Der Krieg in der Ukraine hat sich in einen Stellungskrieg verwandelt. An den meisten Frontabschnitten können weder die russischen noch die ukrainischen Streitkräfte nennenswerte Fortschritte machen.
Gerade aus diesem Grund sind die derzeitigen Kämpfe, vor allem jene in der Umgebung von Awdijiwka, besonders aufreibend für Mensch und Material. Viele Soldaten sterben für geringe territoriale Gewinne, und die Waffenindustrie in Russland benötigt unzählige Arbeiter, um verbrauchtes Kriegsgerät nachzuproduzieren.
Das bekommt vor allem die russische Wirtschaft abseits der Rüstungsindustrie zu spüren – ihr gehen nämlich die Arbeiter aus. «Der russische Arbeitsmarkt sowie die gesamte Wirtschaft befinden sich am Limit», erklärt Ruben Enikolopow, Wirtschaftsprofessor an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, im Gespräch mit der «Financial Times».
Dass die russische Wirtschaft jeden einzelnen Arbeiter bis an den Rand der Belastungsgrenze bringt, zeigt sich an der Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit in den Fabriken. Viele Werke operieren wieder nach einem System mit drei Schichtdiensten pro Tag – ein Rückschritt in die Zeit der sowjetischen Planwirtschaft, berichtet die «Financial Times».
Gerade die Rüstungsindustrie ist schwer vom Arbeitskräftemangel betroffen. So klagte das staatliche Unternehmen Rostec, ein Dachunternehmen für die grössten Waffenhersteller Russlands mit 600'000 Beschäftigten, über den Bedarf an Arbeitern. «Wir haben viel zu wenig Leute», sagt Rostec-Chef Sergej Tschemesow in einem Interview mit dem staatlichen Nachrichtensender Russia 24. «Wir müssen etwa 25'000 bis 30'000 Menschen einstellen».
Auch die russische IT-Industrie ist schwer vom Krieg getroffen – was allerdings weniger an der teilweisen Generalmobilmachung liegt, sondern daran, dass viele IT-Kräfte wegen des Krieges ins Ausland geflohen sein sollen. Wie die «Frankfurter Rundschau» unter Berufung auf Zahlen des russischen Ministeriums für digitale Entwicklung berichtet, fehlten Russland 500'000 bis 700'000 IT-Fachkräfte. In der «Financial Times» bezeichnet ein Manager aus der Telekommunikationsbranche die angespannte Arbeitsmarktsituation in der IT-Branche als «blöd».
Ein Problem für die IT-Branche: Der russische Rüstungssektor besteht zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus staatlichen Unternehmen, berichtet die «Financial Times». Diese hätten mehr Kapital, um dringend benötigte Arbeitskraft abzuwerben. «Der Staatskapitalismus hat Geld, Kapital und Befehle», sagt Oleg Deripaska, der mit Basic Element eine der grössten russischen Industriegruppen gegründet hat, der «Financial Times». «Sie haben Geld, sie werden rekrutieren, sie werden mit uns in den direkten Wettbewerb treten».
Sogar Wladimir Putin selbst erkennt das Problem der fehlenden Arbeitskräfte an. «Es betrifft viele kleine und mittlere Unternehmen», sagte der russische Präsident in diesem Sommer auf einem Treffen mit Unternehmern im Kreml. Auch sein Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow sprach hinsichtlich der Knappheit an Arbeitern vom «grössten innenpolitischen Problem für die russische Wirtschaft».
Wie verzweifelt selbst die reichen Rüstungskonzerne sind, zeigt der Satz des Managers einer militärischen Luftfahrtfabrik in Sibirien. Er müsse 3'000 zusätzliche Arbeiter einstellen, wisse allerdings nicht, wo er die herbekommen solle, sagt er der «Financial Times»: «Höhere Bildungsabschlüsse sind derzeit eher nicht relevant. Um ehrlich zu sein: Wenn du zwei Hände, zwei Beine, Augen und Ohren hast, bist du dabei».
Jeder Russe, der in diesen Krieg zieht, sollte mittlerweile wissen, dass er sinnlos verheizt werden kann.
Hoffentlich sind die Straflager bald leer und die Bevölkerung wird spätestens zur nächsten Mobilmachung gegen den Wahnsinn aufstehen.