Es ist nicht nur, dass sie singt. Es ist, wie sie es tut. Die junge Ukrainerin ist gerade vom Aufheulen der Luftalarmsirenen überrascht worden. Doch anstatt vor den anfliegenden Raketen wegzurennen, stimmt sie mitten auf der Strasse mit ihrer Stimme ein. So ringt sie dem markerschütternden Warnsignal eine magische Harmonie ab.
Die Sängerin Diana Oganesyan ist 28 Jahre alt, laut eigenen Angaben armenisch-georgischer Abstammung und das neue Symbol der Widerstandskraft der von Terrorangriffen überzogenen Ukraine. Die im August entstandene Selfieaufnahme von ihrem nächtlichen Sirenengesang wurde in den vergangenen Tagen auf allen möglichen Kanälen millionenfach geteilt.
Allein auf Instagram hat sie dafür annäherend eine halbe Millionen Likes und weit über 6000, meist sehr mitfühlende Kommentare erhalten. «Das ist eine der stärksten Vorführungen von Menschlichkeit, die ich je erlebt habe. Das ist besser als alles, was Hollywood erfinden könnte», heisst es beispielsweise von einem Bewunderer.
Irgendwie hat es Diana Oganesyan geschafft, mit ihrem Sirenengesang die Ukrainerinnen und Ukrainer auf einer ganz besonderen Ebene anzusprechen. Dabei sei sie nur auf dem spätabendlichen Nachhauseweg von der Geburtstagsparty eines Freundes gewesen, erzählt sie dem öffentlichen US-Radio NPR: «Die Luftalarmsirenen überraschten mich mitten auf der Strasse, wo es keine Luftschutzbunker in der Nähe gab. Ich steckte irgendwie dort fest.»
Melancholydi, wie sie sich mit Künstlernamen nennt, möchte keineswegs als Heldin angesehen werden. Mit dem plötzlichen Ruhm konfrontiert, erscheint sie eher etwas eingeschüchtert. «Ich habe nicht erwartet, dass ich so viel Aufmerksamkeit erhalten würde.» Ebenso wenig könne sie über die Umstände glücklich sein. «Aber ich bin froh, dass meine Stimme und die Macht der sozialen Medien die Aufmerksamkeit auf den Krieg in der Ukraine lenken», erzählt sie im Interview.
Tatsächlich verlieren die meisten Einwohnerinnen und Einwohner von Kiew nicht gleich die Nerven, wenn nach über 930 Tagen Krieg und Hunderten von Luftangriffen in der Nacht die Alarmsirenen losheulen und die Alarmierungs-App auf dem Handy surrt. Viele reagieren situativ, ob sie die Luftschutzbunker aufsuchen wollen oder lieber schicksalsergeben das Ende der Bombardierungen im Bett abwarten.
Oganesyan erklärt den alltäglich gewordenen Umgang mit dem Krieg so: «Egal, was passiert, das Leben hat nie aufgehört. Unsere Leute sind so, dass sie Restaurants eröffnen, Festivals organisieren und Blumen rund um die Einschusslöcher auf Wänden malen.» Das bedeute nicht, dass es einfach sei; im Gegenteil, die allgemeine Lage habe sich verschlechtert. «Aber wir tun es trotzdem, weil wir Ukrainer sind.»
Man kann es ihr nicht verdenken, wenn die zuvor unbekannte Independent-Künstlerin die Gelegenheit ihres plötzlichen Ruhms ergreift, um ihre eigene Karriere voranzutreiben. Laut eines im Juni geführten Interviews mit der ukrainischen Radiostation Promin lebt sie derzeit in London, wo sie auftritt, aber sie reise viel umher. Daher kehre sie auch regelmässig in die Ukraine zurück.
Nach dem Kriegsausbruch 2014 in ihrer Heimatstadt Donezk zog sie nach Kiew um, «mit dem Traum, Musik zu machen». Als der russische Angriffskrieg begann, wechselte sie 2022 nochmals «notgedrungen» ihren Wohnort. Jetzt wirbt sie auf ihrem Instagram-Konto nicht nur für künstlerische Kooperationen und Auftrittsmöglichkeiten, sondern auch um Unterstützung für die Ukraine.
«Viele haben mir geschrieben, dass sich mein Gesang wie eine Filmmusik anhöre, dabei ist das unsere Realität», betont Oganesyan auf Instagram: «Wir werden weder die Welt vergessen lassen noch Russlands Verbrechen je verzeihen.»
Erinnert mich an Amal Mathlouthi.