In Bosnien-Herzegowina wachsen die Spannungen. Das Parlament der serbischen Teilrepublik Srpska hat im Dezember beschlossen, dem Zentralstaat wesentliche Kompetenzen zu entziehen: Künftig will die Teilrepublik Armee, Justiz und Steuersystem selber in die Hand nehmen. Noch nie seit dem Ende des blutigen Bosnienkriegs (1992-1995) war die Gefahr einer Spaltung des Landes so gross.
Die Abgeordneten setzten ihrer Regionalregierung in Banja Luka eine Frist von sechs Monaten, um den Austritt umzusetzen. Der Präsident der Teilrepublik, Milorad Dodik, kündigte darauf an, entsprechende Gesetze zu initiieren. Zugleich warf er der Zentralregierung in Sarajevo vor, sie habe der Republika Srpska unrechtmässig Vollmachten entzogen. Dies werde nun rückgängig gemacht.
Das Vorhaben droht, die fragile Architektur des Abkommens von Dayton zu zerstören, das den Bosnienkrieg 1995 beendete und diesen Nachfolgestaat Jugoslawiens neu ordnete. Seither besteht Bosnien-Herzegowina – selber ein Vielvölkerstaat, in dem Serben, Kroaten und muslimische Bosniaken leben – aus zwei nahezu gleich grossen Entitäten: neben der serbisch dominierten Republika Srpska die bosniakisch-kroatische Föderation von Bosnien und Herzegowina.
Die Gründe für die Abspaltungsgelüste der bosnischen Serben lassen sich nicht verstehen, ohne einen Blick in die Vergangenheit dieses zerrissenen Landes zu werfen. Wie so oft wirken weit zurückliegende traumatische Ereignisse lange nach und verursachen oder verschärfen zumindest spätere Konflikte. Dies gilt besonders für den Balkan, in dem sich einige bedeutende historische Trennlinien überschneiden, die zum Teil heute noch spürbar sind.
Eine dieser Trennlinien ist die Reichsgrenze zwischen dem Weströmischen und dem Oströmischen Reich, die sich nach der Reichsteilung von 395 n. Chr. verfestigte. Diese Grenze überlagerte eine ältere Scheidelinie, die sogenannte Jireček-Linie, die in den rund fünf Jahrhunderten der römischen Herrschaft das lateinische Einflussgebiet im Norden und Westen vom griechischen im Süden und Osten trennte.
Ungefähr entlang dieser römischen Reichsgrenze verlief später – nach dem Grossen Schisma um 1054 – auch die Trennlinie zwischen Katholizismus und Orthodoxie. Dementsprechend zeigen sich diese alten Grenzen heute auch noch ungefähr in der Linie, die den Gebrauch der lateinischen und der kyrillischen Schrift trennt.
In der Übergangszeit von Spätantike zu Frühmittelalter begann die sogenannte Landnahme der Slawen auf dem Balkan, mit der ein neues und fortan bestimmendes Element diesen Raum mitprägte. Spätestens seit dem Beginn des 7. Jahrhunderts siedelten sich slawische Stämme in der Region an und anerkannten zunächst die oströmische Oberhoheit, die allerdings meist nur formal bestand. Zwischen den Neuankömmlingen und den Resten der römischen und griechischen Provinzialbevölkerung, die allmählich zum grössten Teil slawisiert wurden, herrschte eine weitgehend friedliche Koexistenz.
Die südslawischen Stämme, die im 9. Jahrhundert ihrerseits durch die Einwanderung der Ungarn in deren heutiges Siedlungsgebiet von den übrigen Slawen getrennt wurden, übernahmen nach und nach das Christentum. Die Missionierung erfolgte bei den Serben von Konstantinopel aus; sie übernahmen daher die griechisch-orthodoxe Form des Christentums und die eigens für die Mission geschaffene kyrillische Schrift. Die weiter nordwestlich siedelnden Kroaten hingegen wurden vornehmlich von Westen her christianisiert und schlossen sich der katholischen Konfession an.
Im heutigen Bosnien überschnitten sich diese Einflüsse. Hier standen besonders die westlichen und nördlichen Teile unter katholischem Einfluss, während sonst die orthodoxe Prägung vorherrschte. Daneben entstand in dem gebirgigen Land eine eigene Bosnische Kirche, die formal dem Papst unterstand, aber die kirchenslawische Liturgiesprache beibehielt. Bosnien wurde so zu einem Niemandsland zwischen den Glaubensrichtungen.
