Zögerliche oder gar ausbleibende Unterstützung aus dem Westen, ein erbarmungsloser Gegner, der auf viel grössere menschliche und materielle Ressourcen zurückgreifen kann und dadurch triste Perspektiven: Die Gründe für die sinkende Moral in der ukrainischen Armee sind so simpel wie logisch.
Ein Team des US-TV-Senders CNN sprach in der Ukraine mit mehreren Offizieren der Armee. Diese zeichnen teilweise ein verheerendes Bild von der Situation unter den eigenen Truppen. Einige der alarmierenden Aussagen in der Übersicht.
Dima – sein Name wurde geändert, weil er offiziell nicht mit Medien sprechen darf – verbrachte seit 2014 Jahre im umkämpften Gebiet im Donbass und seit 2022 auch an der Front in der Ostukraine. Er war Bataillonskommandant, befehligte 800 Soldaten und kämpfte in einigen der erbittertsten und blutigsten Schlachten des Krieges. Am Ende auch in der Nähe von Pokrowsk, wo die Ukrainer zuletzt massiv unter Druck gerieten. Immer wieder machen Berichte über russische Geländegewinne die Runde.
Die meisten seiner Soldaten sind inzwischen tot oder verletzt, wie Dima den US-Journalisten sagte. Sein Bataillon löste sich schleichend auf und verschwand. Dima hatte genug von dem Leid – und liess sich versetzen nach Kiew, wo er im Moment einen Bürojob in der Armee ausübt. Er sagt, er könne es einfach nicht mehr ertragen, seinen Männern beim Sterben zuzuschauen.
Er selbst will nach einer Verschnaufpause an die Front zurückkehren. Allerdings mit einem anderen Mindset:
Ein anderer Kommandant – er will ebenfalls anonym bleiben – erklärt, dass die militärische Strategie der ukrainischen Armee gar nicht mehr aufgehen könne. Weil der Wille zu kämpfen und sich zu opfern mittlerweile tief sei, würden viele Soldaten Befehlen nicht mehr Folge leisten. So zum Beispiel, wenn sie eine Position auf dem Schlachtfeld halten sollen.
Wenn neue Soldaten an die Front kämen, rückten sie einmal in die Stellungen vor. Überleben sie, würden sie sich weigern, erneut in den Kampf zu ziehen, so der Kommandant.
Das Problem sei unter anderem, dass sich mittlerweile viele Rekruten, die kämpfen sollen, nicht freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet hätten, sondern durch die neuen Mobilisierungsgesetze gezwungen worden seien. Das mache sich bei der Moral bemerkbar. Zu Beginn des Krieges meldeten sich viel mehr Freiwillige, die für die Freiheit der Ukraine kämpfen wollten – und nicht mussten.
Wie direkt die nach wie vor zögerliche Haltung einiger Akteure im Westen das Kriegsgeschehen beeinflusst, zeigt eine Aussage von Andrij Horetskyj, der als einer von wenigen mit dem eigenen Namen genannt wird. Horetskyj ist Offizier bei einer Artillerieeinheit bei Tschassiw Jar, einer kleinen, ebenfalls hart umkämpften Ortschaft zwischen Bachmut und Kramatorsk in der Oblast Donezk. Viel zu häufig fehle es seinen Soldaten an Munition, was zu deprimierenden Situationen führe, so Horetskyj:
Aufgrund solcher Situationen kämpften seine Soldaten auch mit Schuldgefühlen gegenüber den Infanterieeinheiten, die sich weiter vorne an der Front befinden, weil sie diesen nicht die Deckung geben könnten, die sie benötigen.
Einer, der direkt unter dem Munitionsmangel leidet, ist Serhij Tsehotskyj. Er ist Offizier bei einer motorisierten Infanteriebrigade. Das Ziel sei, die Soldaten an der Front alle drei oder vier Tage abzulösen und ihnen eine Pause zu geben.
Doch wegen der manchmal fehlenden Deckung durch Artillerieunterstützung und weil Russland mittlerweile viel mehr Drohnen im Einsatz habe, seien solche Ablösungen gefährlich. Die Konsequenz: Häufig müssen Infanteristen viel länger als vorgesehen in ihren Positionen ausharren. Tsehotskyj sagt:
Frustration und gefühlte Aussichtslosigkeit sind das Resultat solcher Monstereinsätze an der Frontlinie.
Nicht gerade mindernd bezüglich Aussichtslosigkeit wirkt sich die Gewissheit aus, dass auf der anderen Seite ein erbarmungsloser Gegner steht, der – verglichen mit der Ukraine – über schier unerschöpfliche Ressourcen an Menschen und Material verfügt. Ein Kommandant geht davon aus, dass auf einen ukrainischen Soldaten an der Front zehn russische kommen.
Seit sich diese Defizite verglichen mit den Russen im vergangenen Winter auf dem Schlachtfeld abzuzeichnen begannen, gibt es immer mehr ukrainische Soldaten, die desertieren. Die ukrainische Justiz leitete deshalb Tausende Strafverfahren ein. Doch das scheint kontraproduktiv.
Mehrere Offiziere gaben gegenüber den CNN-Journalisten an, dass sie Desertion und unerlaubte Frontabwesenheiten nicht mehr melden würden – stattdessen versuchen sie, ihre Männer vom freiwilligen Weiterkämpfen zu überzeugen, indem sie bei einer Rückkehr auf Strafen verzichten.
Andrij Horetskyj, der Artillerieoffizier, sagt:
Weil das scheinbar viele seiner Rangkollegen so sehen, sah sich auch die ukrainische Regierung gezwungen, eine Änderung vorzunehmen. Im August beschloss das ukrainische Parlament, Fahnenflucht zu entkriminalisieren. Horetskyj begrüsst den Entscheid.
Ob dies allerdings ausreicht, um die Moral in seiner Einheit und der ukrainischen Armee generell wieder zu heben, scheint fraglich.
Bin mir aber sicher, dass die Moral bei den Russen und deren Kanonenfutter noch viel mieser ist.
Der Westen muss eine Entscheidung treffen. Fluten sie die Ukraine mit modernen Waffen und vor allem mit Hunderttausenden Artilleriegranaten oder geben sie die Ukraine auf.
Putin hat das Rezept gefunden. Eine Artilleriewalze frisst sich vorwärts. Und zwar so lange, bis der Westen die Ukraine ausreichend ausrüstet.