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Für Litauen ist der Kampf der Ukraine ihr eigener

FILE - Thousands gather outside of the Parliament in a show of solidarity with Latvians who are mourning those killed by Soviet "Black Berets", an elite force of Soviet Interior Ministry tro ...
Vilnius im Januar 1991: Tausende Litauerinnen und Litauer zeigen Solidarität mit von der Sowjetunion getöteten Letten.Bild: keystone

«Seit 700 Jahren Krieg mit Russland»: Für Litauen ist der Kampf der Ukraine ihr eigener

In keinem anderen Nato-Land ist die Bedrohung so präsent wie im südlichsten der drei baltischen Staaten. Exilanten aus Putins Reich sind in Litauen willkommen, werden aber auch kritisch gesehen.
09.01.2023, 07:54
Hansjörg Friedrich Müller, Vilnius / ch media
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Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wird Litauen, einem Land mit nicht einmal drei Millionen Einwohnern, ungewohnte Aufmerksamkeit zuteil: Wer die schlimmstmögliche Wendung durchspielt und über eine direkte militärische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen nachdenkt, denkt fast immer auch an die südlichste der drei baltischen Republiken.

Im Südwesten grenzt das Nato-Land an die russische Exklave Kaliningrad; die Hauptstadt Vilnius im Südosten Litauens liegt gerade einmal zwanzig Kilometer von Weissrussland entfernt, dem Reich des Putin-Verbündeten Alexander Lukaschenko.

Es ist kalt in Vilnius; Eiszapfen hängen von den Dachrinnen und das Gehen auf den Trottoirs wird zum Balanceakt. Dennoch strahlt die Stadt vielerorts eine fast südlich wirkende Heiterkeit aus: Barocke Kirchen prägen das Zentrum. Wie die Polen und anders als ihre baltischen Nachbarn sind die meisten Litauer katholisch. Neue Geschäfte und Restaurants zeigen, wie sehr das Land in den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich aufgeholt hat.

Keine Angst vor Peking und Moskau

Am Rand der Altstadt, in einem Quartier, das mit seinen bunten Holzhäusern an Russland erinnert, steht ein Bungalow. Es ist der Sitz des Eastern Europe Studies Centre, eines Thinktanks, dessen Träger die Regierung und die Universität von Vilnius sind. Linas Kojala, der Direktor, ist gerade einmal 32 Jahre alt. Aufenthalte in Oxford und Harvard zieren den Lebenslauf des Politologen.

Wir wollten zeigen, dass wir verstanden haben, dass China auf lange Sicht der eigentliche Gegner ist. Wir sind kein Land, das sich nur um ein Thema kümmert.»
Linas Kojala

Litauen mag klein sein, doch seine Aussenpolitik wirkt selbstbewusst: Im September 2022 hat Vilnius eine Vertretung in Taiwan eröffnet; Peking zog daraufhin seinen Botschafter zurück. China herauszufordern, während man Russland vor der Haustür hat ‒ ist das nicht naiv? «Es ist noch zu früh, um Schaden und Nutzen unserer China-Politik gegeneinander abzuwägen», antwortet Kojala diplomatisch.

Linas Kojala.
Linas Kojala.Bild: EESC

Allerdings habe die litauische Regierung die wirtschaftlichen Folgen nicht wirklich überdacht. «Peking ergriff sekundäre Sanktionen. Plötzlich hiess es in chinesischen Häfen, man führe kein Land namens Litauen in den Datensätzen.» So mussten litauische Waren draussen bleiben.

Einen Vorteil habe die neue Politik auf jeden Fall: «Wir werden in Washington gehört», erklärt Kojala. Manche in Vilnius befürchteten, Amerika könnte irgendwann das Interesse an Europa verlieren. «Wir wollten zeigen, dass wir verstanden haben, dass China auf lange Sicht der eigentliche Gegner ist. Wir sind kein Land, das sich nur um ein Thema kümmert.» Washington, nicht Brüssel, Berlin oder Paris ist für viele Litauer entscheidend. «Nur die USA können effektiv militärische Macht ausüben», sagt Kojala. «Allein kann sich Europa nicht verteidigen.»

Die Jungen lernen Englisch statt Russisch

Am Rathaus von Vilnius erinnert eine Gedenktafel an den Besuch eines Politikers, der in Westeuropa kein hohes Ansehen geniesst: «Wer sich Litauen zum Feind macht, macht sich auch die Vereinigten Staaten zum Feind», wird dort ein Ausspruch zitiert, den George W. Bush (litauisch: Džordžas Volkeris Bušas) 2002 machte. Vor dem nahen Präsidentenpalast weht nicht nur die Fahne der EU, sondern auch jene der Nato: Ein Anblick, den man aus westeuropäischen Hauptstädten kaum kennt.