Auch politisch blieb Bosnien im Frühmittelalter ein Spielball äusserer Mächte; meist stand es unter dem Einfluss kroatischer und serbischer Fürstentümer, die jeweils Teile des Landes beherrschten. Nachdem Kroatien 1102 durch Personalunion an Ungarn gelangt war, mischten sich die ungarischen Könige in das Spiel um die Kontrolle Bosniens ein. Doch auch sie konnten ihre Macht dort nicht konsolidieren. Schliesslich konnte sich ein bosnisches Fürstentum und dann auch Königreich etablieren, das im 14. Jahrhundert zum mächtigsten Staat auf der westlichen Balkanhalbinsel aufstieg.
Diese Blütezeit war vorbei, als das Osmanische Reich nach der Eroberung Konstantinopels 1453 seine Expansion auf dem Balkan erneuerte und zehn Jahre später Bosnien eroberte. Diese Region stellte für die muslimische Grossmacht eine wichtige Provinz dar, da sie die europäische Grenze des riesigen Reiches schützte. Die Bevölkerung Bosniens konvertierte teilweise zum Islam – besonders die Angehörigen der Bosnischen Kirche und viele Stadtbewohner. Allerdings blieb mehr als die Hälfte der Einwohner dem alten Glauben treu. Dennoch war Bosnien mit Ausnahme von Albanien beim Ende der osmanischen Herrschaft das am stärksten islamisierte Balkanland.
Unter den zum Islam Konvertierten im bosnischen Vilayet des Osmanischen Reiches befanden sich besonders viele Adelige. Auch deshalb bildeten die Muslime die politische und kulturelle Oberschicht Bosniens; zu ihnen gehörten sowohl die Grundbesitzer, deren Ländereien von meist christlichen Pächtern bewirtschaftet wurde, als auch jene, die im osmanischen Staatsdienst – der den Christen weitgehend nicht offenstand – beschäftigt waren. Die Christen, besonders die orthodoxen Serben, waren hingegen mehrheitlich Bauern, die unter schlechten Bedingungen als Pächter für die Grossgrundbesitzer arbeiteten.
Die Rechtsordnung des Osmanischen Reiches fusste auf dem sogenannten Millet-System, das die Einwohner entsprechend ihrer religiösen Zugehörigkeit einer der anerkannten Religionsgemeinschaften zuwies: der muslimischen, griechisch-orthodoxen, armenischen und jüdischen Millet. Die bosnischen Katholiken wurden dabei der griechisch-orthodoxen Millet zugewiesen. Innerhalb dieser relativ autonomen Gemeinschaften, die Steuern erhoben und Gesetze erlassen konnten, galten die Regeln der eigenen Religion.
Das Millet-System förderte die Identifizierung der Nation mit der konfessionellen Zugehörigkeit und trug so zur Entstehung der ethnisch-religiös geprägten Nationen auf dem Balkan bei. Die konfessionelle Zugehörigkeit begünstigte im Zuge der aufkommenden kroatischen und serbischen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert die Identifizierung mit einer bestimmten Ethnie; so nahmen beispielsweise die Katholiken eher die kroatische Identität an, die Griechisch-Orthodoxen die serbische. Die bosnischen Muslime hingegen fühlten sich zunächst primär der Umma zugehörig, also der Gemeinschaft aller Muslime, vorerst ohne eine spezifische ethnische oder nationale Identität aufzubauen. Erst mit der Zeit kristallisierte sich eine solche heraus, und der Begriff «Bosniake», der zuvor alle Einwohner Bosniens bezeichnet hatte, verengte sich auf die Muslime.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts bröckelte die Herrschaft der Osmanen. Mit dem Vorrücken Österreichs und dem Verlust Südungarns und Slawoniens wurde Bosnien wieder Grenzland. Reformversuche konnten den Niedergang des Osmanischen Reiches nicht aufhalten; gegen eine Landreform sperrte sich insbesondere die muslimische Elite, die Grundbesitz besass.
