24. Februar 2022: Russland marschiert in der Ukraine ein. Nach kurzer Zeit erreichen die ersten gepanzerten Fahrzeuge der russischen Invasionsarmee das Herz von Tschernobyl. Sie stossen auf eine ukrainische Einheit, die mit der Verteidigung des berüchtigten Kernkraftwerks beauftragt ist.
Innerhalb von zwei Stunden legen die 169 Mitglieder der ukrainischen Nationalgarde kampflos ihre Waffen nieder.
Russland hat Tschernobyl, ein Lager mit tonnenweise Nuklearmaterial und einen wichtigen Zwischenstopp bei der Annäherung an Kiew eingenommen.
Wie konnte das so schnell passieren?
Lange bevor Russland in die Ukraine einmarschierte, baute der Kreml ein Netzwerk von Geheimagenten auf, um ihm den Weg zu ebnen. Eine Untersuchung der Nachrichtenagentur Reuters zeigt nun, dass die Infiltration weit tiefer ging, als bisher bekannt war.
Der Fall von Tschernobyl, Schauplatz der schlimmsten Nuklearkatastrophe der Welt, sticht als Anomalie in dem fünf Monate alten Krieg hervor: Eine erfolgreiche Blitzkriegsoperation in einem Konflikt, der anderswo durch einen brutalen und zögernden Vormarsch russischer Truppen und einen erbitterten Widerstand der Ukraine gekennzeichnet ist.
Die Reuters-Recherche hat ergeben, dass Russlands Erfolg bei Tschernobyl kein Zufall war, sondern Teil einer langjährigen Kreml-Operation, um den ukrainischen Staat mit Geheimagenten zu infiltrieren.
Durch Interviews mit Dutzenden von Beamten in Russland und der Ukraine und eine Überprüfung ukrainischer Gerichtsdokumente haben die Journalisten festgestellt, dass diese Infiltration weit tiefer reichte, als bislang öffentlich geglaubt wurde. Zu den befragten Beamten gehören Personen in Russland, die über Moskaus Invasionsplanung informiert wurden, und ukrainische Ermittler, die mit der Verfolgung von Spionen beauftragt sind.
«Ausser dem äusseren Feind haben wir leider einen inneren Feind, und dieser Feind ist nicht weniger gefährlich», sagte der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksiy Danilov, in einem der Interviews. Zum Zeitpunkt der Invasion, sagte Danilov, hatte Russland Agenten im ukrainischen Verteidigungs-, Sicherheits- und Strafverfolgungssektor.
Fünf Personen mit Kenntnis der Vorbereitungen des Kremls sagten, Kriegsplaner um Präsident Wladimir Putin glaubten, dass Russland mit der Unterstützung dieser Agenten nur eine kleine Streitmacht und wenige Tage benötigen würde, um die Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum Rücktritt, zur Flucht oder zur Kapitulation zu zwingen.
Das Kernkraftwerk Tschernobyl liegt nur 10 Kilometer entfernt von der Grenze zu Belarus in einem dichten und stark verstrahlten Wald. Russlands Kriegsplaner hielten die Kontrolle über Tschernobyl für strategisch wichtig, weil es laut westlichen Militäranalysten auf dem kürzesten Weg für ihren Vormarsch auf Kiew lag.
Die Quelle mit direkter Kenntnis des Invasionsplans sagte, dass Russland im November 2021 damit begann, verdeckte Geheimdienstagenten in die Ukraine zu entsenden, die damit beauftragt wurden, Kontakte zu Beamten herzustellen, die für die Sicherung des Kraftwerks Tschernobyl verantwortlich sind und diese zu bestechen. Das Ziel der Agenten war es, sicherzustellen, dass es keinen bewaffneten Widerstand geben würde, sobald die russischen Truppen einrollten.
Für Russlands Kriegsplaner war die Eroberung von Tschernobyl nur ein Sprungbrett zum Hauptziel: die Übernahme der Kontrolle über die ukrainische Nationalregierung in Kiew. Auch dort erwartete der Kreml, dass verdeckte Ermittler in Machtpositionen eine entscheidende Rolle spielen würden.
Yuriy Lutsenko, der von 2016 bis 2019 als Generalstaatsanwalt der Ukraine fungierte, gab gegenüber Medien bekannt, dass zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Amt «Hunderte» von Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums von seinem Büro genehmigt unter Beobachtung standen, weil sie verdächtigt wurden, Verbindungen zu den Russen zu haben. Lutsenko sagte, er glaube, dass es in anderen Ministerien eine ähnliche Anzahl mutmasslicher Spione gebe.
Doch der Plan, die Macht in Kiew zu übernehmen, scheiterte. Laut mehreren Quellen in Russland und der Ukraine sollen die von Moskau installierten Schläferagenten in vielen Fällen ihre Aufgabe nicht erfüllt haben. Der Sekretär des Sicherheitsrates der Ukraine, Oleksiy Danilov, sagte, die Agenten und ihre Handlanger glaubten, die Ukraine sei schwach, was «ein schwerwiegender Irrtum» sei.
