Ohne (tote) Tiere keine Medikamente – bei der Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln sind Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben. Zumindest in den meisten Teilen der Welt.
So auch in der Schweiz. 2021 sind hierzulande mehr als 570'000 Tiere zu Versuchszwecken eingesetzt worden, hauptsächlich für die Erforschung von Krankheiten beim Menschen. Wie viele der Tiere getötet wurden – und wie viele beispielsweise mit einer amputierten Extremität weiterleben, ist nicht bekannt.
Immer wieder steht die Frage im Raum: Geht die Forschung auch ohne Leid? Zwischen Wissenschaftlern herrscht in dieser Frage keine Einigkeit. Umstritten ist nicht nur der ethische Aspekt, sondern auch die Effizienz, denn biologische Strukturen und Prozesse von Tieren und Menschen können nicht immer miteinander verglichen werden. Sprich: Wenn ein Medikament im Tiermodell glückt, bedeutet dies nicht, dass es beim Menschen denselben Effekt erzielt.
Alternativmethoden könnten hier Abhilfe schaffen. In den USA will man sich nun langsam an modernere Entwicklungsmöglichkeiten herantasten. US-Präsident Joe Biden hat die seit 1938 bestehende Tierversuchspflicht bei der Arzneimittelentwicklung verabschiedet: Tierversuche sind weiterhin erlaubt, aber nicht mehr gesetzlich vorgeschrieben.
Der Verein Ärzte gegen Tierversuche feiert die Gesetzesänderung als «einzigartigen Erfolg». Doch wie können Medikamente denn nun erforscht werden? Und wie stehen die Chancen auf einen Wandel?
Neben den üblichen Tierversuchen dürfen in den USA künftig bei der Arzneimittelforschung auch modernere Methoden angewandt werden. Die Alternativen würden «streng geprüft, vollständig validiert und auf den besten wissenschaftlichen Grundlagen beruhen», sagt Namandjé Bumpus, leitende Wissenschaftlerin bei der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA). Zu den möglichen Technologien zählen:
Humaninduzierte pluripotente Stammzellen (kurz hiPsCs) entstehen im Labor. Gewebezellen der Haut dienen dazu als Ausgangsmaterial. Die induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) können sich in alle im Körper vorkommenden Zellen verwandeln.
In der Forschung zum Einsatz kommen dürfen auch sogenannten «Multi-Organ-Chips» – kleine In-vitro-Systeme, die mittels 3D-Drucker menschliches Gewebe, Organe oder gar einen Körper imitieren können.
Eine weitere Option sind Computermodelle, die Tierversuche unter anderem in der Entwicklung von Medikamentenstudien ersetzen können. Mit bereits gesammelten Daten können die Modelle etwa Vorhersagen über die Wirksamkeit eines Medikaments machen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der FDA gehen davon aus, dass die Forschung mit dem Einsatz dieser Alternativen günstiger werde und Medikamente somit schneller und effizienter auf den Markt gebracht werden können.
Die Gesetzesänderung stelle keinen Tsunami dar, der den Zulassungsprozess von Medikamenten neu gestalten wird, schätzt Jim Newman, Kommunikationsdirektor bei Americans for Medical Progress.
Tierversuchsfreie Methoden stecken Newman zufolge in den Kinderschuhen – und können Tierversuche wohl erst in vielen Jahren ersetzen.
In Europa sieht die zuständige Arzneimittelbehörde EMA die Zeit für einen solchen Schritt noch nicht gekommen. Noch könne nicht vollständig auf Tierversuche verzichtet werden, teilte die EMA der Deutschen Presse-Agentur in Amsterdam mit.
Neue alternative Methoden, die stattdessen benutzt werden können, müssten erst überprüft werden, um sicherzustellen, dass sie verlässlich sind. Im vergangenen Jahr hatte die EMA eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um diesen Prozess zu beschleunigen.
Die Europäische Union ist den USA dafür bei einem anderen Gesetz ein Vorbild – bei den Tierversuchen für Kosmetika.
Die EU-Kosmetikrichtlinie verbietet den Handel mit sämtlichen Kosmetikprodukten, die an Tieren getestet wurden. Das Verbot gilt auch für einzelne Inhaltsstoffe eines Produktes.
In der Schweiz sind Tierversuche zur Entwicklung von kosmetischen Produkten nicht ausdrücklich verboten, dennoch können sie hierzulande nicht durchgeführt werden. Denn: Kosmetika gelten als verzichtbar. Somit erfüllen kosmetische Artikel nicht die gesetzlichen Vorgaben für eine Bewilligung eines Tierversuchs.
Die USA hingegen haben Tierversuche für kosmetische Produkte noch nicht ganz aus dem Land verbannt. Nur einzelne Bundesstaaten wie etwa Kaliforniern, Hawaii, Illinois oder New York haben ein Gesetz verabschiedet, das Tierversuche für Kosmetika verbietet.
Dennoch muss erwähnt werden, dass man auch in der EU und in der Schweiz nicht ausschliessen kann, dass ein Produkt ohne Tierversuche hergestellt wurde. Denn: Einige Inhaltsstoffe gehören zu Arzneipräparaten. Somit fallen sie nicht unter die Kosmetikbestimmungen.