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Ukraine darf Ziele in Russlan abschiessen: Ulrich Schmid schätzt ein

Ukrainische Soldaten suchen am Dienstag, den 28. Mai 2024, an der Frontlinie in der Region Saporischschja (Ukraine) ein Ziel mit einem US-Luftabwehrraketenwerfer vom Typ Stinger. (AP Photo/Andriy Andr ...
Ukrainische Soldaten suchen an der Frontlinie in der Region Saporischschja ein Ziel mit einem US-Luftabwehrraketenwerfer vom Typ Stinger, am Dienstag, 28. Mai 2024.Bild: AP
Interview

«Der Westen hat immer gesagt: Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen»

Am Donnerstag entschied die US-Regierung, dass die Ukraine mit US-Waffen ab sofort auch Ziele in Russland abschiessen darf. Am Freitag zog Deutschland mit demselben Entscheid nach. Russlandexperte Ulrich Schmid sagt, weshalb trotzdem kein russischer Atomanschlag droht.
31.05.2024, 20:0201.06.2024, 15:47
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Zuerst die USA, dann Deutschland: Die beiden Staaten haben verkündet, dass sie der Ukraine ab sofort erlauben, die von ihnen gelieferten Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet einzusetzen. Warum kommt dieser Richtungswechsel genau jetzt?
Ulrich Schmid:
Dieser Entscheid ist eine Reaktion auf die neue russische Offensive. Russland hat die ostukrainische Stadt Charkiw von russischem Staatsgebiet aus angegriffen. Dabei gab bereits zahlreiche zivile Opfer. Mit der Erlaubnis der USA und Deutschlands kann die Ukraine nun aktiv gegen die Angriffe aus Russland vorgehen. Das ist enorm wichtig, damit Charkiw weiterhin verteidigt werden kann. Allerdings haben die USA und Deutschland den Einsatz ihrer Waffen für Angriffe auf Russland an viele Bedingungen und Restriktionen geknüpft.

Menschen reagieren nach dem russischen Raketenangriff auf ihr Wohnhaus in Charkiw, Ukraine, Freitag, 31. Mai 2024. (AP Photo/Andrii Marienko)
Menschen reagieren nach dem russischen Raketenangriff auf ihr Wohnhaus in Charkiw, am Freitag, 31. Mai 2024.Bild: AP

Lange war eine solche Erlaubnis aber eine rote Linie für die Verbündeten im Westen.
Die «roten Linien» des Westens sind in diesem Krieg schon lange eher gestrichelt. Die westlichen Staaten geben den Forderungen der ukrainischen Regierung schrittweise nach. Das war bei den Panzerlieferungen so, später bei den Fliegerlieferungen und nun eben mit der Erlaubnis, westliche Waffen innerhalb eines eng gesteckten Rahmens gegen Ziele in Russland einzusetzen. Es geht dabei um die eigene Glaubwürdigkeit. Der Westen hat von Anfang an gesagt, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf. Dafür braucht es angesichts der russischen Materialschlacht eine stärkere militärische Unterstützung für die Ukraine. Immerhin wurde die bisher wichtigste rote Linie, die der Westen gezogen hat, nicht überschritten: Kein westliches Land soll direkt Kriegspartei werden.

Zur Person
Ulrich Schmid ist Professor für Osteuropastudien an der Universität St.Gallen (HSG). In seiner Forschung beschäftigt er sich insbesondere mit der russischen, ukrainischen und polnischen Kultur sowie dem Nationalismus in Osteuropa. Schmid gilt als einer der bekanntesten Russland-Experten der Schweiz.

Werden die USA und Deutschland nicht trotzdem in einem gewissen Sinne Kriegsparteien, wenn die Ukraine mit ihren gelieferten Waffen nun auf Russland zielt?
Nein. Nach internationalem Recht ist es der Ukraine erlaubt, zum Gegenschlag auf russisches Gebiet, von dem aus es angegriffen wird, auszuholen. Dabei spielt es keine Rolle, wessen Waffen die Ukraine einsetzt. Die USA und Deutschland werden damit völkerrechtlich gesehen nicht zu Kriegsparteien.

epa11322318 German Chancellor Olaf Scholz attends a a joint press conference the meeting in Riga, Latvia, 06 May 2024. German Chancellor Olaf Scholz visited Latvia for meetings with the Prime Minister ...
Olaf Scholz verkündete am Freitag, dass Deutschland den Ukraine Angriffe aus russische Ziele mit deutschen Waffen erlaubt.Bild: EPA

Könnte der Krieg weiter eskalieren? Russland droht schliesslich immer wieder mit seinen Atomwaffen.
Ja, der Kreml droht gerne damit. Ein tatsächlicher Einsatz nach diesen Entwicklungen ist aus meiner Sicht aber sehr unwahrscheinlich.

