Das Interview hat zwar Asien zum Schwerpunkt. Trotzdem müssen wir mit den USA beginnen: Wie beurteilen Sie die Situation in Washington nach der für Joe Biden so folgenschweren Debatte?
James Crabtree: Jeder vernünftige Beobachter muss zwangsläufig zum Schluss kommen, dass sich die Chancen für Donald Trump substanziell erhöht haben.
Was für Auswirkungen hat dies auf Asien?
Das lässt sich noch nicht abschätzen. Trumps Verhalten ist erratisch. Sollte er tatsächlich wieder gewählt werden, dann muss davon ausgegangen werden, dass er sich mit China-Falken umgeben wird, mit Typen wie seinem ehemaligen Wirtschaftsberater Robert Lighthizer, aber auch mit militärischen Hardlinern. Wir müssen davon ausgehen, dass Trump grosse Anstrengungen unternehmen wird, China in den Griff zu bekommen. Das wird auch Auswirkungen auf Europa haben.
Woran denken Sie konkret?
Die USA werden ihr Augenmerk noch stärker in Richtung Pazifik lenken und die andere Seite des Atlantiks vernachlässigen.
Trotzdem gibt es Stimmen, die behaupten, China wäre nicht unglücklich, sollte Trump wieder ins Weisse Haus einziehen.
Ich kehre soeben von einem Besuch in Shanghai zurück. Ich habe jede und jeden gefragt: Wen wünscht sich China als Sieger der amerikanischen Wahlen? Die Antworten waren geteilt. Die einen finden, Trump wäre gut für China, denn er würde für sehr viel Chaos auf der Welt sorgen. Das wiederum würde China neue Möglichkeiten eröffnen.
Wie argumentieren die anderen?
Ökonomisch gesehen wäre Trump sehr schlecht für Peking. Er will bekanntlich die chinesischen Importe mit einem Strafzoll von 60 Prozent belegen. Zudem wird Biden als schwache Führungspersönlichkeit angesehen. «Mit Biden können wir leben», sagen daher die Mitglieder dieser Fraktion. Aber letztlich ist entscheidend, was Präsident Xi Jinping will – und das wissen wir nicht. Aber – wer immer auch ins Weisse Haus einziehen wird – die Chinesen werden sich zu arrangieren wissen.
Der chinesischen Wirtschaft geht es dem Vernehmen nach nicht sehr gut. Würde eine Trump-Wahl die Misere nicht noch grösser machen?
Ein Strafzoll in der Höhe von 60 Prozent würde der chinesischen Wirtschaft sicher grossen Schaden zufügen, ebenso der «Chip War», die Einschränkungen bezüglich der Halbleiter. Dazu kommt, dass Trumps Wirtschaftspolitik wahrscheinlich zu einem stärkeren Dollar führen würde. Das ist ebenfalls wenig hilfreich für China.
Indien wird derzeit als die aufstrebende Nation in Asien gesehen. Teilen Sie diese Ansicht?
Nach allgemeiner Einschätzung wird Indien im Jahr 2030 zur drittgrössten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Trotzdem wird diese Volkswirtschaft im Vergleich zu der chinesischen immer noch viel kleiner sein. Selbst wenn das indische Bruttoinlandprodukt weiterhin jährlich zwischen sechs und sieben Prozentpunkten zulegt, wird es noch lange dauern, bis die Lücke zu China geschlossen sein wird. Aber klar, Indien wird immer mehr zu einem wichtigen Akteur in der Weltwirtschaft. Doch es bereits als zweites China zu betrachten, ist weit übertrieben.
Der indisch-stämmige Ökonom Ashoka Mody hat kürzlich ein weit beachtetes Buch mit dem Titel «India is broken» veröffentlicht. Teilen Sie dessen pessimistische Einschätzung?
Ich kenne Mody und bin der Ansicht, dass seine Analyse mutig ist, speziell in einer Zeit, in der sich nur wenige Menschen getrauen, die Wirtschaftspolitik von Premierminister Narendra Modi zu kritisieren. Und zu Recht weist Mody auf verschiedene strukturelle Probleme der indischen Volkswirtschaft hin.
Zum Beispiel darauf, dass die Volksschulen sich in einem bedenklich schlechten Zustand befinden.
Das ist bloss die Spitze des Eisbergs. Will Indien von einem armen zu einem Mittleren-Einkommens-Staat werden, muss es sehr viele strukturelle Probleme lösen. Das ist sicher auch ein Grund, weshalb Premierminister Modi bei den kürzlichen Wahlen weit weniger dominiert hat als erwartet.
