Zuerst die USA, dann Deutschland: Die beiden Staaten haben verkündet, dass sie der Ukraine ab sofort erlauben, die von ihnen gelieferten Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet einzusetzen. Warum kommt dieser Richtungswechsel genau jetzt?
Ulrich Schmid: Dieser Entscheid ist eine Reaktion auf die neue russische Offensive. Russland hat die ostukrainische Stadt Charkiw von russischem Staatsgebiet aus angegriffen. Dabei gab bereits zahlreiche zivile Opfer. Mit der Erlaubnis der USA und Deutschlands kann die Ukraine nun aktiv gegen die Angriffe aus Russland vorgehen. Das ist enorm wichtig, damit Charkiw weiterhin verteidigt werden kann. Allerdings haben die USA und Deutschland den Einsatz ihrer Waffen für Angriffe auf Russland an viele Bedingungen und Restriktionen geknüpft.
Lange war eine solche Erlaubnis aber eine rote Linie für die Verbündeten im Westen.
Die «roten Linien» des Westens sind in diesem Krieg schon lange eher gestrichelt. Die westlichen Staaten geben den Forderungen der ukrainischen Regierung schrittweise nach. Das war bei den Panzerlieferungen so, später bei den Fliegerlieferungen und nun eben mit der Erlaubnis, westliche Waffen innerhalb eines eng gesteckten Rahmens gegen Ziele in Russland einzusetzen. Es geht dabei um die eigene Glaubwürdigkeit. Der Westen hat von Anfang an gesagt, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf. Dafür braucht es angesichts der russischen Materialschlacht eine stärkere militärische Unterstützung für die Ukraine. Immerhin wurde die bisher wichtigste rote Linie, die der Westen gezogen hat, nicht überschritten: Kein westliches Land soll direkt Kriegspartei werden.
Werden die USA und Deutschland nicht trotzdem in einem gewissen Sinne Kriegsparteien, wenn die Ukraine mit ihren gelieferten Waffen nun auf Russland zielt?
Nein. Nach internationalem Recht ist es der Ukraine erlaubt, zum Gegenschlag auf russisches Gebiet, von dem aus es angegriffen wird, auszuholen. Dabei spielt es keine Rolle, wessen Waffen die Ukraine einsetzt. Die USA und Deutschland werden damit völkerrechtlich gesehen nicht zu Kriegsparteien.
Könnte der Krieg weiter eskalieren? Russland droht schliesslich immer wieder mit seinen Atomwaffen.
Ja, der Kreml droht gerne damit. Ein tatsächlicher Einsatz nach diesen Entwicklungen ist aus meiner Sicht aber sehr unwahrscheinlich.
Weshalb?
Die russische Staatsdoktrin schreibt vor, dass Atomwaffen nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn die russische Staatlichkeit bedroht ist.
Eben. Und wir sprechen von ukrainischen Angriffen auf russisches Staatsgebiet.
Ja, aber nach russischer Logik müsste die russische Staatlichkeit längst bedroht gewesen sein. Putin hat im September 2022 die Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson zu russischem Staatsgebiet erklärt. Unter seine volle Kontrolle hat er diese Gebiete allerdings bis heute nicht bringen können. Den Kampf um diese Gebiete hätte Putin in den letzten zwanzig Monaten, um sich selbst nicht zu widersprechen, also bereits als einen Angriff auf die «russische Staatlichkeit» werten müssen. Zum Einsatz von Atomwaffen kam es trotzdem nicht.
Gibt es demnach weitere Gründe, die Putin von einem atomaren Schlag abhalten?
Es gibt zwei. Erstens würden Russlands Quasi-Verbündete, China und Indien, den Einsatz von Atomwaffen ganz und gar nicht akzeptieren. Besonders von Indien ist Russland in diesem Krieg abhängig. 30 Prozent seines Haushaltsbudgets zieht Russland aus dem Verkauf von Erdöl. Ein wichtiger Abnehmer ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine Indien. Ein Grossteil dieser Einnahmen fliesst in den Krieg. Denn dieser Krieg ist teuer.
Und zweitens?
