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Offizier schlägt Alarm: Moral in der ukrainischen Armee sei am Ende

A soldier stands kneeling at the Independence square in Kyiv, Ukraine, Wednesday, May 1, 2024, surrounded by small national flags symbolising Ukrainian soldiers killed in the war with Russia. (AP Phot ...
Ein ukrainischer Soldat trauert auf einem Kiewer Friedhof um seine im Krieg getöteten Kameraden – jede kleine Flagge ist einer davon. Bild: keystone

Offiziere schlagen Alarm: Die Moral in der ukrainischen Armee sei am Ende

Aussagen von ukrainischen Kommandanten und Soldaten zeugen von einer dramatischen Situation in der Armee des Landes: Die Truppen kämpfen zweieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn mit Fahnenflucht und teils kaum mehr vorhandener Kampfmoral.
10.09.2024, 06:2210.09.2024, 16:31
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Zögerliche oder gar ausbleibende Unterstützung aus dem Westen, ein erbarmungsloser Gegner, der auf viel grössere menschliche und materielle Ressourcen zurückgreifen kann und dadurch triste Perspektiven: Die Gründe für die sinkende Moral in der ukrainischen Armee sind so simpel wie logisch.

Ein Team des US-TV-Senders CNN sprach in der Ukraine mit mehreren Offizieren der Armee. Diese zeichnen teilweise ein verheerendes Bild von der Situation unter den eigenen Truppen. Einige der alarmierenden Aussagen in der Übersicht.

800 Soldaten befehligt – die meisten sind tot oder verletzt

Dima – sein Name wurde geändert, weil er offiziell nicht mit Medien sprechen darf – verbrachte seit 2014 Jahre im umkämpften Gebiet im Donbass und seit 2022 auch an der Front in der Ostukraine. Er war Bataillonskommandant, befehligte 800 Soldaten und kämpfte in einigen der erbittertsten und blutigsten Schlachten des Krieges. Am Ende auch in der Nähe von Pokrowsk, wo die Ukrainer zuletzt massiv unter Druck gerieten. Immer wieder machen Berichte über russische Geländegewinne die Runde.

Die meisten seiner Soldaten sind inzwischen tot oder verletzt, wie Dima den US-Journalisten sagte. Sein Bataillon löste sich schleichend auf und verschwand. Dima hatte genug von dem Leid – und liess sich versetzen nach Kiew, wo er im Moment einen Bürojob in der Armee ausübt. Er sagt, er könne es einfach nicht mehr ertragen, seinen Männern beim Sterben zuzuschauen.

Er selbst will nach einer Verschnaufpause an die Front zurückkehren. Allerdings mit einem anderen Mindset:

«Ich habe jetzt die Entscheidung getroffen, dass ich mich nicht mehr emotional an Menschen binden werde. Das ist ein mieser Ansatz, aber der vernünftigste.»

«Nicht alle verlassen die Positionen, aber die Mehrheit tut es»

Ein anderer Kommandant – er will ebenfalls anonym bleiben – erklärt, dass die militärische Strategie der ukrainischen Armee gar nicht mehr aufgehen könne. Weil der Wille zu kämpfen und sich zu opfern mittlerweile tief sei, würden viele Soldaten Befehlen nicht mehr Folge leisten. So zum Beispiel, wenn sie eine Position auf dem Schlachtfeld halten sollen.

«Nicht alle mobilisierten Soldaten verlassen ihre Positionen, aber die Mehrheit tut es. Wenn neue Leute hierherkommen, sehen sie, wie schwierig es ist. Sie sehen zu viele feindliche Drohnen, Artillerie und Mörser.»

Wenn neue Soldaten an die Front kämen, rückten sie einmal in die Stellungen vor. Überleben sie, würden sie sich weigern, erneut in den Kampf zu ziehen, so der Kommandant.

Das Problem sei unter anderem, dass sich mittlerweile viele Rekruten, die kämpfen sollen, nicht freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet hätten, sondern durch die neuen Mobilisierungsgesetze gezwungen worden seien. Das mache sich bei der Moral bemerkbar. Zu Beginn des Krieges meldeten sich viel mehr Freiwillige, die für die Freiheit der Ukraine kämpfen wollten – und nicht mussten.

«Wenn sie nicht schiessen können, sind die Russen im Vorteil»

Wie direkt die nach wie vor zögerliche Haltung einiger Akteure im Westen das Kriegsgeschehen beeinflusst, zeigt eine Aussage von Andrij Horetskyj, der als einer von wenigen mit dem eigenen Namen genannt wird. Horetskyj ist Offizier bei einer Artillerieeinheit bei Tschassiw Jar, einer kleinen, ebenfalls hart umkämpften Ortschaft zwischen Bachmut und Kramatorsk in der Oblast Donezk. Viel zu häufig fehle es seinen Soldaten an Munition, was zu deprimierenden Situationen führe, so Horetskyj:

«Die Tage sind lang, sie (seine Soldaten, d. Red.) leben in einem Unterstand, sind rund um die Uhr im Dienst, und wenn sie nicht schiessen können, sind die Russen im Vorteil. Sie hören sie vorrücken und wissen, dass es nicht passiert wäre, wenn sie geschossen hätten.»

