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Was im Ukraine-Krieg Hoffnung macht

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Zeichen der Hoffnung in Kiew: Die Mutter-Heimat-Statue.Bild: keystone

Neue Waffen und der Erfindergeist der Menschen: Was im Ukraine-Krieg Hoffnung macht

Moskaus Angriffe auf die Infrastruktur richten zwar grosse Schäden an, sind aber weit davon entfernt, die Ukraine in die Knie zu zwingen. Auf die Lage an der Front haben diese Attacken wenig Einfluss.
08.01.2023, 11:2408.01.2023, 11:25
Kurt Pelda, Kiew / ch media
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Der Winter in der Ukraine war bisher vergleichsweise mild. Das grosse Frieren infolge der russischen Angriffe auf Stromversorgung und Fernheizungen blieb deshalb weitgehend aus. Unter Elektrizitätsmangel leidet zum Beispiel Odessa am Schwarzen Meer, wo quartierweise Stromabschaltungen - wie in vielen anderen Städten auch - zum Alltag gehören. In dieser Zeit, in der Regel ein paar Stunden pro Tag, fallen auch die Umwälzpumpen der Zentralheizungen aus, und es wird kühl in den Häusern.

Nach drei Wochen Aufenthalt und mehr als 4500 Kilometern Autofahrt kreuz und quer durch die Ukraine lässt sich Folgendes sagen: Die Angriffe auf die Infrastruktur scheinen vor allem die grossen Bevölkerungszentren Kiew, Charkiw, Odessa und Dnipro getroffen zu haben, während es in kleineren Städten, zum Beispiel im Donbass, oft weniger Strommangel gibt. Wer es sich leisten kann, hat sich einen Generator beschafft.

In der Altstadt von Odessa mit ihren noblen Kleiderläden und Restaurants verursachen diese Motoren während der Stromausfälle einen ohrenbetäubenden Krach. Selbst der riesige Weihnachtsbaum am Rand des Stadtgartens wird mit einem eigenen Generator beleuchtet. Die Weihnachtszeit dauert in der Ukraine bis zu diesem Wochenende.

An den Strommangel gewöhnt

In Kiew dagegen sieht man in der Innenstadt viel weniger Generatoren, und einige öffentliche Gebäude werden in der Nacht weiterhin angestrahlt. Auch wenn die meisten Strassenlaternen abgeschaltet sind, beleuchtet zum Beispiel eine Blumenfarm am östlichen Ufer des Dnjepr-Flusses die Wolken, als ob ein Riesenscheinwerfer in den Nachthimmel strahlte. Und auf den Hochhäusern in der Nähe des internationalen Flughafens leuchten immer noch rote Warnlichter, obwohl hier seit dem letzten Februar keine Flugzeuge mehr starten oder landen. Während in Kiew, Odessa oder Dnipro in den meisten Geschäften, Restaurants und Hotels normal gearbeitet wird, ist es im östlichen Charkiw am Abend nicht ganz einfach, ein geöffnetes Lokal zu finden.

Desolat ist dagegen die Situation in einem Streifen von etwa 20 Kilometern an der Front. Dort sind viele Ortschaften teilweise zerstört, es gibt weder fliessendes Wasser noch Strom, und geheizt wird vor allem mit Holz. In Kupiansk östlich von Charkiw wurde zum Beispiel ein Solarkraftwerk durch Artilleriebeschuss beschädigt. Selbst in diesen Zonen bemühen sich die Behörden aber, die wenigen zurückgebliebenen Zivilisten, mehrheitlich ältere Menschen, mit Trinkwasser aus Tanklastwagen zu versorgen. Ausserdem verteilen Regierung und Hilfsorganisationen Nahrungsmittel. Immer wieder sieht man deshalb Menschen, die mit Velos, Schubkarren und sogar Kinderwagen Kartons mit dem Emblem des UNO-Welternährungsprogramms nach Hause bringen.