Menschen, auf die sich der Kreml als seine Stellvertreter in der Ukraine verlassen habe, hätten ihren Einfluss in den Jahren vor der Invasion überbewertet, sagten vier der Quellen, die in Putins Pläne eingeweiht waren. Der Kreml setze bei seiner Planung auf «Clowns – die wissen ein bisschen, aber sie sagen immer, was die Führung hören will, weil sie sonst nicht bezahlt werden», führte einer der vier, ein Vertrauter der separatistischen Führung in der Ostukraine, weiter aus.
Besonders brisant ist die Rolle des ehemaligen Sicherheitschefs von Tschernobyl, Valentin Viter, wie Gerichtsdokumente und Zeugenaussagen enthüllen.
Viter wurde in der Westukraine festgenommen und sitzt dort nun wegen des Verdachts der Abwesenheit von seinem Posten sowie Hochverrats in Untersuchungshaft. Sein Anwalt nennt die Anschuldigungen unbegründet.
In einer Erklärung gegenüber den Ermittlern sagte Viter, dass er am Tag der Invasion telefonisch mit dem Kommandeur der Einheit der Nationalgarde gesprochen habe. Viter riet dem Kommandanten, seine Einheit nicht zu gefährden, und sagte zu ihm: «Verschone deine Leute.»
Das staatliche Ermittlungsbüro der Ukraine führt nun eine Untersuchung durch, ob die Nationalgarde rechtswidrig gehandelt hat, indem sie ihre Waffen an einen Feind abgegeben hat, bestätigt ein lokaler Beamter. Die Nationalgarde verteidigte die Aktionen ihrer Einheit in der Anlage und wies auf die Konfliktrisiken an einem Nuklearstandort hin.
Eine Quelle mit direkter Kenntnis der Invasionspläne des Kremls teilte den Journalisten mit, dass russische Agenten letztes Jahr nach Tschernobyl entsandt wurden, um Beamte zu bestechen und den Boden für eine gewaltlose Übernahme vorzubereiten. Diese Behauptung konnte nicht unabhängig überprüft werden.
Das Ausmass, in dem Russland Tschernobyl infiltriert hat, hat die Aufmerksamkeit der ukrainischen Behörden auf die SBU gelenkt, die Agentur, für die Viter arbeitete. Insbesondere die Militärstaatsanwälte in Viters Fall sind an seiner Verbindung zu einem ehemaligen ukrainischen Beamten namens Andriy Naumov interessiert.
Gegen den ehemaligen hochrangigen Geheimdienstbeamten wird ebenso wegen des Verdachts des Hochverrats ermittelt, wie das staatliche Ermittlungsbüro der Ukraine erklärt. Er soll Sicherheitsgeheimnisse von Tschernobyl an einen ausländischen Staat weitergegeben haben. Ein Anwalt von Naumov lehnte eine Stellungnahme ab.
Naumov war zuvor Beamter der ukrainischen Staatsanwaltschaft und wurde 2018 zum Leiter von COTIZ ernannt, einem staatlichen Unternehmen, das für die Immobilienverwaltung der radioaktiven Sperrzone um Tschernobyl verantwortlich ist. Ein grosser Teil der Rolle von COTIZ bestand darin, den «Extremtourismus» in der Sperrzone zu fördern, aber das Unternehmen spielte laut seiner Website auch eine Rolle bei der Sicherheit des Standorts.
Nach seiner Tätigkeit in Tschernobyl wurde Naumov zum Leiter der Abteilung für innere Sicherheit des SBU ernannt, einer Abteilung, die gegen andere Beamte ermittelt, die krimineller Aktivitäten verdächtigt werden. Letztes Jahr sagte die Agentur, sie habe einen Attentatsversuch anderer SBU-Offiziere auf Naumov vereitelt. Laut dem ukrainischen Medienunternehmen Ukrainska Pravda und einer Quelle der Strafverfolgungsbehörden wurde Naumov später als Abteilungsleiter entlassen.
Naumov verschwand kurz vor der Invasion, sagte eine Person in der Strafverfolgung. Im Juni tauchte er schliesslich in Serbien auf. In einer Erklärung der serbischen Polizei vom 8. Juni heisst es, Polizei und Anti-Korruptions-Agenten hätten einen ukrainischen Staatsbürger festgenommen, der mit den Initialen «A.N.» identifiziert wurde. Er hatte versucht, von Serbien nach Nordmazedonien einzureisen. Bei einer Durchsuchung des BMW, in dem er sass, wurden 124'924 Dollar und 607'990 Euro in bar sowie zwei Smaragde gefunden, heisst es in der Erklärung.
Die Person und der namenlose Fahrer des BMW, der ebenfalls festgenommen wurde, seien verdächtigt worden, Bargeld und Smaragde waschen zu wollen, von denen die Polizei glaubt, dass sie aus kriminellen Aktivitäten stammen. Volodymyr Tolkach, Botschafter der Ukraine in Serbien, bestätigte öffentlich, dass es sich bei dem festgenommenen Mann um Naumov handelte.
