Der Krieg läuft für die Ukraine schlecht – diese fünf Punkte machen trotzdem Hoffnung
Die Niederlage in Awdijiwka sorgt für Erschütterungen sowohl in der Ukraine wie in den westlichen Unterstützerstaaten. Viel ausgeprägter als nach dem Fall von Bachmut im Mai 2023 greift angesichts der scheinbar unerschöpflichen russischen Angriffswellen Niedergeschlagenheit um sich. Bereits sagen verschiedene Militäranalysten voraus, nach Awdijiwka könnten demnächst weitere befestigte Orte entlang der Front fallen (siehe Karte unten).
Zweifellos hält Russland mit seiner zweiten Winteroffensive das Momentum inne. «Die Russen versuchen durch viele gleichzeitige Angriffe die Ukraine zu zwingen, ihre kostbaren Reserven auszuspielen», erläutert der österreichische Militärdozent und Garde-Oberst Markus Reisner in einem Interview: «Gleichzeitig ist es das russische Ziel, die Ukrainer stetig abzunützen in der Hoffnung, einen Dammbruch an einer günstigen Stelle der Front zu erzeugen.»
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Doch ist die militärische Lage für die Ukraine tatsächlich so hoffnungslos? So verfehlt rückblickend die Euphorie nach den Rückeroberungen von Cherson und Charkiw im Herbst 2022 war, so falsch könnte sich die aktuelle Schwarzmalerei herausstellen. Aus militärischer und politischer Sicht gibt es zumindest folgende fünf Punkte, die auf eine baldige Verbesserung der ukrainischen Position hindeuten:
Einkesselung verhindert
Obschon die Schlacht um Awdijiwka äusserst verlustreich verlief, ist es den Russen nicht gelungen, grössere ukrainische Einheiten einzukreisen. Auch Tage nach dem Fall sind keine Bilder bekannt geworden, welche die Gefangennahme einer grossen Anzahl ukrainischer Soldaten oder die Erbeutung grösserer Mengen an Kriegsmaterial durch die russische Armee zeigen.
Der Rückzug auf eine begradigte, verkürzte Frontlinie ermöglicht es den Ukrainern, den Abwehrkampf gegen die russischen Angriffswellen mit weiterhin weitgehend intakten Einheiten fortzuführen. Dieser spielt sich immer noch entlang der ersten und zweiten Stellungslinie der Ukrainer ab. In der Nacht auf Montag sollen die Ukrainer einen russischen Grossangriff in Richtung Saporischschja zurückgeschlagen haben, was den Angreifer wiederum hohe Verluste kostete.
Selbst wenn die russische Armee den Frontdurchbruch schaffen sollte, ist es fraglich, ob sie diesen zu weiträumigen Operationen im ukrainischen Hinterland nutzen könnte. Für diese Art der flexibel-mobilen Kriegsführung fehlen Russland inzwischen nicht nur die Panzerreserven, sondern auch die befähigten Offiziere und Elite-Soldaten, die längst gefallen sind. Schon nach der Eroberung von Bachmut im Mai 2023 gingen den Russen die Mittel zur kriegsentscheidenden Ausweitung ihres lokalen Siegs aus.
Weckruf an den Westen
Der Fall von Awdijiwka hat neben aller Niedergeschlagenheit auch teils entschlossene Reaktionen im Westen ausgelöst. Die Ankündigung der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen an der Münchner Sicherheitskonferenz, sämtliche Artilleriesysteme ihres Landes an die Ukraine abzugeben, dürfte eine Kettenreaktion ähnlicher Zusagen auslösen.
Frankreichs Verteidigungsminister Sébastien Lecornu versprach «innert weniger Wochen» die Lieferung einer neuen Generation von Kamikaze-Drohnen, welche den akuten Artillerie- und Munitionsmangel lindern könnte.
Aus den USA berichtete am Montagvormittag NBC News, die Regierung Biden tendiere endlich zur Lieferung weitreichender ATACMS-Boden-Boden-Raketen, nachdem bisher bloss die älteren Modelle mit mittlerer Reichweite in die Ukraine geschickt worden sind.
Bei einen Durchbruch im Streit um die im US-Kongress blockierten Hilfsgelder würden die ATACMS-Raketen und weitere Artilleriemunition zur ersten Liefertranche gehören, hiess es am Montag in Washington.
F-16 im Anflug
Laut übereinstimmenden Berichten von der Front waren die russische Luftüberlegenheit und die Bodenangriffe durch Jagdbomber und Kampfhubschrauber entscheidende Faktoren beim Sieg in Awdijiwka. Allerdings nicht ohne Folgen. Am Montagmorgen vermeldete die Ukraine den Abschuss von zwei weiteren modernen russischen Jets, was die russischen Flugzeugverluste auf sechs innert dreier Tage hochschraubte - eine bisher einmalige Abschussquote.
Neben der Verlegung von Luftabwehrsystemen weg von den Städten in Frontnähe steht auch die Verstärkung der ukrainischen Luftwaffe unmittelbar bevor. Im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz wurde die bisher mehrfach verzögerte Lieferung der ersten F-16-Jets per Anfang Juni angekündigt.
Bis zu 40 der mit modernen Lenkwaffen ausgerüsteten US-Jagdbomber könnten im zweiten Halbjahr eine Wende im Luftkrieg herbeiführen. Dies würde auch zur Entlastung der ukrainischen Bodentruppen führen.
Schläge gegen die Schwarzmeerflotte und Ölindustrie
Obschon die ukrainischen Niederlagen im Bodenkrieg derzeit die Nachrichten dominieren, kämpft die Ukraine an anderen Fronten durchaus erfolgreich. Nach der Versenkung des Landungsschiffs «Caesar Kunikow» vor Wochenfrist ist ein Drittel der russischen Schwarzmeerflotte zerstört oder ausser Gefecht gesetzt. Dies hat nicht nur weitreichende Auswirkungen auf die Seekriegsführung, sondern behindert auch den russischen Nachschub, analysiert der frühere Nato-Generalleutnant Mark Hertling auf CNN.
Konzentrierte Schläge gegen die russische Erdölproduktion, zuletzt mit Kamikaze-Drohnen auf ein Öllager in Kursk, zielen gleichzeitig auf die Behinderung der wichtigsten russischen Export- und Einnahmequelle ab - ein zentraler Aspekt in der strategischen Kriegsführung.
Kampf um die Existenz
Trotz der aktuell herrschenden Verzweiflung: Den meisten Ukrainern bleibt bewusst, dass Aufgeben schlicht keine Option ist, denn das Land kämpft um seine Existenz. Im Internet kursierende, jedoch unbestätigte Bilder von der Erschiessung ukrainischer Kriegsgefangener in Awdijiwka dürften diese Entschlossenheit zum Widerstand nur noch verstärken.
Im Gegensatz dazu sind angesichts der menschlichen Angriffswellen weder die russischen Kapazitäten noch deren Leidensfähigkeit unbegrenzt - selbst wenn es aktuell diesen Anschein erwecken könnte.
In Afghanistan führte die Sowjetunion von 1979 bis 1989 einen brutalen Interventionskrieg, der angesichts des Blutzolls fern der Heimat von russischen Soldaten und Familien zunehmend als sinnlos empfunden wurde. Nach Schätzungen starben in Afghanistan bis zu 25'000 sowjetische Soldaten.
Der in zehn Jahren ständig grösser werdende Überdruss und zivilgesellschaftliche Widerstand trugen massgeblich zum Auseinanderfallen des kommunistischen Systems bei. Nach zwei Jahren Krieg gegen die Ukraine beträgt der russische Blutzoll schon mindestens das Dreifache.