Die meisten Tankstellen in Frontnähe sind zerstört oder wurden von den Russen vor ihrem Rückzug geplündert, zum Beispiel in der südlichen Hafenstadt Cherson. In Konstantinowka im Donbass haben Mitarbeiter einer Tankstelle die Zapfsäulen mit Sandsäcken gesichert. Der Laden der Tankstelle ist mit Waren immer noch gut bestückt, aber im Dach klafft ein riesiges Loch von einer russischen Rakete, das nun notdürftig abgedichtet ist. Selbst im Fussboden hat die Explosion einen kleinen Krater hinterlassen. Zum Glück schlug die Rakete mitten in der Nacht ein, als das gesamte Personal zu Hause war.

Wenn der Boden gefriert

In sämtlichen Unterkünften, in denen ich die letzten drei Wochen übernachtete, waren die Zimmer deutlich überheizt, manchmal bis auf 24 Grad. Auch wenn es Stadtviertel und Regionen gibt, wo Fernheizungen oder Gasleitungen defekt sind, muss der Grossteil der Bevölkerung, die abseits der Frontgebiete lebt, nicht frieren. Das könnte sich vielleicht ändern, wenn die Temperaturen im Januar wie vorausgesagt deutlich unter den Gefrierpunkt fallen.

Der bisher milde Winter hat auch Auswirkungen auf die Kriegsführung. In den meisten Regionen ist der Boden noch nicht gefroren. Die Soldaten beider Seiten kämpfen deshalb mit Schlamm in ihren Schützengräben. Schwere Fahrzeuge wie Kampfpanzer können sich meist nur auf befestigten Strassen bewegen, was grosse Offensiven praktisch verunmöglicht. Das könnte sich ändern, wenn Schnee fällt und die jetzt noch schlammigen Böden einfrieren. Ohne Zweifel planen beide Seiten ihre nächsten Schritte: Russland bildet derzeit schätzungsweise 200'000 neu rekrutierte Soldaten aus, und die Ukrainer befürchten, dass diese für einen neuen Angriff auf die Hauptstadt Kiew eingesetzt werden könnten. Umgekehrt versuchen die Ukrainer ihre ins Stocken geratene Gegenoffensive im Osten bei den nach wie vor russisch kontrollierten Städten Swatowe und Kreminna wieder anzukurbeln.

Mit der versprochenen Lieferung von leichten Kampfpanzern aus Frankreich und Schützenpanzern aus den USA und Deutschland wird die Mobilität und Feuerkraft der ukrainischen Bodentruppen deutlich zunehmen. Mit Sicherheit werden die Ukrainer dies bei ihren nächsten Angriffen zu nutzen wissen. Von osteuropäischen Staaten gelieferte alte Sowjetpanzer waren schon im September mitentscheidend für den Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive bei Charkiw und im nördlichen Donbass. Sollte der Westen am Ende auch moderne Kampfpanzer zur Verfügung stellen, hätte Russland diesen kein vergleichbares Material entgegenzusetzen.

Der Nachschub rollt

Nach wie vor leidet das russische Expeditionskorps unter logistischen Problemen und schlechter Führung. Immer wieder beklagen sich Russen an der Front in Videos darüber, dass sie nicht einmal genügend Trinkwasser und Essen hätten. Wer dagegen ukrainische Stellungen besichtigt, sieht zum Beispiel immer wieder ganze Berge von Plastikflaschen mit Mineralwasser. Die Nachschubwege aus Polen und Rumänien sind weit offen, nie haben die Russen ernsthaft versucht, diese Strassen- und Eisenbahnverbindungen zu kappen. Im Gegenteil, Rumänien und die Ukraine haben eine seit vielen Jahren nicht mehr genutzte Eisenbahnverbindung durch die Karpaten rehabilitiert und im November wieder in Betrieb genommen. Der Nachschub - ziviler und militärischer Natur - rollt also ungehindert, der Flaschenhals ist nur der politische Wille im Westen, die Ukraine mit dem zu versorgen, was sie für die Abwehr des russischen Angriffs benötigt.

