Ein halbes Jahr nach dem Eindringen russischer Truppen in den Süden der Ukraine hat die ukrainische Armee eine Gegenoffensive begonnen. Die äusserste Verteidigungslinie der Russen im Gebiet Cherson sei an mehreren Stellen durchbrochen worden, teilte das ukrainische Militär mit.
Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am Montagabend nur in Andeutungen über die Offensive. Niemand, der sich verantwortlich verhalte, werde im Krieg etwas zu seinen Plänen sagen. «Aber die Besatzer sollen es wissen: Wir treiben sie über die Grenze. Über unsere Grenze, an der sich nichts geändert hat.» Wenn die russischen Soldaten überleben wollten, sei es «jetzt Zeit, nach Hause zu gehen.»
Die US-Regierung wollte sich nicht im Detail äussern. Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, verwies aber darauf, dass die Ukraine die Gegenoffensive lange angekündigt und vorbereitet habe. Schon damit habe sie Russland gezwungen, Truppen aus dem umkämpften Donbass nach Süden abzuziehen.
In Kiew wurden dem Aussenministerium zufolge die Experten der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA erwartet. Sie sollen das russisch besetzte Kernkraftwerk Saporischschja inspizieren.
Für die Ukraine ist Dienstag der 188. Tag ihres Abwehrkampfes gegen die russische Invasion.
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Die Grossstadt Cherson auf dem rechten Ufer des Stroms Dnipro war gleich zu Beginn der Invasion im Februar von russischen Truppen erobert worden, die von der Halbinsel Krim vorstiessen. Selenskyj und seine Militärführung sprechen seit Juni über einen Angriff im Süden. Politisch steht die Ukraine unter Zeitdruck, weil Russland sich die eroberten Gebiete einverleiben will und mutmasslich für September Volksabstimmungen darüber vorbereitet.
Allerdings gab es bis Dienstag kaum gesicherte Details zu der Offensive. Wie die Südgruppe der ukrainischen Armee mitteilte, seien Einheiten der Donezker Separatisten und russischer Marineinfanterie zum Rückzug gezwungen worden. Genauere Ortsangaben wurden nicht gemacht. Der US-Sender CNN berichtete unter Berufung auf ukrainische Militärquellen, vier Dörfer bei Cherson, darunter Prawdyne, seien erobert worden. Die Angaben waren zunächst nicht überprüfbar.
Nach russischen Angaben wurden die beiden Übergänge über den Dnipro bei Antoniwka und Nowa Kachowska erneut beschossen. Mit solchen Angriffen versucht die ukrainische Armee seit geraumer Zeit, den grossen russischen Brückenkopf auf dem rechten Dnipro-Ufer vom Nachschub abzuschneiden. Explosionen wurden auch aus Cherson selbst und der ebenfalls russisch besetzten Stadt Melitopol gemeldet.
Ukrainische Behörden forderten die Menschen auf, die besetzten Gebiete möglichst zu verlassen. Falls dies nicht möglich sei, sollten sie sich mit Lebensmittel und Wasser eindecken und Schutz in festen Gebäuden suchen. Im Zentrum der ukrainisch kontrollierten Stadt Mykolajiw kamen nach Behördenangaben durch russischen Beschuss zwei Menschen ums Leben, 24 Menschen wurden verletzt.
Das Verteidigungsministerium in Moskau bestätigte ukrainische Angriffe in den Gebieten Cherson und Mykolajiw, behauptete aber, sie seien «jämmerlich gescheitert». Die ukrainische Armee habe schwere Verluste an Soldaten und Technik erlitten. Belege dafür gab es nicht. Für Nervosität auf russischer Seite sprachen Äusserungen aus den Besatzungsverwaltungen, die versicherten, dass gar nichts geschehe. Die angebliche Offensive sei «wie üblich ein Fake der ukrainischen Propaganda», sagte der Verwaltungschef der Krim, Sergej Aksjonow.
Der russische Nationalist und frühere separatistische Feldkommandeur Igor Girkin bestätigte auf Telegram die Angriffe. Sie seien bislang aber nur als Demonstration gedacht, die Ukraine setze ihre Hauptkräfte noch nicht ein. Zu einem ähnlichen Schluss kamen auch Pentagon-Vertreter, die laut CNN vom «Abtasten» der Front sprachen.
Ein zu Russland übergelaufener ukrainischer Abgeordneter wurde im Gebiet Cherson ermordet. Der Parlamentarier Olexij Kowaljow (33) sei vorläufigen Erkenntnissen zufolge in seinem Haus erschossen worden, teilten russische Strafermittlungsbehörden mit. Auch seine Freundin sei dem Anschlag zum Opfer gefallen. Kowaljow hatte im Juni bereits einen Sprengstoffanschlag überlebt. In der Besatzungsbehörde von Cherson amtierte er als Vizegebietschef und Landwirtschaftsminister.
Nach dem wochenlangen Tauziehen um die IAEA-Mission zum Kernkraftwerk Saporischschja brachen die Experten von Wien auf und wurden zunächst in Kiew erwartet, wie das ukrainische Aussenministerium am Montag mitteilte. Das Gelände um das grösste AKW ist in den vergangenen Wochen immer wieder beschossen worden, wofür die russische und die ukrainische Seite sich gegenseitig verantwortlich machen.
«Wir freuen uns, dass das Team auf dem Weg ist, um die Sicherheit und den Schutz der dortigen Systeme zu überprüfen und die Arbeitsbedingungen des Personals zu evaluieren», sagte der Sprecher des US-Sicherheitsrates, Kirby, in Washington. Er plädierte erneut dafür, eine entmilitarisierte Zone rund um das Kraftwerk einzurichten. Das fordert auch die Ukraine, Russland lehnt dies ab.
Die EU-Verteidigungsminister wollen am Dienstag bei einem informellen Treffen in Prag über den Krieg in der Ukraine und die weitere Unterstützung der Streitkräfte des Landes beraten. Auch soll es um Investitionslücken der EU im Verteidigungsbereich gehen. Auch die Aussenminister der EU beginnen am Dienstag in der tschechischen Hauptstadt ein Treffen. Für Mittwoch stehen der Krieg und mögliche Einreisebeschränkungen für Russen in die EU auf der Tagesordnung. (sda/dpa)