«Ich habe noch Kontakt zu Russen, aber nur zu solchen, die das Land verlassen haben.»
Marius Ivaškevičius

Der Drang nach Westen ist verständlich: In der Vergangenheit wurden Litauens Geschicke allzu oft von seinem übermächtigen Nachbarn im Osten bestimmt: 1795 wurde das Land eine Provinz des Zarenreiches. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs erlangte es seine Unabhängigkeit, doch diese währte nur kurz: Im Zweiten Weltkrieg befreite die Rote Armee das Baltikum von den deutschen Besatzern, doch dann vergassen die Sowjets, wieder zu gehen, wie manche Litauer mit ironischem Unterton sagen.

Marius Ivaškevičius.
Marius Ivaškevičius.Bild: AZ/Laura Vanceviciene

«Wir haben seit 700 Jahren Krieg mit Russland», erklärt Marius Ivaškevičius in einem Café in der Altstadt von Vilnius. «Alles, was dazwischen lag, waren Pausen.» Der 49-Jährige ist einer der bedeutendsten Dramatiker Litauens. Vor kurzem noch wurden seine Stücke auch in Russland gespielt; 2017 erhielt er dort einen renommierten Theaterpreis.

«Ich habe noch Kontakt zu Russen, aber nur zu solchen, die das Land verlassen haben», sagt Ivaškevičius. «Sonst herrscht gegenseitige Stille.» Wer in Putins Reich bleibe und weiter Karriere mache, verhalte sich wie jene Deutschen, die sich mit den Nazis arrangiert hätten.

Anders als die Georgier oder Zentralasiaten genossen die Balten zur Zeit des Kommunismus gewisse Privilegien: In den Schulen wurde in den Landessprachen unterrichtet; Russisch lernen musste allerdings jeder. «Wer über 35 ist, spricht Russisch, wer jünger ist, nicht mehr», berichtet Ivaškevičius. Seine frühere Ehefrau habe gewollt, dass ihre gemeinsame Tochter Französisch lerne. «Ich plädierte für Russisch. Man müsse die Sprache des Feindes verstehen. Damals meinte ich das noch im Scherz.»

Der Staat unterstützt russische Exilanten

Während in Estland und Lettland, jeweils rund ein Viertel der Bevölkerung aus ethnischen Russen besteht, ist die russische Minderheit in Litauen relativ klein. Vor Einflussversuchen aus Moskau haben die Litauer entsprechend weniger Angst als ihre nördlichen Nachbarn. «Hier in Vilnius begegnet mir kaum jemand misstrauisch, weil ich Russe bin», sagt Dmitri Kolezew. Das habe auch damit zu tun, dass die ukrainischen Flüchtlinge meist aus dem Osten des Landes stammten und Russisch redeten. So bemerkten die Litauer den Unterschied kaum.

In Russland stehe er auf einer Fahndungsliste, wegen Verbreitung angeblicher Falschinformationen über das Massaker im ukrainischen Butscha.

Kolezew ist ein schmächtiger, ernster Mann mit Nickelbrille. Müsste man sich einen russischen Intellektuellen im Exil ausmalen, käme das Bild, das vor dem inneren Auge auftauchte, seiner Gestalt wohl recht nahe. Im Mai ist der 38-Jährige zusammen mit seiner Frau nach Vilnius gekommen; davor lebten sie zwei Monate in der Türkei.

In Russland galt Kolezew als «ausländischer Agent». Alle drei Monate musste er dem Justizministerium Auskunft über seine Einnahmen und Kontobewegungen geben. «Ich werde nicht zurückkehren», sagt er in einem Café in der Altstadt von Vilnius. Am 28. Februar, wenige Tage nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, verliessen Kolezew und seine Frau ihre Heimatstadt Jekaterinburg im Westen Sibiriens. In Russland stehe er auf einer Fahndungsliste, wegen Verbreitung angeblicher Falschinformationen über das Massaker im ukrainischen Butscha.

Dmitri Kolezew.
Dmitri Kolezew.Bild: Republic.ru

Kolezew ist Chefredaktor von «Republic.ru», einem Onlinemedium mit einem guten Dutzend Mitarbeitern. Einige seiner Redaktionskollegen leben noch in Russland, die meisten aber in Deutschland, Frankreich, Montenegro oder Israel. Sein Geschäftsmodell sei in Russland einzigartig, erklärt Kolezew: «Wir haben eine Paywall und finanzieren uns ausschliesslich durch unsere Abonnenten. Das macht uns unabhängig.»