Schliesslich führte 1876 ein Aufstand der bosnischen Serben, der von Serbien aus unterstützt wurde, zum faktischen Ende der osmanischen Herrschaft. Im Berliner Kongress 1878 kam Bosnien unter österreichisch-ungarische Verwaltung, formal blieb es noch bis 1908 unter osmanischer Hoheit. Damit verstärkte sich der Anteil der slawischen Bevölkerung in der Doppelmonarchie. Es gab Bestrebungen, einen eigenen slawischen Reichsteil zu schaffen und damit die Doppelmonarchie in einen dreigeteilten Staat umzugestalten. Dieser Trialismus, der auch vom österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand unterstützt wurde, blieb jedoch ein Wunschgebilde.
Der zunehmende Nationalismus der südslawischen Ethnien machte daher auch der Doppelmonarchie zu schaffen. Auch die K.u.K-Monarchie stützte sich zur Absicherung ihrer Herrschaft auf die muslimischen Eliten, die sie etwa durch die Anerkennung des Islams als gleichberechtigte Religion zu gewinnen suchte. Die mehrheitlich katholischen Kroaten zeigten sich ebenfalls vergleichsweise loyal, während die Serben zunehmend auf einen Anschluss an das seit 1867 faktisch unabhängige Serbien hofften.
Noch vor der Ermordung des Thronfolgerpaars im Juni 1914 durch serbische Nationalisten in Sarajevo, die den Ersten Weltkrieg auslöste, galten die Serben als Feinde der Habsburgermonarchie. Unmittelbar nach dem Attentat kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen von Bosniaken und Kroaten gegen Serben. Die Serben bekamen auch die Auswirkungen der militärischen Sonderverwaltung nach Kriegsbeginn am deutlichsten zu spüren. Diese Sonderverwaltung, die in allen habsburgischen Ländern eingerichtet wurde, war in Bosnien besonders harsch, da sich das Land in der Nähe der Front und an der Grenze zu den Erzfeinden Serbien und Montenegro befand. Zehntausende von Serben in Bosnien wurden interniert, aus der Frontregion vertrieben oder ermordet.
Nach dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie in den letzten Tagen des Krieges kam es zu Gewalttaten gegen Gruppen, die als Nutzniesser der österreichisch-ungarischen Herrschaft galten; in Bosnien vornehmlich Bosniaken und Kroaten. Das Gebiet Bosniens gelangte nun zum neuen Vielvölkerstaat Jugoslawien. Für die integrative Ideologie des Jugoslawismus stellte das multireligiöse Bosnien das «Herz Jugoslawiens» dar. Das «Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen» anerkannte jedoch weder muslimische Bosniaken noch Montenegriner oder Mazedonier als eigenständige Nationen.
Zudem wurde der jugoslawische Staat von der serbischen Volksgruppe dominiert; in der Regierung und der Verwaltung, am deutlichsten aber in der Armee, in der drei Viertel aller Offiziere serbischer Herkunft waren. Vor allem der kroatische Teil der Bevölkerung fühlte sich dadurch im neuen Staat nicht ausreichend repräsentiert. Die Unzufriedenheit nahm noch zu, nachdem 1921 eine zentralistische Verfassung verabschiedet worden war, die die grossserbische Hegemonie zementierte.
Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs gelang es nicht, das jugoslawische Königreich grundlegend zu reformieren und wirkliche föderalistische Strukturen zu etablieren. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im April 1941 ordneten die Deutschen das Land neu: In Kroatien und Teilen Bosniens und der Herzegowina entstand ein kroatischer Vasallenstaat, der von der faschistischen Ustascha-Bewegung beherrscht wurde. Daneben existierte unter deutscher Besatzung ein serbischer Rumpfstaat, während umfangreiche Grenzgebiete von Deutschland, Italien und anderen Staaten annektiert wurden.
Der Terror der Ustascha richtete sich gegen Juden und Roma, von denen zehntausende umgebracht wurden. Als Hauptfeind aber galten die orthodoxen Serben, die zum Teil zwangskatholisiert, vertrieben oder in Konzentrationslager wie das berüchtigte Jasenovac gesperrt wurden. Der Ustascha-Führer Ante Pavelić strebte ein serbenfreies Gross-Kroatien an – zwischen 330'000 und 390'000 Serben wurden ermordet, möglicherweise noch mehr.
Die muslimische Bevölkerung Bosniens wurde hingegen umworben, und das kroatische Regime rekrutierte muslimische Truppen, die es gegen die Partisanengruppen einsetzte, die sich gegen die Schreckensherrschaft der Ustascha und der deutschen Besatzer formiert hatten: die kommunistischen Partisanen unter Josip Broz Tito sowie die nationalistischen serbischen Widerstandskämpfer – die Tschetniks, die freilich zu Beginn teilweise mit den deutschen Besatzern kollaborierten.
