In der Kaukasusrepublik Georgien herrscht Chaos. Zehntausende Menschen demonstrieren gegen die Regierung, nachdem der nationalkonservative Ministerpräsident Irakli Kobachidse den Beitrittsprozess zur Europäischen Union (EU) für gestoppt erklärt hat. Die Polizei meldete 107 Festnahmen alleine in der Stadt Tiflis. Laut Augenzeugen waren es die grössten Proteste in den vergangenen Wochen.
Der Protest richtet sich auch gegen den zunehmend autoritären Kurs der Regierung. Die Opposition spricht zudem von Wahlfälschung und russischer Einmischung bei den Parlamentswahlen Ende Oktober, bei denen die russlandfreundliche Regierungspartei Georgischer Traum die absolute Mehrheit errang.
Georgien befindet sich am Scheideweg zwischen Europa und Russland. Die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet die Annäherung an die EU, während die Regierungspartei zunehmend EU-kritisch agiert. Das Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn im Norden ist schwierig, da der Kreml eine Westorientierung Georgiens als Bedrohung ansieht. Wie ist es dazu gekommen?
Im Zuge der Expansion des Russischen Kaiserreichs geriet auch das Gebiet südlich des Kaukasus-Hauptkamms, das zuvor jahrhundertelang zu Persien gehört hatte, unter russische Herrschaft. 1799 eroberten russische Truppen Tiflis; 1801 wurde Georgien per Dekret des Zaren annektiert. Die westlichen Teile Georgiens konnte Moskau erst in den folgenden Jahrzehnten unterwerfen.
Während die russische Herrschaft Georgien dem Einfluss Europas öffnete – Tiflis galt als «Paris des Ostens» –, verfolgte das Kaiserreich eine intensive Politik der Russifizierung. In Georgien erstarkte darauf eine nationale Befreiungsbewegung, die jedoch die russische Herrschaft nicht zu brechen vermochte.
Mit dem Zusammenbruch der Zarenherrschaft und der Machtübernahme der Bolschewiki erlangte Georgien – ebenso wie Armenien und Aserbaidschan – zeitweilig die Unabhängigkeit, die 1920 von Sowjetrussland anerkannt wurde. Die Verfassung des Landes richtete sich nach dem Vorbild der Schweiz. Die unabhängige georgische Republik blieb freilich eine Episode; bereits im Februar 1921 marschierte die Rote Armee ein und Georgien wurde als Georgische Sozialistische Sowjetrepublik erneut dem russischen Machtbereich eingegliedert.
Die Sowjets zerschlugen den bisherigen georgischen Staat. Zehntausende Georgier, vornehmlich aus der Elite des Landes, wurden umgebracht oder in Straflager verbannt. Die Regionen Südossetien und Adscharien erhielten weitgehende Autonomierechte, während Abchasien sich bis 1931 ganz von Georgien löste.
Ab den 1970er-Jahren formierte sich eine neue Nationalbewegung, die sich der Russifizierung Georgiens entgegenstemmte und die kulturelle Identität des Landes zu bewahren suchte. Zwischen dieser nationalistischen Opposition und den kommunistischen Machthabern in Tiflis kam es gegen Ende der 1980er-Jahre, als Michail Gorbatschows Reformpolitik die sowjetische Repression lockerte, zu Auseinandersetzungen, die einen zunehmend gewalttätigen Charakter annahmen.
Im Frühjahr 1991, als die Sowjetunion bereits ihrem Untergang entgegentaumelte, sprachen sich beinahe 100 Prozent der Stimmen in einem Referendum für die Unabhängigkeit aus, die am 9. April proklamiert wurde. Der erste Präsident der neuen Republik, Swiad Gamsachurdia, verfolgte einen streng antisowjetischen Kurs und sorgte dafür, dass Georgien der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) fernblieb.
Von Anfang an war die Republik Georgien mit Sezessionsbestrebungen in den Regionen Abchasien, Adscharien und Südossetien konfrontiert. Der georgische Nationalismus verstärkte diese Bestrebungen, da die Minderheiten sich dadurch bedroht fühlten. Die Autonome Republik Adscharien im Südwesten Georgiens konnte sich unter der Führung von Aslan Abaschidse schon 1991 der Kontrolle durch die Regierung in Tiflis weitgehend entziehen; erst 2004 gelang es dieser, Abaschidse zu vertreiben und Adscharien wieder mit dem restlichen Staatsgebiet zu vereinen.
Folgenschwerer war die Abspaltung von Abchasien und Südossetien. Letzteres hatte sich bereits 1989 erstmals für unabhängig erklärt, worauf es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam, die von sowjetischen Einheiten beendet wurden. 1990 erklärte Südossetien erneut seine Unabhängigkeit, was zu einem Einmarsch georgischer Paramilitärs führte, die wiederum von sowjetischen Truppen gestoppt wurden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zog Russland 1992 die Truppen ab, worauf es zu Zusammenstössen zwischen Osseten und Georgiern kam.
