«Charkiw ist unzerbrechlich», steht auf riesigen Werbetafeln entlang der vierspurigen Ausfallstrasse. Die Millionenstadt ist fast jede Nacht Ziel russischer Angriffe - mit Raketen und Gleitbomben. Manche Propagandisten im Westen schwadronieren deshalb vom baldigen Fall der zweitgrössten ukrainischen Stadt und meinen, das Land habe den Krieg bereits verloren.
Tatsache ist, dass russische Kampfjets Bomben aus grosser Höhe abwerfen, damit diese mit ausfaltbaren Flügeln und einem Satellitennavigationssystem zu einem zuvor programmierten Ziel fliegen. Weil das Stadtzentrum von Charkiw weniger als 35 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist, müssen die Piloten dabei nicht einmal in den ukrainischen Luftraum eindringen.
Tatsache ist aber auch, dass Russland im Norden der Millionenstadt eine neue Front eröffnet hat. Und diese «Offensive» ist vorerst grandios gescheitert. Schon am ersten Wasserlauf, der den Vormarsch behinderte, war Ende Gelände. Westliche Experten, die allerdings weder die Ukraine im Generellen kennen noch die Topografie im Oblast Charkiw, sahen im Vorstoss aber ein Indiz dafür, dass Kiews Armee kurz vor dem Zusammenbruch stehe. Die Ukraine habe zu wenig Soldaten und Munition. Auch wurde das Fehlen von Befestigungen in Grenznähe moniert.
Wie oft bei solchen Aussagen, ist nicht alles falsch. Viel zu spät hat Präsident Selenski zum Beispiel den Bau von Befestigungsanlagen angeordnet. Das sieht man etwa in der Ortschaft Solotschiw nordwestlich von Charkiw, rund 20 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Fieberhaft wird auf den riesigen Weizenfeldern der Boden umgepflügt. Bagger heben Panzergräben aus, und Reihen von «Drachenzähnen» aus Beton werden dahinter in den Boden gesetzt.
Noch weiter entfernt folgen Schützengräben und Bunker aus vorfabrizierten Betonelementen. Dort, wo die Äcker nicht umgegraben werden, steht der Weizen hüfthoch. Die Ähren sind noch grün.
Trotz der Nähe zu Russland flanieren Frauen in Sommerkleidern durch Solotschiw. Alte Soldaten besorgen Einkäufe. Es ist selten, einen Uniformierten unter dreissig Jahren anzutreffen. Die Ukraine leistet sich mit seinem neuen Mobilisierungsgesetz den Luxus, die Wehrpflicht für Männer erst mit 25 Jahren beginnen zu lassen. An der Front liegt das Durchschnittsalter deshalb bei über 40 Jahren.
Wie aber sehen die tatsächlichen Zahlenverhältnisse aus? Es wird geschätzt, dass Moskaus Invasionskorps in der Ukraine inzwischen rund eine halbe Million Mann umfasst. Manche Beobachter meinen sogar, es könnten 700'000 Mann sein. Demgegenüber stehen etwa 900'000 Ukrainer, von denen nur etwa 300'000 Fronterfahrung haben.
Dieses Missverhältnis erklärt sich nicht nur mit der Logistik im Hinterland. Viel davon geht auf die grassierende Korruption zurück. Ein Ukrainer mit Zugang zu hochrangigen Militärkreisen erzählt zum Beispiel, dass Soldaten mancher Einheiten einen Teil ihres Solds zusammenlegen und ihren Kommandanten geben. Diese wiederum bestechen Kontakte in der Militärführung, die dafür sorgen, dass die betreffende Formation nicht an die Front geschickt wird.
Korruption gibt es auch beim Bau von Befestigungen. In Borowa, 120 Kilometer südöstlich von Charkiw, treffen wir einen Angehörigen einer Panzereinheit. Da, wo er stationiert sei, gebe es Schützengräben und Bunker, die auf einer Landkarte eingezeichnet seien, in Wirklichkeit aber gar nicht existierten.
Es ist das typische Korruptionsmuster bei Staatsaufträgen: Eine Privatfirma gewinnt eine Ausschreibung, baut dann aber gar nichts oder liefert nur Minderwertiges, weit unter dem Wert des Bauvertrags. Die Differenz teilen sich die Firmenbesitzer mit bestechlichen Militärs und Politikern. Immerhin kamen eine parlamentarische Kommission und ein Staatsanwalt nach Borowa, um die Missstände zu untersuchen.
Dessen ungeachtet kämpfen die an der Front stationierten Ukrainer weiter. Dank ihrer Drohnen und neuer Munitionslieferungen aus den USA konnten sie den Vormarsch vorerst stoppen. Für eine Umzingelung von Charkiw oder gar für die Einnahme der Millionenstadt haben die Russen im Moment weder genug Soldaten noch ausreichend Material. Bereits jetzt macht sich der Mangel an gepanzerten Fahrzeugen bemerkbar.
