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Ex-NATO-General Erhard Bühler über Ukraine-Krieg und russische Bedrohung

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Spanische Soldaten der multinationalen Kampfgruppe der NATO. Das Verteidigungsbündnis steht vor unruhigen Zeiten.Bild: keystone

«Der NATO bleibt nichts anderes übrig, als auf eine starke Abschreckung zu setzen»

Der frühere NATO-General Erhard Bühler erklärt in einem aktuellen Interview, wie er die Bedrohung Europas durch Russland sieht. Und er nimmt die von Olaf Scholz ausgerufene «Zeitenwende» ins Visier.
27.10.2024, 14:5928.10.2024, 09:34
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Der frühere NATO-General Erhard Bühler gibt im Podcast «Was tun, Herr General?» regelmässig Einschätzungen zum Ukraine-Krieg ab. Nun hat der 68-jährige Militärexperte aus Deutschland der «Neuen Zürcher Zeitung» diese Woche ein Interview gegeben (siehe Quellen).

watson fasst die Punkte, die auch aus Schweizer Perspektive spannend sind, zusammen.

Viele meinen, Russland werde kein NATO-Land angreifen

Dazu Erhard Bühler:

«Vor der russischen Invasion in der Ukraine haben auch viele gedacht, dass Russland diesen Schritt nicht gehen würde, ich eingeschlossen, weil ich die politischen und militärischen Risiken für Russland gesehen habe. Damals haben sich viele verschätzt, insbesondere auch die Russen selbst. Heute sollte aber niemand mehr so leichtgläubig sein.»

Wladimir Putin selbst hatte 2005 erklärt, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei für ihn «die grösste politische Katastrophe des Jahrhunderts». Sollte ein östliches NATO-Mitglied sein nächstes Ziel werden, wären die Verbündeten verpflichtet, zu Hilfe zu eilen.

Zudem sagt Bühler:

«Wer meint, Russland werde sich mit der NATO schon nicht anlegen, dem empfehle ich eine Reise ins Baltikum. Diese Länder waren einst Teil der Sowjetunion. Die Sorge wegen eines russischen Angriffs ist dort mit Händen zu greifen.»

Europas Staatsführer sehen sich also mit einem Szenario konfrontiert, das sie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr ernsthaft in Betracht ziehen mussten: einen Landkrieg gegen Russland. Denn gemäss Artikel 5 des Nordatlantikvertrags stehen sich die Mitgliedsstaaten bei einem Konflikt gegenseitig bei.

Die Angst vor einem Angriff Russlands

Ex-General Bühler argumentiert, es bringe nichts, darüber zu spekulieren, was der russische Despot genau erreichen wolle und was er vielleicht als Nächstes tue. Entscheidend sei aus seiner Sicht etwas Anderes:

«Russland hat dem Westen eindeutig gezeigt, dass es bereit ist, zum Äussersten zu gehen, um seine Ziele zu erreichen. Deshalb bleibt der NATO nichts anderes übrig, als auf eine starke Abschreckungsfähigkeit zu setzen. Wir müssen ausschliessen, dass Russland überhaupt auf die Idee kommt, im Baltikum, in Polen oder im Schwarzmeerraum in irgendeiner Weise gegen die NATO vorzugehen.»

Es kommt allerdings noch düsterer, wie Bloomberg-Journalisten Mitte Oktober konstatierten. Ein solcher Krieg in Europa müsse möglicherweise ohne die volle Feuerkraft der USA geführt werden, «des unverzichtbaren Verbündeten, der die Sicherheit der Region während des Kalten Krieges und auch danach gewährleistet hat».

Der Aufstieg Chinas als Militärgrossmacht mit seinen offen kommunizierten Eroberungsplänen für die Insel Taiwan lasse die amerikanischen Militärexperten ein Szenario durchspielen, in dem die USA gezwungen wären, Langstreckenwaffen aus dem Nordatlantik abzuziehen, um einen Krieg in Ostasien zu führen.

Die Ukraine zu einem Diktatfrieden zu zwingen bringt nichts

Wenn die westliche Militärhilfe auf dem aktuellen Niveau verharrt oder gar noch gesenkt wird, muss der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj früher oder später mit der russischen Führung verhandeln, um einen totalen Zusammenbruch des Landes zu verhindern.

Gemäss den bekannten Forderungen aus dem Kreml liefe das auf die einseitige Abtretung des von Russland besetzten ukrainischen Staatsgebietes hinaus.