Weshalb?
Die russische Staatsdoktrin schreibt vor, dass Atomwaffen nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn die russische Staatlichkeit bedroht ist.

Eben. Und wir sprechen von ukrainischen Angriffen auf russisches Staatsgebiet.
Ja, aber nach russischer Logik müsste die russische Staatlichkeit längst bedroht gewesen sein. Putin hat im September 2022 die Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson zu russischem Staatsgebiet erklärt. Unter seine volle Kontrolle hat er diese Gebiete allerdings bis heute nicht bringen können. Den Kampf um diese Gebiete hätte Putin in den letzten zwanzig Monaten, um sich selbst nicht zu widersprechen, also bereits als einen Angriff auf die «russische Staatlichkeit» werten müssen. Zum Einsatz von Atomwaffen kam es trotzdem nicht.

Russian President Vladimir Putin attends a meeting with large families from various Russia's regions via videoconference at the Kremlin in Moscow, Russia, Thursday, May 30, 2024. (Alexander Kazak ...
Wladimir Putin wurde in diesem Jahr erneut zum Präsidenten Russlands gewählt, wobei ein wirklicher Gegenkandidat fehlte. Bild: keystone

Gibt es demnach weitere Gründe, die Putin von einem atomaren Schlag abhalten?
Es gibt zwei. Erstens würden Russlands Quasi-Verbündete, China und Indien, den Einsatz von Atomwaffen ganz und gar nicht akzeptieren. Besonders von Indien ist Russland in diesem Krieg abhängig. 30 Prozent seines Haushaltsbudgets zieht Russland aus dem Verkauf von Erdöl. Ein wichtiger Abnehmer ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine Indien. Ein Grossteil dieser Einnahmen fliesst in den Krieg. Denn dieser Krieg ist teuer.

Und zweitens?
Auch die russische Bevölkerung würde es nicht verstehen, wenn Putin Atomwaffen einsetzt. Denn gemäss dem Kreml gibt es ja gar keinen Krieg. Wie sollte Putin da den Einsatz atomarer Waffen rechtfertigen?

epa11340659 Ukrainische Rettungskräfte arbeiten am 14. Mai 2024 während des russischen Einmarsches in einem Wohngebiet in der ukrainischen Stadt Charkiw an der Stelle, die beschossen wurde. Nach Angab ...
14. Mai 2024: Ukrainische Rettungskräfte im Einsatz, nachdem ein russischer Beschuss in einem Wohngebiet in Charkiw mindestens 21 Personen verletzte, darunter drei Kinder.Bild: EPA

Putin verbucht nicht die militärischen Erfolge, die er sich gewünscht hat. Aus dem Krieg zurückziehen kann er sich allerdings nicht, ohne einen Gesichtsverlust zu riskieren.
Ganz genau. Putin braucht einen Sieg. Oder zumindest etwas, das er der russischen Bevölkerung als Sieg verkaufen kann. Er hat sein politisches Schicksal unauflösbar mit dem Ukrainekrieg verknüpft. Putins Minimalforderung für einen Frieden ist die volle Kontrolle über die vier ukrainischen Gebiete, die er 2022 annektierte. Doch davon ist Russland weit entfernt. Russland kontrolliert nicht einmal die Gebietshauptstädte Saporischschja und Cherson. Putin setzt darauf, dass Russland länger durchhalten wird als die Ukraine. Ob das stimmt, wird sich zeigen.

Ulrich Schmid, Professor fuer Kultur und Gesellschaft Russlands der Universitaet St. Gallen, spricht am Stromkongress des Verband Schweizerischer Elektrizitaetsunternehmen, VSE, am Mittwoch, 18. Janua ...
Ulrich Schmid, Professor für Osteuropastudien an der HSG.Bild: keystone

Und wie steht es innenpolitisch um die Ukraine? Eigentlich wäre Wolodymyr Selenskyjs Amtszeit als Präsident am 20. Mai abgelaufen.
Ja, und das betont der Kreml in seiner Propaganda auch gerne, um ihm seine Legitimität abzusprechen. Präsidentschaftswahlen – geschweige denn Parlamentswahlen – sind in der jetzigen Kriegslage in der Ukraine allerdings nicht möglich.