Warum sonst sollten russische Soldaten ihre Angriffe auf Motorrädern oder ungepanzerten chinesischen Desertcross-Fahrzeugen vortragen? Diesen untermotorisierten Geländewagen aus China bezeichnen die Ukrainer wegen seines Aussehens höhnisch als «Golfcart».
Trotz der vielen Angriffe aus der Luft ist ein grosser Teil der Bevölkerung wieder nach Charkiw zurückgekehrt. Sogar in dem besonders mitgenommenen Aussenviertel Saltiwka im Norden leben wieder viele Menschen.
Kurz vor Mitternacht im Stadtzentrum: Zu hören sind starke Detonationen im Süden. Bei Tageslicht stellt sich heraus, dass russische Raketen unter anderem einen vierstöckigen Wohnblock getroffen haben. Sechs Menschen sind tot, weitere verletzt. Bereits am 25. Mai hatte eine Gleitbombe den gut besuchten Epizentr-Baumarkt getroffen und 19 Menschen getötet, unter ihnen ein zwölfjähriges Mädchen und einen Siebzehnjährigen.
Tage später ist die Feuerwehr immer noch damit beschäftigt, Trümmer und Asche aus der Ruine zu entfernen. Auf dem Parkplatz sind unter einem Lichtmast Blumen angehäuft. Es hat auch Teelichter, Puppen und einen kleinen weissen Seehund - als Erinnerung für das umgekommene Mädchen.
Dennoch geht das Leben weiter. Im zentralen Schewtschenko-Park – benannt nach dem ukrainischen Nationaldichter – studieren Jugendliche unter Anleitung ihrer Lehrerinnen eine Tanzvorführung für den letzten Schultag vor den Sommerferien ein. Heerscharen von Angestellten mähen den Rasen, pflegen Blumenbeete oder fegen die Wege.
Es ist, als ob die Stadtverwaltung den Bewohnern sagen wollte: Alles ist normal, wir kümmern uns um euch. Zyniker wie Ruslan (Name geändert) sehen das anders: Die Blumenbeete und die vielen Reparaturen am Inventar der Stadt seien nur zur Bereicherung korrupter Beamter und Unternehmer gedacht.
Um die Steuerung der Gleitbomben zu verwirren, benützt Charkiw inzwischen Störsender. Sie suggerieren nicht nur russischen Systemen, dass sich ein Objekt an einem anderen Ort befindet als in Wirklichkeit. In die Irre geführt werden auch Navigationsgeräte von Autos und Mobiltelefonen. Mancher Taxifahrer ärgert sich darüber.
Vor dem ausgebombten Gebäude der Regionalverwaltung befindet sich ein Rekrutierungszentrum. In grossen Lettern steht dort «Alles für den Sieg». Das Zentrum ist aber schon lange geschlossen. Die meisten Wehrpflichtigen - Millionen von Männern - bekunden wenig Lust, sich für den «Sieg» zu opfern. Seit Mitte Mai müssen sich alle Männer zwischen achtzehn und sechzig Jahren in einem elektronischen Register eintragen. Viele tun das über eine eigens dafür vorgesehene App.
Bis jetzt haben das laut Regierungsangaben etwa 1,5 Millionen Bürger getan. Wer wehrfähig ist, riskiert, zwangsweise eingezogen zu werden. Genau davor haben Leute wie der 38-jährige Ruslan panische Angst. Einerseits ist Ruslan dafür, korrupte Militärs und Beamte zu erschiessen. Anderseits tut er alles, um nicht aufzufallen. Er vermeidet es, unnötig herumzuspazieren, und hält sich von Strassensperren fern.
Wenn er trotzdem draussen ist, zum Beispiel zum Einkaufen, fürchtet er, von einer mobilen Patrouille angehalten zu werden. So wie er verhalten sich viele Ukrainer. Sie haben alle möglichen Ausreden, warum andere für sie an der Front leiden sollen. Sollte die Regierung der Drückebergerei nicht Einhalt gebieten können oder wollen, wird das Land den Krieg, seine Unabhängigkeit und die Freiheit verlieren.
Russland hat Europa längst den Krieg erklärt. Und es wird nicht besser. Denn der Feind sitzt in Form der Putinvetsteher und Putinpropagandisten (SVP, AfD und Konsorten) bereits unter uns.
Die Schweizer Männer würden sich genau gleich verhalten wie die im Text beschriebenen ukrainischen. Die Schweizer Bevölkerung würde wohl grossteils aus den Kampfgebieten fliehen. Und das ist ja auch vernünftig. So steht man der Armee nicht im Weg.
Konkret zu Herrn Peldas Puzzlestück ist mein Eindruck, dass diese Beschreibung auch bei uns gefunden werden könnte, wenn wir in der Situation der Ukrainerinnen und Ukrainer wären. Bleiben wir emphatisch und versuchen wir ehrlich zu sein.