Auch die russische Bevölkerung würde es nicht verstehen, wenn Putin Atomwaffen einsetzt. Denn gemäss dem Kreml gibt es ja gar keinen Krieg. Wie sollte Putin da den Einsatz atomarer Waffen rechtfertigen?
Putin verbucht nicht die militärischen Erfolge, die er sich gewünscht hat. Aus dem Krieg zurückziehen kann er sich allerdings nicht, ohne einen Gesichtsverlust zu riskieren.
Ganz genau. Putin braucht einen Sieg. Oder zumindest etwas, das er der russischen Bevölkerung als Sieg verkaufen kann. Er hat sein politisches Schicksal unauflösbar mit dem Ukrainekrieg verknüpft. Putins Minimalforderung für einen Frieden ist die volle Kontrolle über die vier ukrainischen Gebiete, die er 2022 annektierte. Doch davon ist Russland weit entfernt. Russland kontrolliert nicht einmal die Gebietshauptstädte Saporischschja und Cherson. Putin setzt darauf, dass Russland länger durchhalten wird als die Ukraine. Ob das stimmt, wird sich zeigen.
Und wie steht es innenpolitisch um die Ukraine? Eigentlich wäre Wolodymyr Selenskyjs Amtszeit als Präsident am 20. Mai abgelaufen.
Ja, und das betont der Kreml in seiner Propaganda auch gerne, um ihm seine Legitimität abzusprechen. Präsidentschaftswahlen – geschweige denn Parlamentswahlen – sind in der jetzigen Kriegslage in der Ukraine allerdings nicht möglich.
Wie steht die ukrainische Bevölkerung dazu?
Sie kann es akzeptieren. 2019 wählten 73 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer Selenskyj zum Präsidenten. Direkt nach dem Kriegsausbruch sank die Zustimmung für ihn auf 35 Prozent, nur um kurz darauf, als Selenskyj in Kiew mutig die Stellung hielt, auf 90 Prozent hochzuschnellen. Inzwischen hat die Zustimmung für ihn kontinuierlich abgenommen und ist jetzt bei 60 Prozent.
Die Ukraine wird innenpolitisch auch andere Bereiche haben, die dringend angegangen werden müssten. Ist das überhaupt möglich, wenn das Land nicht einmal Wahlen abhalten kann?
Nicht wirklich. Die ukrainische Politik hat kaum Ressourcen, um sich um andere Themen als die Landesverteidigung zu kümmern. Das sorgt nach zwei Jahren Krieg durchaus für Kritik. Zu den grössten innenpolitischen Problemen gehört derzeit – neben dem Wiederaufbau der Infrastruktur – die Korruption. Vor allem die Landesverteidigung ist anfällig dafür. Kürzlich ist es bei den Rekrutierungsbehörden aus diesem Grund zu Entlassungen hochrangiger Beamter gekommen. Das zeigt, dass die Regierung gegen die Korruption vorgeht.
Kommen wir zurück zum Krieg an sich. Es klingt, als wäre zwar kein unmittelbarer Ausbruch eines dritten Weltkriegs in Sicht, aber auch kein Frieden. Trotzdem veranstaltet die Schweiz im Juni auf dem Bürgenstock eine Friedenskonferenz. Ohne Russland. Was kann das bringen?
Der Bundesrat hat von Anfang an kommuniziert, dass es nicht möglich sein wird, an dieser Konferenz einen Frieden herbeizuführen. Ziel ist es darum viel mehr, ein gemeinsames, international abgestütztes Verständnis zu definieren, unter welchen Bedingungen Friedensverhandlungen denkbar wären. Im Moment stehen konkrete Themen wie Lebensmittelsicherheit, Austausch von Kriegsgefangenen und die Sicherheit des AKWs Saporischschja im Vordergrund. Die Konferenz ist aber nicht nur deshalb wichtig und richtig. Sie dient auch dazu, der Bevölkerung im Westen ein Signal zu senden: Dass sich die Politik für einen Frieden einsetzt.
Die russische Argumentation ist aberwitzig. Jedes Land darf sich, auch mit fremder Hilfe, gegen Angriffskriege verteidigen.