All das hat auch Auswirkungen auf die Versorgung der Zivilbevölkerung. Wer durch ukrainische Supermärkte streift, trifft auf ein erstaunliches Angebot, das sich mengen- und qualitätsmässig nur wenig von dem in der Schweiz unterscheidet, zugleich aber sehr viel günstiger ist. Die allermeisten Nahrungsmittel werden in der Ukraine selbst hergestellt, was bedeutet, dass die ukrainische Wirtschaft trotz Stromausfällen und anderer Probleme weiterhin produziert. Das Land ist einfach zu gross, als dass die Russen alle Industriebetriebe und Infrastrukturanlagen lahmlegen könnten. Für Nachrichtenkonsumenten im Westen ist das vielleicht schwer zu verstehen, denn die meisten Medien fokussieren vor allem auf die Zerstörungen, die russische Drohnen und Marschflugkörper anrichten. Dabei geht jedoch unter, dass ein grosser Teil des Landes davon recht wenig zu spüren bekommt.

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Marktstand im Dezember 2022 in Mariupoll.Bild: keystone

Viele Ukrainer sind ausserdem der Meinung, dass die Kriminalität wegen des Kriegs und der damit verbundenen, zum Teil drakonischen Strafen stark abgenommen hat. Selbst in den dunklen Stadtparks von Kiew oder Odessa können sich Frauen am Abend ohne Angst bewegen. Auf meinen vier Reisen seit dem 24. Februar bin ich einem einzigen betrunkenen ukrainischen Soldaten begegnet. In den Frontgebieten ist der Verkauf von Alkohol verboten, und Soldaten, die beim Trinken erwischt werden, sind nicht zu beneiden. Das mussten auch ein paar ausländische Söldner erfahren, die sich in einer Kiewer Bar in Uniform und bewaffnet voll laufen liessen. Sie wurden kurzerhand von der Militärpolizei verhaftet und nach ein paar Tagen in der Zelle nach Polen ausgeschafft.

Noch nie habe ich in der langen Zeit, die ich nun im Land verbracht habe, stehlende oder plündernde Soldaten erlebt oder von Ukrainern entsprechende Geschichten erzählt bekommen. Die herrschende Disziplin unter den Militärs ist mit ein Grund, warum die russische Invasion gescheitert ist. (aargauerzeitung.ch)

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Russische Rentnerin kritisiert Krieg in der Ukraine – und fliegt aus dem Bus
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18 Kommentare
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Kaffeesüchtig
08.01.2023 12:31registriert November 2021
Es ist ausserordentlich bemerkenswert, dass der Krieg auch nach einem Jahr nicht zu einer (wesentlichen) Verrohung der Gesellschaft oder des Militärs führt.
Dies gibt grosse Hoffnung für den Wiederaufbau nach dem Krieg.
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Martin Baumgartner
08.01.2023 13:26registriert Juni 2022
Durch die Not, die durch diesen Krieg entstanden ist, sind die Menschen in der Ukraine zusammengerückt. Der Krieg hat sie Vereint im Ziel ihre Unabhängigkeit und Freiheit zu bewahren.

Die Russen wird dieser Krieg entzweien und vielleicht ist es der Anfang vom Untergang der Russischen Föderation.
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Doppellottotreffer
08.01.2023 21:47registriert September 2021
"der Flaschenhals ist nur der politische Wille im Westen, die Ukraine mit dem zu versorgen, was sie für die Abwehr des russischen Angriffs benötigt."

Danke für diese Feststellung, Kurt Pelda. Es kann nicht oft genug wiederholt werden! Lasst endlich die "Wildkatzen" frei (Leoparde, Geparde, und die dazugehörige Munition).
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