Im Büro von Valentina Varava, dem Hauptquartier ihrer Organisation E+, hängen die Flaggen der Länder, aus denen bisher Unterstützung geflossen ist. Dänemark, Finnland, Frankreich, aber nicht die Schweiz. «Ich habe ein paar Stiftungen angeschrieben. Aber sie sagten, sie dürfen kein Kriegsmaterial finanzieren.»
Varava, 60-jährig und wie viele ihrer Landsleute nicht um den heissen Brei herumredend, schaut verständnislos in die Kamera:
Das stimmt – aber es ist eben auch richtig, dass E+ in erster Linie das ukrainische Militär beliefert. Varava und ihre Truppe besorgen für Einheiten Evakuationsfahrzeuge, die Verwundete zu den Lazaretten fahren. «Manchmal kaufen wir Ambulanzen, aber am beliebtesten sind Pickups mit Allrad-Antrieb, wegen des schwierigen Geländes», sagt Varava.
Von ihrem Hauptquartier in Kiew aus surfen Varava und die anderen Einkäuferinnen durch den europäischen Second-Hand-Automarkt, suchen Schnäppchen und bringen die Fahrzeuge in die Ukraine, wo sie sie, falls nötig, reparieren und dann der Truppe übergeben.
Varava zieht einen Ordner aus dem Gestell hinter ihr hervor und schlägt ihn auf. «Die Papiere sind in Ordnung, das ist alles legal», versichert sie. Dank Spenden aus der Ukraine und dem Ausland hat E+ bisher nach eigenen Angaben über 475 Fahrzeuge eingeführt. «Doch das ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt Varava. Denn:
Zwar kauft auch die ukrainische Armee Evakuationsfahrzeuge. Doch es sind zu wenige, und bis sie zu den Einheiten gelangen, dauert es oft eine halbe Ewigkeit. Denn um Ersatz für kaputtes Material zu beantragen, müssen die erschöpften ukrainische Frontsoldaten dutzende Formulare ausfüllen, um die Mühlen der Militärbürokratie in Bewegung zu setzen – egal ob es sich um einen Pick-up für 40’000 Franken oder eine Wundkompresse für 40 Franken handelt.
Korruption und lähmende Verwaltung: Beides hat die Ukraine den Russen zu verdanken, die das Land 1919, kaum hatte es sich aus dem Zarenreich gelöst, zurück in ihr Imperium zwangen, dessen Flagge nun Hammer und Sichel trug. Während Russland im Korruptionsranking von Transparency International kontinuierlich abschifft, (derzeit Platz 141), macht die Ukraine (Platz 104) jedes Jahr Boden gut. Einige Behörden haben inzwischen einen guten Ruf, etwa das westlich orientierte Gesundheitsministerium, das die verbreitete Heroinsucht mit Methadon-Abgaben bekämpft.
Im Verteidigungsministerium hingegen verschanzen sich nach wie vor viele Bürokraten alter Schule. Die Folge: Selbst wenn die Frontsoldaten den Papierkram erledigen, müssen sie sich danach bis zu einem halben Jahr gedulden, bis der Ersatz eintrifft. Der Verteidigungsminister – sein Vorgänger wurde wegen Korruption entlassen – hat im Oktober zwar Besserung gelobt, doch auch die lässt auf sich warten. Varava ärgert sich:
Also melden sich die Soldaten weiterhin lieber direkt bei ihr oder einer ihrer hunderten Kolleginnen und Kollegen, die mit einem alternativen und effizienteren Verteilsystem unkompliziert für Nachschub sorgen: das ukrainische Amazon, wie es eine Freiwillige treffend beschreibt.
Statt über Formulare funktioniert es über Messenger wie Signal oder Telegram, das die ukrainischen Soldaten lieber als Funk verwenden, weil die Russen sie nicht entschlüsseln können und so keine Positionen verraten werden. In Gruppenchats deponieren die Einheiten ihre Wunschzettel, und wenn eine Organisation Kapazität hat, meldet sie sich. Im Bereich der Gefechtsmedizin liefert dieses System Schätzungen zufolge 90 Prozent des Materials. «Hier kooperiert die Zivilgesellschaft nicht mehr mit dem Staat», sagt die Kiewer Politologin Katerina Zarembo. «Sie ersetzt ihn.»
