Kurz nachdem ihn US-Präsident Donald Trump am Mittwoch wüst attackiert und einen «Diktator» geschimpft hatte, liess der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj die Drähte heisslaufen: Noch am selben Abend rief er den Nato-Generalsekretär Mark Rutte, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron sowie den britischen Premier Keir Starmer an. In seiner täglichen Ansprache an die ukrainische Bevölkerung verzichtete Selenskyj dann darauf, auf Trumps Attacke nochmals einzugehen. Er hatte seine Lektion gelernt: Trump hat offenbar eine äusserst kurze Zündschnur. Man widerspricht ihm besser nicht.
Über sein anstehendes Treffen mit dem US-Sondergesandten Keith Kellogg sagte Selenskyj, es sei für ihn «entscheidend, dass die Diskussion konstruktiv bleibt». Die Ukraine habe diesen Krieg «seit der ersten Sekunde beenden wollen», hielt er fest.
Dass Selenskyj die Nähe von Macron und Starmer sucht, kommt nicht von ungefähr. Die beiden bilden den Kern einer neuen «Koalition der Willigen» in Europa, die ihre Konturen erstmals beim Notfallgipfel vom Montag in Paris zeigte. Der Unterschied zur EU ist, dass die russlandfreundlichen Länder Ungarn oder die Slowakei nicht dabei sind, dafür aber Nicht-EU-Staaten wie Grossbritannien, Kanada und Norwegen.
Macron und Starmer reisen kommende Woche zu Trump nach Washington. Erwartet wird, dass sie dem US-Präsidenten erklären, welche Ideen sie für eine europäische Friedenstruppe zur Absicherung eines Waffenstillstands haben.
Demnach könnten die Europäer 30'000 Soldaten in die Ukraine schicken. Diese würden nicht direkt an der rund 1300 Kilometer langen Frontlinie eingesetzt werden, sondern ihre Aufgaben würden sich auf den Schutz von Städten sowie kritischer Infrastruktur wie Häfen oder Atomkraftwerken konzentrieren, berichten britische Medien.
Hauptbestandteil der Mission wären demnach nicht die Bodentruppen, sondern die Verlegung einer grösseren Zahl westlicher Kampfjets in die Ukraine. Sie sollten einen «Luftpolizeidienst» durchführen. Die Pläne sind noch im Entwurfsstatus. Denkbar wäre auch, dass westliche Jets im grenznahen Ausland, zum Beispiel in Polen, stationiert würden. Die «Financial Times» schreibt, die von Grossbritannien und Frankreich im Jahr 2010 gemeinsam gegründete weltweite Eingreiftruppe «Combined Joint Expeditionary Force» könnte das Kommando übernehmen.
Unverzichtbar für London wäre aber eine Art Sicherheitsgarantie für die europäischen Kräfte durch die USA. Das hatte Starmer schon klargemacht.
Ungewiss ist, wer sich am Schluss tatsächlich mit wie vielen Truppen beteiligen würde. Polen sagte schon vor dem Gipfel in Paris, es habe selbst eine Grenze zu Russland und Weissrussland zu schützen und daher keine Kapazitäten. In Deutschland sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, es sei eine «irritierende» Diskussion «zum falschen Zeitpunkt». Kompliziert wird es für Berlin auch, weil ein Auslandseinsatz der Bundeswehr vom Parlament abgesegnet werden muss.
Ebenso unklar wären auch die Parameter einer Mission: Würden die Friedenskräfte ein robustes Mandat erhalten, welches die Durchsetzung des Waffenstillstands beinhaltet? Oder wären sie bloss «Beobachter»?
Während Macron und Starmer nach Washington reisen, fahren EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Antonio Costa in die andere Richtung: Zum dritten Jahrestag des russischen Überfalls am kommenden Montag wollen sie in Kiew sein.
Es ist schwer vorstellbar, dass die beiden EU-Spitzen mit leeren Händen kommen. Spekuliert wird, dass sie mit einem neuen, massiven Hilfspaket im Gepäck anreisen könnten. Es würde sowohl Hilfen für die Ukraine beinhalten als auch die Aufrüstung in Europa finanzieren.
Ein solches Paket würde mutmasslich mehrere hundert Milliarden Euro schwer sein, vergleichbar mit dem historischen 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds.
Die Nachrichtenagentur Bloomberg schreibt, ein Verteidigungspaket werde bereits geschnürt. Der Grund, weshalb es noch nicht angekündigt wurde, sei einfach: Man wolle die deutschen Wahlen nicht beeinflussen. Diese finden am Sonntag statt. (aargauerzeitung.ch/lyn)