Mit historischen Vergleichen muss man vorsichtig sein. Aber man hat den Eindruck, dass sich der europäische Kontinent in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befindet. Wegen des möglichen russischen Gaslieferstopps sei Europa «auf dem Weg in die Kriegswirtschaft», meint der «Spiegel». Dazu drohen soziale und politische Verwerfungen.
Der wichtigste, wenn auch nicht der einzige Grund dafür, ist Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine. Er hat das seit dem Ende des Kalten Kriegs bestehende, prekäre Gleichgewicht zum Einsturz gebracht. Die damalige Ost-West-Konfrontation wirkt rückblickend wie eine Zeit der Stabilität, auch auf jene, die sie wie der Autor dieser Zeilen selbst miterlebt haben.
Bei genauer Betrachtung ist das Unsinn. Die USA und die Sowjetunion führten weltweit «Stellvertreterkriege». Die heutige Welt wirkt im Vergleich trotz Ukraine-Krieg friedlich. Gleichzeitig aber war die Sowjetunion ein ziemlich rationaler Akteur. Entgegen der weit verbreiteten Ängste war sie nie ernsthaft an der «Eroberung» Westeuropas interessiert.
Wladimir Putins Russland hingegen frönt imperialen und eurasischen Allmachtsfantasien. Der Kreml-Herrscher schreckt auch nicht davor zurück, Europa mit der «Gaswaffe» unter Druck zu setzen. Während die Sowjetunion ihre Lieferverträge eingehalten hat. Das von ihr «geerbte» Atomwaffen-Arsenal macht das heutige Russland noch bedrohlicher.
Für Europa bedeutet dies, dass der kommende Winter hässlich werden könnte, vor allem, wenn er richtig kalt wird. Natürlich ist der Kontinent besser aufgestellt als früher. Die Europäische Union hat in den letzten Jahren gezeigt, dass sie Konflikte bewältigen kann. Aber das heutige Ausmass ist anders, und jetzt leistet sich Gründungsmitglied Italien erst noch eine Regierungskrise.
Im schlimmsten Fall könnte Europa in den nächsten Monaten zerbrechen. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich. Mit einer klugen Strategie aber kann Europa diese Dauerkrise bewältigen und gestärkt daraus hervorgehen:
Auf den ersten Blick ist Russland im Vorteil. Der Verteidigungsminister hat eine Ausweitung der Kämpfe an allen Fronten angeordnet. Der Aussenminister spekuliert über die Eroberung zusätzlicher Gebiete. Solche Drohgebärden könnten aber auch die Tatsache kaschieren, dass es für die Russen nicht nur rund läuft. Offenbar suchen sie dringend neue Soldaten.
Die Ukrainer wiederum schöpfen aus der Lieferung moderner westlicher Waffensysteme neue Hoffnung. Daraus könnte eine Chance entstehen. Wenn der Westen den Druck hochhält und weiterhin Waffen liefert, könnte Putin zu einer Waffenruhe und einem «Einfrieren» des Konflikts bereit sein. Was in der aktuellen Situation nicht wenig wäre.
Ein Hoffnungsschimmer ist die grundsätzliche Einigung zu den Getreideexporten aus der Ukraine bei den Verhandlungen in der Türkei. Eine Garantie ist sie nicht, aber vielleicht hat Russland erkannt, dass seine Strategie, den Westen für die drohende globale Hungerkrise verantwortlich zu machen, nicht aufgeht, solange die ukrainischen Häfen blockiert werden.
Seit Donnerstag fliesst wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1. Aber die Auslastung beträgt nur rund 40 Prozent. Putin könnte die Lieferungen weiterhin kappen. Russland nutze seine grosse Macht, um Europa und Deutschland zu «erpressen», sagte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck. Sein Land hat sich besonders abhängig gemacht.
Ein Notfallplan der EU-Kommission sieht vor, dass die Mitgliedsstaaten ihren Gasverbrauch um 15 Prozent senken, falls Russland die Lieferungen einstellt. Dagegen wehren sich die Länder im Süden. Sie hätten ihre Hausaufgaben gemacht, sagen sie mit einem Seitenhieb gegen Deutschland, von dem sie während der Eurokrise gepiesackt wurden.
