600 Milliarden Dollar. So viel würde es kosten, die Ukraine nach dem Krieg wiederaufzubauen, schätzte der ukrainische Premierminister Denis Schmihal Mitte April.
Woher das Geld kommen und wie der Wiederaufbau vonstattengehen soll, darüber zerbricht man sich im Westen gerade den Kopf. Eine Idee, die mittlerweile auch von den höchsten Kreisen in der EU und Washington propagiert wird, ist die Enteignung von russischen Oligarchen. Die EU prüfe Möglichkeiten, eingefrorene Vermögen russischer Oligarchen zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine nach dem Krieg zu verwenden, erklärte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am Donnerstag im ZDF.
Auch in der Schweiz hat die Idee ihre Anhänger: Die SP hat kürzlich eine Motion eingereicht, die verlangt, dass die Schweiz autonom Gelder von sanktionierten Personen nicht nur einfrieren, sondern «einziehen und einem bestimmten Zweck zuführen kann». Unterstützung erhielt die SP bis weit ins bürgerliche Lager hinein.
Doch ganz so einfach dürfte dies nicht werden. Denn es fehlen die rechtlichen Grundlagen. Auch völkerrechtlich wäre ein solches Unterfangen sehr heikel.
Die Schweiz hatte bis zum 12. Mai russische Gelder in Höhe von 6,3 Milliarden Franken blockiert, so Erwin Bollinger, Leiter des Leistungsbereichs Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Experten gehen jedoch davon aus, dass noch viel mehr zu sanktionierende Vermögen in schwer durchschaubaren Konstrukten zu finden wären. Insgesamt sollen in der Schweiz russische Vermögen in der Höhe von 200 Milliarden Franken liegen.
In der EU sollen bereits Vermögenswerte von Oligarchen im Wert von über 30 Milliarden Euro eingefroren worden sein, in der USA sollen es zwischen einer und zwei Milliarden Dollar sein.
Ungleich grösser ist der Betrag der im Ausland beschlagnahmten Währungsreserven der Russischen Nationalbank: Devisen im Wert von rund 350 Milliarden Dollar sollen weltweit eingefroren worden sein.
Das ist die grosse Frage, worauf es keine richtige Antwort gibt, da Präzedenzfälle fehlen. In der Schweiz würde ein solches Vorgehen einen Tabubruch in der Sanktionspolitik darstellen. Dass eingefrorene Vermögen dauerhaft behalten und nicht mindestens einer legitimen Regierung im Herkunftsland zurückerstattet werden, ist im Embargogesetz nicht vorgesehen. Es müsste also erst eine rechtliche Grundlage geschaffen werden. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den EU-Staaten und den USA.
Der US-Präsident Joe Biden hat Anfang Mai eine Vorlage in den Kongress geschickt, um genau dies zu tun: eine rechtliche Grundlage schaffen. Denn gemäss internationalem Recht ist es auch der USA nicht einfach so möglich, Vermögen zu konfiszieren. Weder von Privatpersonen, noch von Staaten.
Es ist zwar zulässig, dass UN-Mitglieder Vermögen eines Aggressors beschlagnahmen. Im Fall von Privatpersonen muss zusätzlich nachgewiesen werden, dass diese mit dem Aggressor, in diesem Fall der russischen Regierung, in enger Verbindung stehen.
Das Vermögen aber unwiderruflich zu konfiszieren, ist ungleich schwerer. Denn der Nachweis, ob sich ein Eigentümer von Vermögen noch zu Recht auf der Sanktionsliste befindet, muss von Gerichten fortlaufend erbracht werden. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Fall eines sanktionierten Saudiarabers. Es dürfte also nicht einfach werden, Oligarchen für den Angriffskrieg Russlands haftbar zu machen. Geschweige denn, sie zu enteignen. Es könnte genauso gut sein, dass die eingefrorenen Vermögenswerte nach Ende des Krieges wieder zurückgegeben werden müssen.
FDP-Vizepräsident Andrea Caroni befürwortet die Enteignung nichtsdestotrotz, wie er gegenüber der «Sonntagszeitung» sagte:
Bei den rund 350 Milliarden Dollar der russischen Zentralbank, die rund um den Globus eingefroren wurden, stellen sich ähnliche Probleme. Obwohl Russland das Völkerrecht eklatant verletzt, seien Prinzipien zu beachten, sagte Andreas Müller, Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Innsbruck, gegenüber der NZZ. «Staatsvermögen geniesst im Völkerrecht einen starken Schutz.» Wenn westliche Staaten auf russische Vermögenswerte zugriffen, verletzten sie diesen Schutz.
Die Frage nach Reparationszahlungen müsste zudem letztlich von der Uno geklärt werden, nicht von einzelnen Staaten.
Würde man die rechtlichen Grundlagen geschaffen haben und privates sowie staatliches russisches Vermögen zur Verwendung bereits stehen, so stünde man vor weiteren Problemen. Es stellt sich die Frage: wohin mit dem Geld?
Der ehemalige Weltbank-Direktor Kurt Bayer plädiert in einem Gastkommentar im «Der Standard» für einen «Verteidigungs- und Wiederaufbaufonds», in welchem Hilfs- und beschlagnahmte Gelder gebündelt und gezielt vergeben werden können. So könnten wichtige Fragestellungen geklärt werden. Zum Beispiel, «in welche Richtung dieser Wiederaufbau mit welchen inhaltlichen und zeitlichen Prioritäten gelenkt werden soll».
Denn inwieweit die Ukraine in der Lage sein wird, ihren Wiederaufbau zu bewerkstelligen, ist ebenfalls unklar. Auch die Ukraine ist weitgehend ein «Oligarchenstaat», im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International rangiert die Ukraine 2021 auf Platz 122 von 180.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat deswegen vorgeschlagen, künftige Wiederaufbauhilfen für die Ukraine an Reformen zu koppeln. «Ja zu Investitionen, aber gleich mit den notwendigen Reformen, zum Beispiel gegen Korruption oder zum Beispiel für den Aufbau der Rechtsstaatlichkeit. Das will die Ukraine auch, ich habe das heute Morgen noch einmal mit Präsident Selenskyj besprochen», sagte von der Leyen am Donnerstag. «Es hängt von der Ukraine selber ab, wie sie am Ende dieses Krieges diesen Wiederaufbau schafft, wie sie tatsächlich die Reformen umsetzt und wie sie die Oligarchen loswird.»