Aufgrund solcher Situationen kämpften seine Soldaten auch mit Schuldgefühlen gegenüber den Infanterieeinheiten, die sich weiter vorne an der Front befinden, weil sie diesen nicht die Deckung geben könnten, die sie benötigen.

Tschassiw Jar liegt unweit von Bachmut, wo eine der verheerendsten Schlachten des Krieges stattfand.

Soldaten müssen bis zu 20 Tage in Folge an der Front bleiben

Einer, der direkt unter dem Munitionsmangel leidet, ist Serhij Tsehotskyj. Er ist Offizier bei einer motorisierten Infanteriebrigade. Das Ziel sei, die Soldaten an der Front alle drei oder vier Tage abzulösen und ihnen eine Pause zu geben.

Doch wegen der manchmal fehlenden Deckung durch Artillerieunterstützung und weil Russland mittlerweile viel mehr Drohnen im Einsatz habe, seien solche Ablösungen gefährlich. Die Konsequenz: Häufig müssen Infanteristen viel länger als vorgesehen in ihren Positionen ausharren. Tsehotskyj sagt:

«Der Rekord liegt bei 20 Tagen.»

Frustration und gefühlte Aussichtslosigkeit sind das Resultat solcher Monstereinsätze an der Frontlinie.

Ukrainian soldiers, of 43rd artillery brigade, fire by 2s7 self-propelled howitzer towards Russian positions at the frontline in Donetsk region, Ukraine, Monday, June 24, 2024. (AP Photo/Evgeniy Malol ...
Ukrainische Soldaten einer Artilleriebrigade feuern auf russische Positionen – ihnen fehlt es häufig an Munition, worunter die Infanteristen direkt leiden.Bild: keystone

«Auf einen ukrainischen Soldaten kommen zehn Russen»

Nicht gerade mindernd bezüglich Aussichtslosigkeit wirkt sich die Gewissheit aus, dass auf der anderen Seite ein erbarmungsloser Gegner steht, der – verglichen mit der Ukraine – über schier unerschöpfliche Ressourcen an Menschen und Material verfügt. Ein Kommandant geht davon aus, dass auf einen ukrainischen Soldaten an der Front zehn russische kommen.

Seit sich diese Defizite verglichen mit den Russen im vergangenen Winter auf dem Schlachtfeld abzuzeichnen begannen, gibt es immer mehr ukrainische Soldaten, die desertieren. Die ukrainische Justiz leitete deshalb Tausende Strafverfahren ein. Doch das scheint kontraproduktiv.

Mehrere Offiziere gaben gegenüber den CNN-Journalisten an, dass sie Desertion und unerlaubte Frontabwesenheiten nicht mehr melden würden – stattdessen versuchen sie, ihre Männer vom freiwilligen Weiterkämpfen zu überzeugen, indem sie bei einer Rückkehr auf Strafen verzichten.

Andrij Horetskyj, der Artillerieoffizier, sagt:

«Drohungen machen die Dinge nur schlimmer. Ein kluger Kommandant wird Drohungen hinauszögern oder sogar ganz auf sie verzichten.»

Weil das scheinbar viele seiner Rangkollegen so sehen, sah sich auch die ukrainische Regierung gezwungen, eine Änderung vorzunehmen. Im August beschloss das ukrainische Parlament, Fahnenflucht zu entkriminalisieren. Horetskyj begrüsst den Entscheid.

Ob dies allerdings ausreicht, um die Moral in seiner Einheit und der ukrainischen Armee generell wieder zu heben, scheint fraglich.

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179 Kommentare
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BG1984
10.09.2024 06:49registriert August 2021
Verständlich, vorallem wenn es auch noch auf den Winter zugeht. Hoffe der Westen schickt ihnen alles Material und endlich auch genügend Munition, damit sie den Winter gut überstehen.

Bin mir aber sicher, dass die Moral bei den Russen und deren Kanonenfutter noch viel mieser ist.
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el_barto_tiburon
10.09.2024 06:46registriert Oktober 2015
Sehr bitter zu lesen… Ukraine könnte gewinnen, wenn der Westen endlich den Finger rausnehmen würde und liefern würde… vor allem auch erlauben würde Russland endlich anzugreifen, dort wo es schmerzt… ich meine was ist die Alternative? Das Putin bis nach Polen kommt? Und dann? … der macht einfach weiter, also gilt es ihn jetzt so gut wie möglich einzudämmen….
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N. Y. P.
10.09.2024 06:51registriert August 2018
Ein schlimmes Gefühl, wenn du vom Westen nur halbpatzig unterstützt wirst.

Der Westen muss eine Entscheidung treffen. Fluten sie die Ukraine mit modernen Waffen und vor allem mit Hunderttausenden Artilleriegranaten oder geben sie die Ukraine auf.

Putin hat das Rezept gefunden. Eine Artilleriewalze frisst sich vorwärts. Und zwar so lange, bis der Westen die Ukraine ausreichend ausrüstet.
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