Der blutige und gnadenlose Partisanenkrieg eskalierte rasch. Muslimische Dörfer wurden schnell zur Zielscheibe von Vergeltungsaktionen vornehmlich serbischer Partisanen. Führende Repräsentanten der Bosniaken wandten sich deshalb an die Deutschen und baten sie um Schutz, während sie gleichzeitig ihre Loyalität zu Hitler betonten und ihre Unterstützung für den Kampf gegen «Judaismus, Freimaurerei und Bolschewismus» anboten. Die SS erklärte Deutschland zum Schutzherrn des Islam in Südosteuropa und bildete aus muslimischen Freiwilligen die SS-Division «Handschar».
Doch weder SS noch Wehrmacht konnten und wollten am Ende die muslimische Zivilbevölkerung schützen; im Gegenteil, auch diese wurde zum Opfer deutscher Kriegsverbrechen. Insgesamt kamen in Jugoslawien während des Krieges fast eine Million Zivilisten ums Leben. Der Partisanenkrieg nahezu aller gegen alle und die grausamen Vergeltungsaktionen an der Zivilbevölkerung hinterliessen tiefe Wunden.
Gegen Ende des Krieges zeigte sich, dass die kommunistischen Partisanen unter der Leitung Titos die Macht im Nachkriegs-Jugoslawien übernehmen würden. Zehntausende Angehörige von Truppen der Kollaborateure und der antikommunistischen Tschetniks wurden in Schnellgerichten verurteilt und hingerichtet, es kam auch zu Massakern wie in Bleiburg, wo bis zu 60'000 Kroaten, Bosniaken und Slowenen umgebracht wurden.
Die neuen Machthaber gründeten Jugoslawien als sozialistische Bundesrepublik neu, in der alle Völker gleichberechtigt sein sollten. Die sechs Teilrepubliken – Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien – erhielten im Lauf der Zeit mehr Autonomie, und 1974 wurden innerhalb Serbiens auch noch zwei von dieser Teilrepublik weitgehend unabhängige autonome Provinzen – Kosovo und Vojvodina – gebildet. Tito band den serbischen Einfluss zurück und stärkte die Position von Minderheiten wie der Albaner.
Während der unbestrittenen Herrschaft Titos, der sein Land dem sowjetischen Einfluss zu entziehen wusste und Jugoslawien zum Gründungsmitglied der Blockfreien machte, blieben ethnische und religiöse Konflikte im Hintergrund. Immer mehr Einwohner schienen sich primär als Jugoslawen zu sehen, weniger als Serben, Bosniaken oder Kroaten. Dennoch blieben die alten Barrieren zwischen den Nationalitäten bestehen: Noch in den Achtzigerjahren wurden mehr als 87 Prozent aller Ehen zwischen Angehörigen derselben Nationalität geschlossen.
Nach Titos Tod im Mai 1980 gewannen die Spannungen aber wieder an Schärfe, auch aufgrund des ökonomischen Ungleichgewichts zwischen den reicheren nördlichen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien sowie den ärmeren südlichen, das sich über die Jahre hinweg noch verstärkt hatte. Dies fiel umso mehr ins Gewicht, als das Land auf eine Wirtschaftskrise zusteuerte. Gegen Ende des Kalten Krieges gab es bereits deutliche Auflösungserscheinungen. Mit dem Fall der Mauer im November 1989 und dem Untergang der kommunistischen Regimes in Osteuropa ergriffen separatistische Tendenzen auch die jugoslawischen Teilrepubliken, vor allen Dingen im Norden.
Serbien, an dessen Spitze seit 1989 der zum Nationalisten gewandelte ehemalige Kommunist Slobodan Milošević stand, versuchte hingegen, die Krise Jugoslawiens durch vermehrte Zentralisierung zu bewältigen. Als sich dies angesichts der zentrifugalen Kräfte in Slowenien und Kroatien nicht mehr als realistisch erwies, schwenkte die serbische Führung um. Da mehr als ein Viertel der Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina lebten, stand der Zusammenhalt der serbisch bewohnten Gebiete im Vordergrund der serbischen Politik.