Die Wurzeln des ukrainischen Amazons führen zum Kiewer Maidan-Platz. Hier verjagten im Winter 2014 Demonstranten den Autokraten und Putin-Freund Viktor Janukowitsch. Hier haben viele der ukrainischen NGOs ihren Ursprung, auch E+.
Valentina Varava pflegte in einem Lazarett im Keller einer lutheranischen Kirche Verwundete, die von Polizeikugeln getroffen wurden. «In den Spitälern verhaftete die Polizei Demonstranten, aber dahin getraute sie sich nicht», erinnert sie sich.
Kaum hatten die Demonstranten Janukowitsch vertrieben, fielen die Russen in den Donbass ein. Die ukrainische Armee, eine eingerostete Miniversion der Roten Armee, stand mit heruntergelassenen Hosen. Sprichwörtlich, denn den Soldaten fehlte es nicht nur an Schusswesten, sondern auch Uniformen und Socken.
Verbandsmaterial gab's sowieso kaum, denn in der Sowjetunion hatten Soldatenleben keine grosse Rolle gespielt. Valentina Varava und ihre Mitstreiterinnen begannen nun, Tragbahren, Wundkompressen und Evakuationsfahrzeuge im grossen Stil aufzutreiben.
Auch militärisch hatte die Ukraine Nachholbedarf: Im Donbass hatte ihre Armee, von Vetternwirtschaft zerfressen und von nach Handbuch operierenden Offizieren geführt, zu Beginn kaum eine Chance gegen die prorussischen Freischärler. Ein Mittel, das das Blatt immerhin halb zu wenden half, wurde von Maidan-Veteranen aus der Informatik und Filmbranche eingeführt: Drohnen zur Luftaufklärung.
Einige trainierten Soldaten darin, andere steuerten die Geräte selbst an vorderster Front. Doch ins offizielle Inventar der Einheiten wurden die Geräte nicht eingetragen – aus Angst, dass korrupte Offiziere sie verkaufen würden. «Auf dem Papier gab es Mörsereinheiten, die längst nur noch Drohnenaufklärung betrieben», erklärt Politologin Zarembo, die zum Thema forscht.
Die Folge war und ist bis heute eine Doppelbelastung der ukrainischen Freiwilligen. Sie ersetzen nicht nur mit Fronarbeit und Spendengeld den Staat, sondern müssen sich zugleich immer vor ihm fürchten, weil sie in ihm Kompetenzen streitig machen. «Freiwillige operieren oft im legalen Graubereich», sagt Zarembo.
2015 wollten einige von ihnen darum, das System zu ihren Gunsten zu verändern. Auf Einladung der neuen, demokratisch gewählten Regierung traten sie ins Verteidigungsministerium ein und versuchten, den Bereich umzukrempeln, den sie am besten kannten – und der am meisten im Argen lag: die Materialbeschaffung.
Sie errangen kleine Erfolge: bessere Verträge für Uniformen, Verpflegung und Motoröl, aber nur, weil die Ministeriumsleitung die Reformen nach unten durchdrückte. Das mittlere Kader, Beamte aus der Zeit der Autokratie oder sogar noch der Sowjetunion, sabotierte alle weiteren Versuche. Nach einigen Monaten schmiss die Truppe ausgebrannt den Bettel hin und verliess das Ministerium.
Der Schwung der ukrainischen Freiwilligenbewegung erlahmte genauso wie die Frontlinie im Donbass in einem Patt erstarrte. Bis die Russen im Februar 2022 auf Kiew stürmten. Innert Tagen nahmen die ukrainischen NGOs Millionen an Spendengeldern aus dem In- und Ausland ein und plünderten die internationalen Webshops für Drohnen und Gefechtsmedizin.
Die Nachfrage aus der Ukraine war so hoch, dass sie Trittbrettfahrer anlockte. Im Sommer 2022 – der gescheiterte Sturm der Russen auf Kiew war einem blutigen Artillerieduell im Süden und Osten gewichen – tauchten an der Front chinesische Tourniquets auf: billige Kopien amerikanischer Wundpressen, die oft brachen und gestillte Blutungen wieder zum Laufen brachten.
Bald stellte sich heraus, wer den Schrott in Umlauf gebracht hatte: das Armeekommando der Sanitätskräfte. Es ist die Institution, die die Kampfsanitäter der ukrainischen Armee ausbilden und ausrüsten sollte, es aber zu wenig tut. Zum einen, weil die Ukraine ihr knappes Geld für Waffen und Munition braucht. Zum anderen, weil in der Behörde der Geist der Sowjetunion nachhallt: Es gilt Dienst nach Vorschrift, und Fehler werden nicht zugegeben.
