Die Stadt Lyssytschansk ist gefallen. Nach wochenlangen Kämpfen haben die ukrainischen Truppen die Verteidigung der Stadt in der Region Luhansk am Sonntag aufgegeben – «um das Leben der ukrainischen Verteidiger zu schützen», teilte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte mit. Damit ist eine der beiden selbst ernannten «Volksrepubliken» im Donbass komplett unter russischer Kontrolle.
Aber was bedeutet das? Und wie geht es nun weiter?
Lyssytschansk ist strategisch, aber auch symbolisch von Bedeutung. Die Stadt war ein wichtiges Industriezentrum unter anderem für die Ölverarbeitung. In der letzten Juniwoche hatte das ukrainische Militär bereits die Grossstadt Sjewjerodonezk aufgeben müssen, die von Lyssytschansk nur durch einen Fluss getrennt ist. Vor dem Krieg lebten insgesamt 380.000 Einwohner in dem Ballungsgebiet.
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Berichten zufolge waren zwei hochrangige russische Kommandeure für das taktische Vorgehen in der Region Luhansk verantwortlich: der Befehlshaber des Zentralen Militärdistrikts, Generaloberst Aleksandr Lapin, und der Befehlshaber der russischen Luft- und Raumfahrtkräfte, Armeegeneral Sergej Suworikin.
Die Beteiligung von zwei so hochrangigen Offizieren sei bemerkenswert, heisst es im aktuellen Bericht des Institute for the Study of War (ISW). Sie deute wahrscheinlich darauf hin, welch grosse Bedeutung Putin der Sicherung von Lyssytschansk beimesse.
Lyssytschansk war die letzte ukrainische Bastion in der Region Luhansk. Mit ihrer Eroberung kommt Präsident Wladimir Putin dem Ziel einen Schritt näher, den gesamten Donbass zu kontrollieren – ein wichtiges Ziel der russischen Invasion.
Die Aufgabe von Lyssytschansk sei schmerzhaft, aber nicht kritisch, sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj. «Es tut sehr weh, aber es bedeutet nicht, den Krieg zu verlieren.» In militärischer Hinsicht sei es schlecht, Positionen aufzugeben, räumte der Gouverneur ein. Er unterstrich aber: «Wir müssen den Krieg gewinnen, nicht die Schlacht um Lyssytschansk.»
Der Rückzug aus der einstigen Grossstadt sei «zentralisiert» gewesen, sagte Hajdaj. Damit deutete er an, dass der Rückzug geplant und ordentlich vonstattengegangen sei. Die ukrainischen Soldaten seien aber Gefahr gelaufen, eingekesselt zu werden.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt sich trotz des russischen Erfolgs weiter kämpferisch. «Die Ukraine gibt nichts verloren», sagte er am Sonntag. Er setzt die Hoffnung auf die Lieferung westlicher Waffen, um besetzte Gebiete zurückzuerobern. Aber ist das realistisch?
Aus Sicht des Militärexperte Wolfgang Richter neigt sich die Waagschale derzeit in Richtung Russland. «Putins Armee arbeitet inzwischen konzentrierter.» Sie setze Artillerie auf engem Raum ein. So kämpfe sie sich Schritt für Schritt nach vorne, wenn auch langsam. «Russland scheint erfolgreich zu sein», sagt Richter.
Das nächste Ziel der russischen Invasion ist Experten zufolge der Raum Slowjansk-Kramatorsk. Dort sitzt die Operationszentrale der ukrainischen Streitkräfte im Donbass. Kramatorsk ist eine der letzten grossen Industriestädte, die in der Ostukraine noch vollständig von Kiew kontrolliert werden – also ebenfalls ein wichtiges strategisches Ziel für Russland.
«In Richtung Slowjansk versuchen die Russen, die Kontrolle über die Ortschaften Bohorodytschne, Dolyna und Masaniwka herzustellen», teilte der ukrainische Generalstab in Kiew am Montag mit. Die drei Ortschaften liegen weniger als 20 Kilometer im Norden und Nordosten von Slowjansk, auf der Südseite des Flusses Siwerskyj Donez.
Slowjansk, wo einst 100'000 Menschen lebten, steht bereits seit Tagen unter heftigem Raketenbeschuss. Nach ukrainischen Behördenangaben starben dort am Sonntag mindestens sechs Menschen, 15 weitere seien verletzt worden. Gouverneur Hajdaj zufolge sei auch der strategisch wichtige Ort Bachmut ins Visier des russischen Militärs gerückt. Die Stadt werde bereits massiv beschossen. Unabhängig prüfen liessen sich diese Angaben nicht.
Im Raum Kramatorsk werde die ukrainische Armee vermutlich eine Verzögerungstaktik einsetzen, um möglichst hohe russische Verluste zu erzeugen, sagt der SWP-Experte Richter. Anfangs werde die Ukraine noch im Vorteil sein, weil sie sich auf den Angriff auf das Gebiet vorbereiten konnte. «Aber die große Gegenoffensive ist eine Illusion», so Richter. Die ukrainische Armee werde Ressourcen vom Westen bekommen, aber auch Russland könne seine Kräfte hochfahren, etwa durch eine Generalmobilmachung. «Dann würde die Wehrpflicht eingeführt und die Industrie auf Kriegsindustrie umgestellt», erklärt der Experte.
Selbst wenn es auf ukrainischer Seite taktische Gegenstösse gebe, laufe es auf eine Abnutzungsschlacht hinaus. «Und wer sitzt da am längeren Hebel? Es wird nicht die Ukraine sein», sagt Richter. Über kurz oder lang müsse man doch wieder verhandeln müssen.
Doch derzeit glaubten beide Seiten, dass Verhandlungen nicht zielführend seien. «Sowohl Russland als auch die Ukraine sind derzeit der Auffassung, gewinnen zu können – deshalb sieht man keine Anzeichen für einen Kompromissfrieden», so der Experte.
Für die Ukraine ist immer noch alles im Bereich des Möglichen, wenn sie genug Unterstützung erhalten.
Damals Stand die Wehrmacht vor Moskau und an der Wolga. In Grosny fuhren deutsche Panzer und auf dem höchsten Gipfel des Kaukasus wehte das Hakenkreuz. Zudem beherrschte das Afrikakorps ein Gebiet von Tunesien bis Ägypten und bedrohte die wichtige britische Versorgungslinie Suezkanal.
Damals schien es undenkbar, dass Berlin je fallen könnte. Nicht einmal drei Jahre später war es dann soweit.