Als sich 1991 immer deutlicher abzeichnete, dass Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina den Bundesstaat verlassen würden, gründeten die kroatischen und bosnischen Serben ihre eigenen Staaten: die Republik Serbische Krajina in Kroatien und die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina, die den Anschluss an Serbien suchten. Der Versuch, einen grossserbischen Staat zu etablieren, der alle mehrheitlich serbisch besiedelten Gebiete des ehemaligen Jugoslawien umfassen sollte, stürzte die Nachfolgestaaten des Vielvölkerstaats in eine Reihe von blutigen Konflikten.
Nachdem sich Slowenien und Kroatien im Juni 1991 aus dem jugoslawischen Staatsverband gelöst hatten, kam es zunächst zu Gefechten der slowenischen Territorialverteidigung und Polizei gegen die serbisch dominierte Jugoslawische Volksarmee (JNA). Dieser sogenannte 10-Tage-Krieg endete mit dem schnellen Rückzug der jugoslawischen Truppen. In Slowenien gab es nur eine kleine serbische Minderheit, die zudem nicht in kompakten Siedlungsgebieten lebte.
Ganz im Gegensatz dazu kam es kurz darauf in Kroatien zu verlustreichen Kämpfen. In den serbisch dominierten Gebieten fanden ethnische Säuberungen statt, während Kroatien den Serben den Status als zweites Staatsvolk entzog. Den serbischen Einheiten, die von der JNA unterstützt wurden, gelang es, rund ein Drittel Kroatiens zu besetzen; auch hier kam es zu umfangreichen Vertreibungen. Kroatische Truppen konnten diese Gebiete in mehreren Gegenoffensiven bis 1995 zurückerobern, wobei zwischen 150'000 bis 200'000 Serben aus der Krajina nach Bosnien und Serbien flohen.
Noch blutiger verlief der Bosnienkrieg. In dieser Teilrepublik waren die ethnischen Verhältnisse komplizierter; die grosse serbische Minderheit (rund ein Drittel) strebte den Anschluss an Serbien an, während die muslimischen Bosniaken (knapp 40 %) einen eigenen unabhängigen Staat favorisierten und die kroatische Minderheit (gut 18 %) wiederum einem Anschluss an Kroatien zuneigte. Nachdem die muslimische und kroatische Bevölkerung im Frühjahr 1992 in einem von den Serben boykottierten Referendum für die Unabhängigkeit votiert hatte, eskalierte der Konflikt.
Auch hier rückten von der JNA unterstützte paramilitärische serbische Verbände rasch vor und konnten bald mehr als zwei Drittel Bosnien-Herzegowinas unter Kontrolle bringen. Ihnen kam zustatten, dass Kroaten und Bosniaken, die zu Beginn gemeinsam gegen die Serben gekämpft hatten, sich von 1992 bis 1994 gegenseitig bekämpften. Hunderttausende vornehmlich muslimische Bosniaken wurden vertrieben; zeitweise befand sich nahezu die Hälfte der bosnischen Bevölkerung auf der Flucht. Die Hauptstadt Sarajevo wurde jahrelang belagert und von Heckenschützen beschossen, wobei rund 11'000 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, ums Leben kamen.
Grausamer Höhepunkt der ethnischen Säuberungen war der Genozid von Srebrenica* 1995, bei dem bosnische Serben mehr als 8000 Bosniaken ermordeten. Es handelte sich um das grösste Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Verantwortlichen – der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić und der serbische General Ratko Mladić – wurden vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag zu lebenslanger Haft verurteilt.
Nach Srebrenica intensivierte die Nato, die zuvor vornehmlich ein Flugverbot über Bosnien-Herzegowina erzwungen hatte, ihre Luftangriffe auf serbische Stellungen. Zugleich brachte der Vormarsch kroatischer Truppen in der Krajina und in Bosnien die Serben weiter in die Defensive. Die zunehmend erschöpften Kriegsparteien unterzeichneten schliesslich im November 1995 unter starkem amerikanischem Druck das Abkommen von Dayton, das den Krieg beendete. Den jahrelangen Kämpfen waren mehr als 100'000 Menschen zum Opfer gefallen; die Mehrzahl von ihnen Bosniaken. Die Jugoslawienkriege endeten jedoch erst 1998, nachdem die Nato – freilich ohne Uno-Mandat – in einem Luftkrieg gegen Serbien den Rückzug serbischer Truppen aus der Provinz Kosovo erzwungen hatte.