Die Behörde hatte bereits verhindert, dass neben Ärzten auch Sanitäter an der Front Verwundeten lebensrettende Bluttransfusionen geben dürfen, wie das die US-Armee längst praktiziert, und hatte Sanitätern, die es doch taten, mit Bestrafung gedroht. Nun stritt das Kommando ab, dass die Fake-Tourniquets von ihm kamen.
Als dies nicht mehr zu leugnen war, produzierte das Kommando ein bizarres Statement, demzufolge die Sanitäter der ukrainischen Armee zu «100 Prozent» ausgerüstet seien. Ein Affront für die Dutzenden NGOs, die die ukrainischen Sanitäter praktisch im Alleingang medizinisch versorgen.
Die NGOs antworteten mit einem wütenden Appell, mit dem sie von der Behörde verlangten, künftig Equipment zu kontrollieren, bevor sie es der Truppe ausgaben. Dutzende unterschrieben, Valentina Varava als Erste.
Im November zeigte der Druck Wirkung: Präsident Wolodymyr Selenskyj feuerte die Leiterin des Kommandos der Sanitätskräfte, per Videobotschaft bedankte er sich bei der Arbeit der Freiwilligen.
Der Nachfolger der Kommandeurin ist ein Ex-Spitaldirektor. Auch er entstammt also den unergründlichen Tiefen der ukrainischen Verwaltung. Doch Valentina Varava will ihm eine Chance geben: «Wir warten jetzt mal ab, dann sehen wir weiter.»
Zeit für etwas anderes hat Varava, die zehn bis zwölf Stunden pro Tag arbeitet, sowieso nicht. Denn es steht schon das nächste Scharmützel gegen die ukrainische Bürokratie an, diesmal gegen das Ministerium für Soziales. Es hat im Dezember, womöglich in guter Absicht, ein Antikorruptionsgesetz erlassen, das NGOs in etwa denselben Papierkrieg aufbürdet wie den Frontsoldaten, wenn sie zerstörtes Equipment ersetzen wollen.
Seit der russischen Invasion war eine Sonderregelung in Kraft, die NGOs bei der Einfuhr kriegswichtiger Güter jede Formalität erliess. So konnten die ukrainischen Truppen schnell mit genügend Tourniquets und Drohnen versorgt werden.
Doch neu müssen Freiwillige selbst für Kleinlieferungen Tourniquets angeben, was sie kosten, was sie wiegen, wer sie angefordert hat und wer sie bekommt. Valentina Varava hält den Ordner noch einmal in die Kamera und schimpft:
Wieder haben sie und ihre Mitstreiterinnen protestiert, Mails geschrieben und im Ministerium angerufen, es hat Gespräche und runde Tische gegeben.
Resilienz, sagt Katerina Zarembo, die Politologin, sei eine Ressource, aber eine endliche. Eigentlich müsste die Zivilgesellschaft den Staat reformieren. Doch im Krieg bleibt keine Luft dafür. «Ist man als Freiwilliger vor die Wahl gestellt, gegen die Bürokraten zu kämpfen oder Tourniquets zu besorgen, tut man das zweite», sagt sie.
Trotzdem ist Zarembo optimistisch, dass sich nach dem Krieg der Druck auf die Regierung erhöhen wird. «Es werden so viele Leute in der Armee gedient und ihre Mängel gesehen haben, dass sie Reformen fordern.»
Valentina Varava hat sich inzwischen mit dem neuen Einfuhrregime arrangiert – dank des Druckes der Freiwilligen werde es nun weniger streng umgesetzt als geplant, sagt sie. Im Dezember war sie an der Grenze, um ihre Fahrer und andere Organisationen zu instruieren.
«Es bedeutet immer noch mehr Aufwand und sorgt kaum für weniger Korruption, weil die weitere Verteilung der Ware nicht überwacht wird», sagt Varava und zuckt die Schultern. Doch für sie gibt es Wichtigeres zu tun: Pick-ups zu kaufen und zur Front zu bringen. Denn erst muss ein Krieg gewonnen werden.
Falls jemand noch zweifel hatte, dass Telegram hintertürchen an die Russen gegeben hat, weil die Gründer aus Russland kamen.
Dass Telegram und Signal favorisiert sind, ist DIE beste Werbung für diese beiden Messenger.