Wie ist das schwache Abschneiden Modis sonst noch zu erklären?
Er hat für Wohlstand für eine schmale Elite gesorgt, bei den armen Menschen ist hingegen wenig bis nichts von diesem neu geschaffenen Wohlstand angekommen. Daher wird Indien das Wirtschaftswunder Chinas in den letzten Jahrzehnten nicht wiederholen können. Aber seine Wirtschaft hat die Chance, kontinuierlich im gleichen Tempo weiterzumachen. Das ist an sich schon beachtlich.
Die Wahlen sind für Modi enttäuschend ausgefallen. Ist dies ein gutes Zeichen für die Demokratie – oder wächst jetzt die Gefahr, dass in Indien ein nationalistisches, autoritäres Regime entsteht?
Oh nein, es ist ein sehr gutes Zeichen für die Demokratie. Die Angst, dass sich Indien in Richtung eines autoritären Staates entwickelt, erweist sich jetzt als unbegründet. Die Wahlen waren – nach allem, was wir wissen – sauber und fair. Zudem hat Modis Anti-Muslim-Rhetorik diesmal nicht verfangen. Dazu kommt, dass die wachsende Ungleichheit in Indien für Unmut bei den Armen sorgt, und Korruptionsskandale wie mit dem Rohstoffkonzern von Gautam Adani die Menschen vor den Kopf stossen.
Wie weit ist heute noch das Kasten-System für diese Ungleichheit verantwortlich?
Das Kasten-System ist mitverantwortlich für die grosse Ungleichheit in Indien. Ausser den USA und China gibt es nirgends so viele Milliardäre wie in Indien, und kaum einer davon stammt aus einer unteren Kaste.
Indien und China sind wie Hund und Katze. Indien versucht daher vermehrt, die USA gegen China auszuspielen. Gleichzeitig möchte Indien auch der Anführer der Länder werden, die heute unter dem Begriff Globaler Süden zusammengefasst werden. Kann diese Rechnung aufgehen?
Auch China will in diese Rolle schlüpfen. Deshalb gibt es diesbezüglich zwischen den beiden Ländern einen intensiven Wettbewerb. Doch für Indien ist dies nicht das wichtigste Ziel seiner Aussenpolitik.
Sondern?
Indien will den Aufstieg Chinas managen. Deshalb strebt das Land derzeit eine engere Partnerschaft mit den USA an, aber auch mit Australien und bis zu einem gewissen Grad auch mit Südkorea. Auch Europa ist für Indien wichtig geworden. Es unternimmt grosse Anstrengungen, um die Beziehungen zu verbessern.
Mit der Schweiz hat Indien soeben ein Freihandelsabkommen unterzeichnet.
Ein Freihandelsabkommen mit der EU wird ebenfalls schon lange diskutiert. Generell besteht die beste Option für Indien darin, sich an die Länder anzulehnen, denen der Aufstieg Chinas ebenfalls Bauchschmerzen macht.
Weshalb stossen die Inder den Westen mit der Russland-freundlichen Politik im Ukraine-Krieg vor den Kopf?
Was die langzeitlichen strategischen Ziele betrifft, hat Indiens Reaktion auf den Krieg in der Ukraine in Europa einen falschen Eindruck hinterlassen. Es scheint, als ob sich Indien mit den Russen verbinden würde. Das ist falsch. Grundsätzlich wünscht sich Indien zwar eine multipolare Welt. Das bedeutet natürlich, dass die USA einen Teil ihrer Macht abgeben müssen. Aber das ist ein langfristiges Ziel. Kurzfristig hingegen lehnt sich Indien stärker an die USA an. Das enge Verhältnis zwischen Peking und Moskau wird in New Delhi mit wachsendem Unbehagen verfolgt.
Ist dies der Grund, weshalb Indien seine Rolle im Quad, dem quadriterlalen Sicherheitsdialog zwischen Japan, Indien, Australien und den USA, verstärkt?
Indien ist diesem Pakt 2018 beigetreten. Es handelt sich dabei nicht um eine militärische Allianz. Quad ist als Reaktion auf den Aufstieg Chinas entstanden. Aber die entscheidenden Gespräche finden nach wie vor bilateral statt.
Immer wieder wird von einem baldigen Angriff Chinas auf Taiwan gewarnt. Teilen Sie diese Befürchtungen?