Am 31. März erliess Präsident Selenskyj ein Dekret, mit dem Naumov der Rang eines Brigadegenerals entzogen wurde. Am selben Tag gab der ukrainische Präsident in einer emotionalen Ansprache bekannt, dass Naumov und ein weiterer SBU-General «Verräter» seien, die ihren Treueid gegenüber der Ukraine gebrochen hätten. Selenskyj erwähnte Tschernobyl nicht. Naumov befindet sich weiterhin in Serbien in Haft.
Moskaus Spionageapparat ist seit Jahrzehnten mit Tschernobyl verflochten. Nach der Katastrophe von 1986, als ein Reaktor explodierte und radioaktive Wolken über ganz Europa verteilte, schritt der sowjetische KGB ein. Mehr als 1000 KGB-Mitarbeiter nahmen an den Aufräumarbeiten teil.
Der damalige KGB-Chef Viktor Chebrikov befahl seinen Offizieren, Agenten unter den Mitarbeitern des Werks zu rekrutieren, und wies an, dass ein KGB-Offizier den Posten des stellvertretenden Chefs des Werks mit Sicherheitsverantwortung bekleiden sollte, heisst es in einem Memo – einer internen KGB-Mitteilung aus dem Jahr 1986.
Geheimdienstoffiziere, die in Tschernobyl arbeiteten, wurden 1991 offiziell Teil des ukrainischen Sicherheitsapparates, aber sie nahmen weiterhin Befehle aus Moskau entgegen, sagte die Person mit direkter Kenntnis des Invasionsplans. «In der Tat waren dies FSB-Mitarbeiter», also Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes, sagte die Person.
Ein krasser Vorfall, der die Spannungen in Kiews Machtkorridoren anheizte, bezog sich auf den Tod von Denis Kiriejew, einem ehemaligen Bankdirektor. Er war Mitglied der ukrainischen Delegation, die ab dem 28. Februar an kurzlebigen Gesprächen mit russischen Unterhändlern an der ukrainisch-belarussischen Grenze teilnahm. Ein Foto zeigte Kiriejew, wie er neben ukrainischen Beamten am Verhandlungstisch sass.
⚡️Denis Kiriev was killed, who was a member of the Ukrainian delegation negotiating with Russia by the Ukrainian National Security Service when trying to arrest him on charges of treason - Ukrainian media. pic.twitter.com/UAFj7asSWf pic.twitter.com/VuZSmiBkb1
— HoseinMortada-English (@HoseinMortada1) March 5, 2022
Ein Berater der Selenskyj-Regierung sagte in einem Online-Interview, dass Beamte des SBU Kiriejew erschossen hätten, als sie versuchten, ihn als russischen Spion zu verhaften.
Der Militärgeheimdienst der Ukraine sagte jedoch, Kiriejew sei sein Angestellter und Geheimdienstoffizier und er sei als Held gestorben, als er einen nicht näher bezeichneten Sonderauftrag zur Verteidigung der Ukraine ausführte. Eine dem ukrainischen Militär nahestehende Quelle sagte gegenüber Reuters, Kiriejew sei tatsächlich ein Spion, der für die Ukraine arbeite. Er hatte Zugang zu den höchsten Ebenen der russischen Führung, sagte diese Quelle, und gab wertvolle Informationen über Invasionspläne und andere Angelegenheiten an seine Vorgesetzten in Kiew weiter.
Kiriejews Beispiel zeigt anschaulich, dass die russische Geheimdienstinfiltration doch auf eine Weise erfolgreich war: Sie hat Misstrauen in der Ukraine gesät und die Mängel des fast 30'000 Mann starken ukrainischen Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) offengelegt. Der SBU teilt eine komplizierte Geschichte mit Russland und ist nun damit beauftragt, Verräter und Russen-Kollaborateure zu jagen.
Diese internen Unruhen brachen am 17. Juli teilweise ins Blickfeld. In einer Videoansprache an die Nation suspendierte Präsident Selenskyj den Geheimdienst-Chef Ivan Bakanow, den er seit Jahren kennt, unter Berufung auf die grosse Zahl von Geheimdienst-Mitarbeitern, die des Hochverrats verdächtigt werden. Quellen aus ukrainischen Strafverfolgungsbehörden sagten, dass einige Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes im Gespräch mit ihnen berichteten, dass sie Bakanow mehrere Tage lang nach dem Einmarsch Russlands nicht erreichen konnten, was zu einem Gefühl des Chaos in Kiew beitrug.
Selenskyj sagte auch, dass 651 Fälle von mutmasslichem Verrat und Kollaboration gegen Personen eröffnet wurden, die an der Strafverfolgung und in der Staatsanwaltschaft beteiligt sind. Mehr als 60 Beamte des Geheimdienstes und der Generalstaatsanwaltschaft arbeiten in den von Russland besetzten Gebieten gegen die Ukraine, fügte Selenskyj hinzu. Weder offizielle ukrainische noch russische Stellen wollten sich zu der Causa äussern.
(bal)
Der Plan war dilletantisch. Die eigenen Leute radioaktiv verstrahlen lassen zeigt wie wenig der Mensch im heutigen Russland wert ist.
Kann mal einer Bruce Willis und Chuck Norris anrufen? Die sollen da mal aufräumen.