Erhard Bühler warnt:

«Damit ist der Krieg aber nicht vorbei. Nach einer Pause, in der Russland sich militärisch neu aufstellt, wird das Land die Hände ausstrecken nach der gesamten Ukraine. Und wenn das gelingen sollte, wird es sich ermutigt fühlen, auch andere Länder anzugreifen, Moldau, Georgien, das Baltikum.»

Die deutsche Zeitenwende ist mehr als eine Worthülse

Erhard Bühler ruft im NZZ-Interview in Erinnerung, was der Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 im Sinne seiner «Zeitenwende» der deutschen Armeeführung versprochen habe: Die Bundeswehr werde zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa und «zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung auf dem Kontinent».

Die Realität sei eine andere.

«Ich will niemandem unterstellen, dass er die Zeitenwende aufgegeben hat. Aber Entscheidungen, die eigentlich heute getroffen werden müssten, werden in die Zukunft vertagt. Die Koalition ist gelähmt.»

Die Zeit, die die Verantwortungsträger nun mit innenpolitischen Konflikten und Diskussionen verlieren, setze das ganze Projekt der Zeitenwende aufs Spiel.

«Jetzt ist es ernst. Es war im Kalten Krieg nie so ernst wie heute. Die weltpolitische Lage ist viel unberechenbarer und gefährlicher als damals. Deshalb muss jetzt sofort und nicht irgendwann gehandelt werden.»

Was die Schweiz (vielleicht) besser macht als Deutschland

Es gebe in der Welt immer das Böse, so Bühler, und wenn es irgendwo die Oberhand gewinne, benötige man eine Streitkraft, die einen davor schütze.

Der deutsche Militärexperte sagt:

«Die Schweiz ist da für mich immer das beste Beispiel. Sie ist ein neutrales Land und hat seit vielen Jahrzehnten keine feindlichen Nachbarn. Trotzdem hat es letztlich auf seine Verteidigungsbereitschaft immer besonderen Wert gelegt. Das ist ein guter Ansatz. Man muss Verteidigungsfähigkeit auch ohne unmittelbare Bedrohungen denken können. Die kommen oft schneller, als man denkt.»

Bleibt anzumerken, dass der Schweizer Armeechef davor gewarnt hat, dass die Verteidigungsfähigkeit stark beeinträchtigt sei und weiter abnehme, weil wichtige Waffen-Systeme komplett zu veralten drohen. Derweil streiten linke und rechte Politiker im Parlament und in der Regierung um die Aufrüstung der Armee und insbesondere um die Frage, woher das Geld dafür kommt.

Quellen

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139 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MartinZH
27.10.2024 15:27registriert Mai 2019
Der dt. SPD-Verteidigungsminister Pistorius strebt nach einem «Spiegel»-Bericht den Kauf von 600 Marschflugkörpern des Typs «Taurus» an.

Und dies jetzt, Ende 2024.

Dieses Bsp. zeigt exemplarisch, dass die vom dt. SPD-Bundeskanzler Scholz im Jahr 2022 verlautbarte «Zeitenwende» v.a. eine Worthülse war / ist:

Nach fast 1000 Tagen RU-Angriffskrieg gegen die UA gelangt die dt. Bundesregierung zur Erkenntnis, dass es an der Zeit wäre, zusätzliche «Taurus»-Marschflugkörper in Auftrag zu geben.

Den Vorwurf der 'zaudernden Zögerlichkeit' muss sich Scholz – nicht nur bzgl. der UA – gefallen lassen.
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Wilmar
27.10.2024 17:02registriert April 2024
Man wird nicht angegriffen wenn man militärisch stark und entschlossen ist. Europa braucht ein Umdenken und das schnell. Wir sind nicht alle friedlich mit einander und ein größerer Krieg in Europa ist wieder möglich. Wir können es meiden aber nicht mit abrüsten sondern mit aufrüsten und gut trainierte Soldaten und Einigkeit. Die Zeit drängt speziell wenn Donald gewinnt was leider wahrscheinlich ist. Dann sind wir auf uns selber gestellt.
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Fritz Spitz
27.10.2024 17:26registriert Juli 2014
Das ganze wird auch von der Schweiz nicht ernst genommen. So lang man nicht knallharte Sanktionen erlässt und konsequent Gelder sperrt, bringt auch das Aufrüsten der Armee hier nichts. Man muss einfach am richtigen Hebel ansetzen.
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