Ich halte es derzeit für wenig wahrscheinlich. Immer wieder wird das Jahr 2027 als möglicher Zeitpunkt für einen solchen Angriff genannt. Xi Jinping hat seine Streitkräfte jedoch einzig angewiesen, zu diesem Zeitpunkt theoretisch für einen solchen Angriff gerüstet zu sein. Das heisst auch, dass China noch mindestens drei Jahre lang nicht in der Lage ist, Taiwan zu erobern. Und selbst wenn es dieser Möglichkeit dereinst haben sollte, heisst dies keineswegs, dass es auch davon Gebrauch machen wird. China wäre es weit lieber, wenn es gelingen sollte, Taiwan mit anderen Mitteln wieder einzuverleiben.
Weil eine militärische Eroberung sehr teuer wäre?
Ja, und sehr riskant. China könnte verlieren. Die USA verfügen nach wie vor über ein Waffenarsenal, dem China nichts Ebenbürtiges entgegensetzen kann. Zudem tickt Xi anders als Putin. Die Vorstellung, dass er unter einem windigen Vorwand Taiwan angreift, wie Putin das mit der Ukraine getan hat, ist unwahrscheinlich. Zumindest in den nächsten Jahren. Es kann jedoch sein, dass irgendwann seine Geduld zu Ende sein wird. Taiwan wieder mit dem Festland zu vereinen, würde Xi in den Status eines herausragenden Führers von China erheben.
Es mag eine naive Frage sein. Aber: Warum ist es für die Chinesen so wichtig, Taiwan wieder ins Reich einzugliedern. Weshalb beschränken sie sich nicht auf blühende Handelsbeziehungen?
Für die Chinesen gehört Taiwan traditionell zur Nation. Sie sind der Meinung, dass es ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg unrechtmässig entrissen worden sei. Sie sehen darin eine weitere Episode von westlichem Imperialismus, unter dem sie rund 200 Jahre gelitten haben. Dazu kommen strategische Gründe. China hat militärisch nur begrenzten Zugang zum Pazifischen Ozean. Wäre Taiwan Teil von China, wäre dieser Zugang offen. Schliesslich verfügt Taiwan auch über grosses technisches Know-how, hauptsächlich in der Herstellung von Chips. Daran ist Peking ebenfalls interessiert.
Derzeit ist viel von einer neuen «Achse des Bösen» – Russland, China, Iran und Nordkorea – die Rede. Ist das Übertreibung?
Nein, gar nicht. Es ist etwas, das wir sehr ernst nehmen müssen. Der Deal, den Russland soeben mit Nordkorea abgeschlossen hat, riecht sehr nach Allianz. Die Zusammenarbeit innerhalb dieser «neuen Achse des Bösen» wird vor allem Europa vor grosse Herausforderungen stellen. China und Nordkorea nehmen nur Einfluss auf die Sicherheitsordnung auf dem alten Kontinent. Das ist ein grosser Unterschied, und einer, der uns Sorgen machen sollte.
Macht der Westen seine Hausaufgaben bezüglich dieser Achse?
In den vergangenen vier Jahren hat der Westen signifikante Fortschritte gemacht. Viel hängt vom Ausgang des Krieges in der Ukraine ab. Aber Europa investiert mittlerweile viel mehr – immer noch nicht genug – in seine militärische Sicherheit. Trotzdem ist es nach wie vor auf Gedeih und Verderben von den USA abhängig. Das könnte zu Problemen führen, sollte Trump die Wiederwahl gewinnen.
Damit sind wir wieder bei der Eingangsfrage angelangt: Was bedeutet ein Sieg Trumps für Europa?
Wir können diese Frage nicht beantworten, Trump ist zu unberechenbar. Einerseits bewundert er Diktatoren wie Putin oder Kim Jong Un. Andererseits will er gerade gegen China resolut ankämpfen. Vor allem Europäer müssen sich Sorgen machen, was Trump betrifft. Er strebt einen raschen Frieden im Ukraine-Krieg an, und dieser Frieden wird kaum zugunsten der Ukraine ausfallen. Dazu kommt die ganze NATO-Frage. Ich glaube zwar nicht, dass Trump die USA aus dieser Allianz zurückziehen würde, aber er würde Spannungen innerhalb dieser Allianz hervorrufen und das Management erschweren.
Und das Trump aus der NATO aussteigen würde glaube ich nicht. Er hat auch immer wieder betont das er einfach erwartet, dass die anderen Mitglieder mehr in die Rüstung investieren damit nicht immer die USA die grössten Kosten tragen müssen.
Zudem kurbelt das natürlich die Rüstungsindustrie der USA gewaltig an. NATO-Partner sind auch gute Kunden der US-Rüstungsindustrie! Das weiss Trump!