Seit dem Abkommen von Dayton besteht Bosnien-Herzegowina als souveräner Staat gemäss der Formel «One State, two entities and three nations» nun also aus den zwei Entitäten der serbisch dominierten Republika Srpska und der bosniakisch-kroatischen Föderation. Hinzu kommt der Brčko-Distrikt, der ein Kondominium zwischen den beiden Teilrepubliken darstellt und faktisch unter Kontrolle der Bundesregierung lokal selbstverwaltet wird.
Das Land wurde zudem einer internationalen militärischen und zivilen Kontrolle unterworfen; so soll die von der EU gestellte Eufor mit rund 1500 Soldaten die Einhaltung des Abkommens überwachen. Zudem besteht das Amt des Hohen Repräsentanten der Uno, der weitreichende Vollmachten geniesst und nach wie vor sämtliche demokratischen Einrichtungen im Land überstimmen und auch demokratisch gewählte Amtsträger entlassen darf.
Das politische System ist dermassen komplex, dass es nahezu dysfunktional ist, zumal sich das Verhältnis zwischen den verschiedenen Nationalitäten kaum entspannt hat. Der Gesamtstaat ist etwa für die Aussenpolitik und den Aussenhandel, die Zoll- und Währungspolitik, internationale Strafverfolgung, Grenzschutz und Luftverkehrshoheit zuständig, daneben auch für Telekommunikation und Migrationsfragen. Im Staatspräsidium, dessen Vorsitz alle acht Monate rotiert, sitzt jeweils ein Vertreter der kroatischen, der bosniakischen sowie der serbischen Bosnier, die in ihren Territorien gewählt werden.
Das nationale Parlament besteht aus zwei Kammern, dem Repräsentantenhaus und der Völkerkammer. Das Repräsentantenhaus setzt sich aus 28 Abgeordneten der kroatisch-bosniakischen Föderation und 14 Vertretern der Republika Srpska zusammen. Die Völkerkammer, die aus je fünf kroatischen, bosniakischen und serbischen Vertretern besteht, soll die «vitalen Interessen» der Nationalitäten wahren. Die beiden Entitäten verfügen jedoch zusätzlich auch über eigene Parlamente. Zudem ist die kroatisch-bosniakische Föderation noch weiter in zehn Kantone mit eigenen Parlamenten unterteilt. Das Parteiengefüge ist überdies extrem zersplittert, da in jeder Volksgruppe eine eigene Parteienstruktur existiert.
Aus den Wahlen 2018 gingen die nationalistischen Partien als Sieger hervor, was die Dysfunktionalität des Systems noch akzentuierte. Besonders der langjährige Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik – der wie eingangs erwähnt die Abspaltung der Teilrepublik betreibt –, erweist sich zunehmend als Scharfmacher. Er bezeichnete Bosnien-Herzegowina verschiedentlich als nicht zukunftsfähiges Konstrukt und selbst als «Teufelsstaat».
Angesichts der dysfunktionalen politischen Ordnung Bosnien-Herzegowinas könnte Dodik am Ende Recht behalten – es gibt nicht wenige unabhängige Beobachter, die davon ausgehen, dass das Abkommen von Dayton keine wirklich tragfähige Neuordnung geschaffen habe und das Land nach wie vor tief gespalten sei. Ein neuer Krieg ist hingegen unwahrscheinlich, auch weil sich die ältere Generation noch gut an die Gräuel des Bosnienkrieges erinnert und die internationale Gemeinschaft ein erneutes Blutbad wohl nicht hinnehmen würde.
* In der ursprünglichen Fassung des Textes war an dieser Stelle vom «Massaker von Srebrenica» die Rede. Diese Wortwahl berücksichtigte den Umstand nicht, dass die Klassifizierung des Massenmords als Genozid eine politisch-juristische Dimension hat und die Nicht-Verwendung des Begriffs «Genozid» daher als Stellungnahme für jene Seite interpretiert werden kann, die den Begriff in diesem Zusammenhang ablehnt. Dies war nicht die Absicht.
Seit 10 Jahren versucht mein serbischer Kollege alljährlich, mir das Ganze begreiflich zu machen. Da sitzen wir dann vor Google Maps und brüten über Grenzlinien und Ethnien.
Danke also an Huber für den informativen Text!