Wie steht die ukrainische Bevölkerung dazu?
Sie kann es akzeptieren. 2019 wählten 73 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer Selenskyj zum Präsidenten. Direkt nach dem Kriegsausbruch sank die Zustimmung für ihn auf 35 Prozent, nur um kurz darauf, als Selenskyj in Kiew mutig die Stellung hielt, auf 90 Prozent hochzuschnellen. Inzwischen hat die Zustimmung für ihn kontinuierlich abgenommen und ist jetzt bei 60 Prozent.

Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskyy, zweiter von links, trifft sich mit in Portugal lebenden Ukrainern im Sao Bento Palast, der offiziellen Residenz des portugiesischen Premierministers Luis ...
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj traf im Zuge seines Besuchs beim portugiesischen Premierminister Luis Montenegro im Mai auf eine ukrainische Familie. Sie lebt seit Kriegsausbruch in Portugal.Bild: AP LUSA POOL

Die Ukraine wird innenpolitisch auch andere Bereiche haben, die dringend angegangen werden müssten. Ist das überhaupt möglich, wenn das Land nicht einmal Wahlen abhalten kann?
Nicht wirklich. Die ukrainische Politik hat kaum Ressourcen, um sich um andere Themen als die Landesverteidigung zu kümmern. Das sorgt nach zwei Jahren Krieg durchaus für Kritik. Zu den grössten innenpolitischen Problemen gehört derzeit – neben dem Wiederaufbau der Infrastruktur – die Korruption. Vor allem die Landesverteidigung ist anfällig dafür. Kürzlich ist es bei den Rekrutierungsbehörden aus diesem Grund zu Entlassungen hochrangiger Beamter gekommen. Das zeigt, dass die Regierung gegen die Korruption vorgeht.

Kommen wir zurück zum Krieg an sich. Es klingt, als wäre zwar kein unmittelbarer Ausbruch eines dritten Weltkriegs in Sicht, aber auch kein Frieden. Trotzdem veranstaltet die Schweiz im Juni auf dem Bürgenstock eine Friedenskonferenz. Ohne Russland. Was kann das bringen?
Der Bundesrat hat von Anfang an kommuniziert, dass es nicht möglich sein wird, an dieser Konferenz einen Frieden herbeizuführen. Ziel ist es darum viel mehr, ein gemeinsames, international abgestütztes Verständnis zu definieren, unter welchen Bedingungen Friedensverhandlungen denkbar wären. Im Moment stehen konkrete Themen wie Lebensmittelsicherheit, Austausch von Kriegsgefangenen und die Sicherheit des AKWs Saporischschja im Vordergrund. Die Konferenz ist aber nicht nur deshalb wichtig und richtig. Sie dient auch dazu, der Bevölkerung im Westen ein Signal zu senden: Dass sich die Politik für einen Frieden einsetzt.

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132 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Divico111
31.05.2024 20:12registriert November 2021
Diese Diskusion ist alt. Früher hiess es wenn wir angegriffen werden müssen wir uns im eigenen Land verteidigen, weil wir neutral sind. Das ist völlig falsch und ein Signal zur Selbstaufgabe. Wenn wir angegriffen werden können wir alles machen, was unseren Interessen dient und dem Angreifer schadet. Punkt.
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Tante Karla
31.05.2024 20:28registriert März 2024
Im übrigen betrachtet die RF die seit 2014 eroberten Gebiete allesamt als eigenes Staatsgebiet, einschliesslich der nicht eroberten Teile dieser Oblaste. Aus russischer Sicht wird also seit September 2022 Russland mit westlichen Waffen angegriffen.

Die russische Argumentation ist aberwitzig. Jedes Land darf sich, auch mit fremder Hilfe, gegen Angriffskriege verteidigen.
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Kommissar Rizzo
01.06.2024 04:03registriert Mai 2021
Hier handelt es sich um Abwehr. Dies ist etwas anderes als ein Angriff auf Russland und daher aus meiner Sicht völlig legitim.
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