Tatsächlich wirkt es widersinnig, dass Deutschland von anderen Ländern Solidarität verlangt und gleichzeitig seine drei letzten Atomkraftwerke abschalten will. Dafür soll vermehrt Kohle verfeuert werden, der Klimakiller Nummer eins. Experten verweisen jedoch darauf, dass vor allem im Bereich der Effizienz viel Sparpotenzial vorhanden ist.
Falls sich die Corona-Lage – noch eine unbewältigte Krise – im Herbst verschärft, könnte erneut Homeoffice angeordnet werden. Riesige Büroflächen müssten nicht oder nur auf Sparflamme beheizt und beleuchtet werden. Auch Unternehmen könnten einiges tun und etwa mit dem geplanten deutschen Auktionssystem zum Gassparen animiert werden.
Die stark gestiegenen Energiepreise sind ein Treiber der hohen Inflation in der Eurozone. Im Juni betrug sie 8,6 Prozent. Aber nicht der einzige. Die Industrie leidet nach wie vor unter gestörten Lieferketten, und die Staatsschulden sind während der Coronakrise teilweise explodiert. Die Europäische Zentralbank (EZB) blieb jedoch lange passiv.
Am Donnerstag erhöhte die EZB den Leitzins gleich um 0,5 Prozent. Gleichzeitig kündigte sie ein neues Programm zum Kauf von Staatsanleihen an. Mit ihm sollen Staaten unterstützt werden, in denen die Zinsen besonders stark ansteigen. Es ist ein heikler Balanceakt. Im besten Fall nützt allein die Ankündigung, um eine neue Eurokrise zu verhindern.
Gleichzeitig sind die Regierungen gefordert. Sie müssen soziale Härten abfedern, mit gezielten Transferzahlungen an Bedürftige. Dem Mittelstand aber muss vielleicht die unangenehme Botschaft vermittelt werden, dass er den Gürtel etwas enger schnallen muss. In einer Wohlstandsgesellschaft sollte dies machbar sein.
In Italien ist die Regierungskrise eine Art Dauerzustand. Mit dem früheren EZB-Chef Mario Draghi als Ministerpräsident aber kam es zu ungewohnter Stabilität. Damit ist es vorbei. Am Donnerstag trat Draghi zurück, weil die Fünf-Sterne-Bewegung, die Lega von Matteo Salvini und Silvio Berlusconis Forza Italia ihn nicht mehr unterstützen wollten.
Nie gab es eine Regierungskrise zu einem dümmeren Zeitpunkt, sind sich Beobachter im In- und Ausland einig. Nun wird bis zu den Neuwahlen am 25. September nichts mehr gehen. Dann könnte Italien eine Mitte-rechts-Regierung erhalten, geführt von der postfaschistischen, EU-feindlichen Fratelli d’Italia und ihrer Parteichefin Giorgia Meloni.
So weit aber muss es nicht kommen, denn bei den potenziellen Koalitionspartnern Lega und Forza Italia gärt es. Führende Köpfe in beiden Parteien stellten sich hinter Mario Draghi. Die Fünf Sterne sind schon gespalten, weshalb über eine Zentrumsallianz spekuliert wird. Sie könnte mit dem linken Partito Democratico eine proeuropäische Regierung bilden.
In diesen Szenarien steckt viel Spekulation. Der Worst Case ist nicht ausgeschlossen, und der kommende Winter wird auf jeden Fall schwierig. Es gilt, bis zum nächsten Frühjahr durchzuhalten. Danach könnten es Europa und vor allem Deutschland nach Ansicht von Experten schaffen, sich sukzessive aus der Abhängigkeit vom russischen Gas zu befreien.
Was aber macht die Schweiz? Sie ist auch dank des starken Frankens viel weniger vom «Inflationsgespenst» bedroht. Dafür ist die Abhängigkeit von Europa im Energiesektor umso grösser, beim Strom und ganz besonders beim Gas. Als Nichtmitglied der EU kann sie noch weniger auf europäische Solidarität hoffen als Deutschland, oder nur zu einem hohen Preis.
Wie schon bei Corona ist die vermeintlich perfekt funktionierende Schweiz schlecht vorbereitet. Auch sonst hinterlässt unser Land derzeit keinen guten Eindruck, etwa beim peinlichen Hin und Her um die Aufnahme von Kriegsverletzten aus der Ukraine. Im besten Fall aber führt uns die aktuelle Krisenlage vor Auge, dass wir nicht auf einer Insel leben.
Aber ja ist halt teurer als mit Despoten zu arbeiten.