeutung gegenseitiger Hilfe erinnert. Der Monarch schickte zum traditionellen Gottesdienst Royal Maundy an Gründonnerstag eine Audiobotschaft, sollte aber wegen seiner Krebserkrankung nicht selbst teilnehmen. Auch Charles' Schwiegertochter Prinzessin Kate (42) wird derzeit wegen einer Krebsdiagnose behandelt.

Zur Story