Der Journalist legt Wert auf die Feststellung, auch ukrainische Autoren zu beschäftigen. Dass Russen und Ukrainer gut miteinander auskommen, ist auch in Vilnius, wo die meisten Russen Putins Regime ablehnen, alles andere als selbstverständlich. «Für manche Ukrainer ist fast jeder Russe ein Feind», klagt Kolezew. Die Weissrussen stünden den Russen dagegen näher. Sprachlich, aber auch, weil sie sich in einer ähnlichen Lage befänden: «Unsere Länder werden von Diktatoren beherrscht, und irgendwie fühlen wir uns deswegen auch schuldig.»

Das offizielle Litauen empfängt russische Exilanten mit offenen Armen: Für Journalisten hat das Aussenministerium spezielle Programme aufgelegt, um ihre Arbeit zu unterstützen. Selbstverständlich ist das nicht: Die lettische Regierung hat Anfang Dezember dem russischsprachigen Fernsehsender Doschd die Sendelizenz entzogen. Für Kolezew ist das ein rotes Signal, auch wenn er es vor dem Hintergrund der Geschichte verständlich finde. «Vielleicht ist das Baltikum auf Dauer nicht der sicherste Ort für uns», meint er. Dafür sei die Bedrohung einfach zu nah.

Die «erlernte Machtlosigkeit» der Russen

Viele Litauer unterstützen die Ukraine aktiv. Laurynas Katkus ist gerade zurück aus Kiew; nun sitzt er in einem rustikalen polnischen Restaurant am Stadtrand von Vilnius. Der 50-Jährige ist einer der bekanntesten Lyriker des Landes, zudem Romancier und Übersetzer; unter anderem hat er Werke Friedrich Hölderlins, Gottfried Benns und Walter Benjamins ins Litauische übertragen.

Laurynas Katkus
Laurynas Katkus.Bild: AZ/zvg

«Wir haben im Schriftstellerverband Geld gesammelt – für die Familien ermordeter Autoren, aber auch für die ukrainische Armee», erzählt er. Nun hätten sie einen Jeep und Generatoren nach Kiew gebracht. Die Ukrainer glaubten an den Sieg. «Nächstes Jahr in Bachtschissarai», sagten die Leute mit Blick auf einen bekannten Ort auf der Krim.

Das Verhalten mancher Russen im Baltikum sieht Katkus kritisch: «Sie sind Putins Gegner, aber sind sie auch Feinde des Imperialismus? Vieles kommt mit der Muttermilch und wird nicht hinterfragt.» Die Russen fühlten sich als grosse Nation; im Exil schotteten sie sich oft ab und zeigten kaum Interesse an ihren Gastländern. Hinzu komme, dass der Krieg gezeigt habe, wie machtlos die russischen Liberalen seien. «Die unangenehme Frage ist, ob das nicht auch eine erlernte Machtlosigkeit ist», meint Katkus.

Viele Russen sagten, es bringe ohnehin nichts, zu protestieren. «Die Ukrainer gingen dagegen sofort an die Front.» Schon bald will Laurynas Katkus wieder nach Kiew fahren. Der Kampf der Ukrainer ist für die Litauer auch ihr eigener. (aargauerzeitung.ch)

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Russische Rentnerin kritisiert Krieg in der Ukraine – und fliegt aus dem Bus
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25 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gitarrenmensch
09.01.2023 09:29registriert Mai 2021
Danke für diesen Artikel. Wir hier im gemütlichen, ruhigen Westeuropa können den Menschen in Osteuropa nicht genug danken, dass sie für uns die Köpfe gegen die unmenschliche Diktatur in Russland hinhalten.
Ich hoffe Westeuropa, und da gehört die ach so neutrale Schweiz übrigens dazu, vergisst das nie und hält die Unterstützung der Länder welche sich gegen das Regime in Russland engagieren aufrecht.
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Kleinaberdoktor
09.01.2023 08:15registriert Mai 2020
Kleines Land mit sehr mutigen Einwohnern…….

Ich liebe Litauen 🇱🇹 sehr gastfreundliche Menschen und ein schönes Land zum bereisen
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rodolofo
09.01.2023 08:10registriert Februar 2016
Früheren Vasallen im damals von Russland dominierten, sowjetischen "Ostblock" in Osteuropa sind heute die hartnäckigsten und entschlossensten Gegner der neo-sowjetischen Renaissance unter Putin!
In Polen scheint die Haltung von Bevölkerung und Regierung gegenüber der von Putin befohlenen Expansion in Richtung Belarus und Ukraine ja ganz ähnlich zu sein, wie im Baltikum.
Nur im Ungarn von Viktot Orban offenbar NICHT!
WARUM nicht? Und warum auch nicht in Serbien?
"Rechtsnationalistisch" tendieren ja heute alle diese Länder, ebenso, wie Russland...
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