Mit Bangen schauten viele in Grossbritannien auf den Mittwochabend. In mehreren Städten wurde erneut mit rechtsradikalen Aufmärschen gerechnet. Von einem «Big Day» sprach Sky News unter Berufung auf Sicherheitskreise. 6000 Polizisten wurden mobilisiert, rund ein Drittel der auf Krawalle spezialisierten Einsatzkräfte in England und Wales.
Am Ende aber stand das grosse Aufatmen. Denn an diesem Abend waren kaum rechte Schläger erschienen, dafür aber tausende Gegendemonstranten mit Schildern wie «Omas gegen Nazis». Im Badeort Brighton waren es gemäss dem «Guardian» rund 500, die einer Handvoll Migrationsgegnern zuriefen: «Runter von unseren Strassen, Nazi-Gesindel!»
Von einer «sehr erfolgreichen Nacht» sprach der Londoner Polizeichef Mark Rowley gegenüber der BBC. Etwas zurückhaltender äusserte sich Diana Johnson, die für die Polizei zuständige Staatssekretärin in der neuen Labour-Regierung. Sie kündigte an, man werde alle aufspüren, die online «Dinge tun», also kriminelle Aktivitäten anheizen.
Noch ist unklar, ob das Schlimmste überstanden ist. Am Wochenende könnte es zu neuen Ausschreitungen kommen. Nick Lowles, ein renommierter Experte für Rechtsextremismus, zeigte sich gegenüber dem «Guardian» nicht überrascht, dass es am Mittwoch relativ ruhig blieb. Es habe im Vorfeld wenige Aktivitäten in einschlägigen Foren und Whatsapp-Gruppen gegeben.
Die Befürchtungen waren durch eine Liste potenzieller Ziele geschürt worden, die in den sozialen Medien kursierte. Darauf befanden sich etwa Anwaltskanzleien, die Migranten beraten. Diese sei gemäss Lowles «von einem Mann in Liverpool» erstellt worden: «Ich denke, es handelt sich um eine Täuschung, um Angst und Panik zu verbreiten.»
Gründe dafür gäbe es, denn was sich seit dem 29. Juli abspielte, ist gravierend genug. An jenem Tag erstach ein 17-Jähriger in der Stadt Southport drei Mädchen, die an einem Taylor-Swift-Workshop teilgenommen hatten. Im Internet verbreitete sich das Gerücht, es handle sich um einen syrischen Muslim, der letztes Jahr per Boot über den Ärmelkanal gekommen sei.
Die Behörden stellten rasch klar, dass es sich beim mutmasslichen Täter, dessen Motiv noch immer unklar ist, um einen in Grossbritannien geborenen Sohn ruandischer Eltern handelte. Die Welle des fremdenfeindlichen Hasses, die aus dem Internet auf die Strasse schwappte, liess sich damit nicht stoppen. Besonders heftig waren die Krawalle am letzten Wochenende.
Angeheizt wurden sie durch einschlägig bekannte Hetzer wie Tommy Robinson, den Gründer der rechtsextremen English Defence League (EDL). Er heisst eigentlich Stephen Yaxley-Lennon, stand schon mehrfach vor Gericht und hat sich vor einem weiteren Strafverfahren nach Zypern abgesetzt, von wo aus er die Randalierer anfeuert.
Robinson war 2018 auf Twitter gesperrt worden und darf sich dort seit der Übernahme durch Elon Musk wieder austoben. Der zunehmend in rechtsradikale Verschwörungskreise abdriftende Multimilliardär schwadronierte seinerseits über einen «unvermeidlichen Bürgerkrieg» im Königreich und legte sich mit Premierminister Keir Starmer an.
Eine dubiose Rolle spielte auch ein Pseudo-Newsportal namens Channel3Now, das die Meldung über den angeblichen syrischen Messerstecher gepostet hatte, inklusive seines «Namens». Mögliche Verbindungen nach Russland konnte eine BBC-Recherche nicht bestätigen. Die Betreiber der Website sollen sich in den USA befinden.
Nun wird im Königreich darüber beraten, wie man verstärkt gegen Fake News im Internet vorgehen könne. Gegen einige Randalierer wurden im Schnellverfahren Haftstrafen von bis zu drei Jahren verhängt. Sie könnten einen gewissen abschreckenden Effekt gehabt und dazu beigetragen haben, dass die Lage am Mittwochabend nicht eskalierte.
In der Verurteilung der rechtsradikalen Unruhestifter ist sich das britische Establishment bemerkenswert einig. König Charles liess sich regelmässig über die Lage informieren. Die Labour-Regierung stärkte der Polizei den Rücken. Premier Starmer, ein ehemaliger Generalstaatsanwalt für England und Wales, kündigte ein hartes Durchgreifen an.
Für den Regierungschef sind die Krawalle die erste Bewährungsprobe nach einem Monat im Amt. Von der Opposition hat er wenig zu befürchten. Die bei den Wahlen am 4. Juli schwer geschlagenen Konservativen forderten höchstens ein noch härteres Eingreifen der Polizei. Ambivalent äusserte sich einzig Nigel Farage, der Chef der Partei Reform UK.
Der charismatische Rechtspopulist hatte sich stets gegen die extreme Rechte abgegrenzt. Er betonte aber, hinter den Krawallen stecke eine «weitverbreitete Besorgnis». In erster Linie zielte Farage damit auf die «Masseneinwanderung», doch selbst Experten warnen davor, die Krawalle einfach auf Rassismus und Extremismus zu reduzieren.
Jacob Davey vom Institute for Strategic Dialogue (ISD) sagte dem «Observer», rechte Hetze im Internet könne nur erblühen, wenn sie in der realen Welt den entsprechenden Nährboden finde: «Es gibt einen unterschwelligen Groll, der von zynischen Akteuren kapitalisiert wird.» Davey nannte etwa Arbeitslosigkeit und wachsende Armut als Folge der Inflation.
Die radikale Rechte habe darauf eine simple Antwort: Wenn es keine Lohnerhöhung gebe, sei «diese Gruppe» Schuld daran, also die Migranten. Der Frust über die hohe Zuwanderung war der Hauptgrund für das Ja in der Abstimmung über den EU-Austritt vor acht Jahren. Doch seither sind nicht weniger Menschen eingewandert, sondern mehr.
Besonders im Norden Englands, wo die meisten Krawalle stattfanden, sind viele von der Politik angewidert und werden zu «Mitläufern». Völlig unverständlich ist das nicht. Der frühere Tory-Premierminister Boris Johnson verdankte seinen glänzenden Wahlsieg 2019 auch den grossen Versprechungen an die Menschen im Norden. Geliefert hat er nichts.
«Eine der grössten Herausforderungen der neuen Labour-Regierung wird es sein, hier andere Akzente zu setzen, die bei den Bürgern auch wirklich ankommen», schrieb die NZZ. Entsprechende Ankündigungen von Keir Starmer und seinem Kabinett gibt es. Nun müssen Taten folgen, sonst kommt es irgendwann zur nächsten «Explosion».