In der Autonomen Republik Abchasien begann 1992 ein Krieg zwischen sezessionistischen Milizen und bewaffneten Einheiten der Regierung, der im Jahr darauf durch die Intervention russischer Truppen mit einer vernichtenden Niederlage der georgischen Seite endete. Darauf folgte eine ethnische Säuberung, die in Sochumi in einem Massaker an der georgischen Zivilbevölkerung gipfelte. Nahezu sämtliche georgischen Einwohner wurden aus Abchasien vertrieben. Nach dem Waffenstillstand 1994 wurden mit georgischer Zustimmung russische Friedenstruppen mit Mandat der GUS in Abchasien und Südossetien stationiert.
Im Sommer 2008 führten die Spannungen zwischen Georgien und den beiden abtrünnigen Regionen zum sogenannten Kaukasuskrieg. Georgische Truppen drangen schliesslich im August nach Südossetien vor, um das Gebiet gewaltsam wieder unter Kontrolle der Regierung in Tiflis zu bringen. Georgien, das die Loslösung von Südossetien und Abchasien befürchtete, hoffte dabei auf Unterstützung durch den Westen, namentlich durch die USA.
Russland reagierte auf den georgischen Vormarsch mit einer militärischen Intervention, in deren Verlauf die georgischen Truppen vollständig aus Südossetien vertrieben wurden. Der fünftägige Krieg, der teilweise auch auf Abchasien übergriff, endete mit Verhandlungen zwischen Georgien und Russland. Die beiden Staaten brachen ihre diplomatischen Beziehungen aufgrund des Krieges ab und haben sie bis heute nicht wieder aufgenommen.
Tiflis beharrte nach dem Krieg auf der Darstellung, der Einmarsch in Südossetien sei präventiv erfolgt, um einem Angriff Russlands zuvorzukommen. Eine Untersuchungskommission der EU kam 2009 zum Schluss, es habe keine Hinweise auf einen militärischen Angriff russischer Truppen gegeben, Russland habe jedoch den Konflikt bereits seit Langem angefacht, um seine Einflusszone nach Süden auszudehnen. Moskau, das noch 2005 erklärt hatte, Georgien habe das Recht, der NATO beizutreten, und man werde seine Entscheidung respektieren, machte wiederum die Annäherung Georgiens an den Westen für die Eskalation verantwortlich.
Russland unterhält seit dem Kaukasuskrieg reguläre Truppen in beiden Gebieten. Diese befinden sich nach internationalem Recht auf georgischem Staatsgebiet. Zudem anerkannte Russland sowohl Südossetien als auch Abchasien als selbstständige Staaten, obwohl beide Regionen völkerrechtlich nach wie vor zu Georgien gehören. Nur wenige Länder folgten bisher diesem Beispiel. 2002 begann Russland, Pässe an Einwohner der De-facto-Staaten Abchasien und Südossetien zu verteilen.
Bereits 1992 trat Georgien dem von der NATO geführten Nordatlantischen Kooperationsrat und 1994 der Partnerschaft für den Frieden bei. 2001 fanden erste gemeinsame Manöver mit der NATO statt; im Jahr darauf bat Präsident Eduard Schewardnadse zum ersten Mal offiziell um eine Einladung zum NATO-Beitritt. Die USA, die seit 2002 den Aufbau der schwachen georgischen Streitkräfte unterstützten, förderten den NATO-Beitritt Georgiens, das wiederum Washington als engsten Sicherheitspartner betrachtet. Das westliche Verteidigungsbündnis stellte dem Land im Frühjahr 2008 den Beitritt in Aussicht. Diese Zusage wurde zehn Jahre später erneuert.
Die Zustimmung in der Bevölkerung in Georgien zu einem möglichen NATO-Beitritt ist zwar nach wie vor gross, doch im Westen haben die Bedenken – trotz einer erneuten Bekräftigung der Beitrittsperspektive im Jahr 2021 – zugenommen. Diese sind in den innenpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre im Kaukasusland begründet, die zu einem Rückgang bei Demokratie und Rechtssicherheit geführt haben. Die NATO fordert daher von Tiflis demokratische Reformen als Beitrittsbedingung. Vor allem hat aber die Wiederannäherung an Russland unter der aktuellen Regierung die Beziehungen abgekühlt. 2023 verkündete der damalige Ministerpräsident Irakli Gharibaschwili: «Einer der Gründe für [den Ukrainekrieg] war die NATO; die Erweiterung der NATO. Was wir sehen, sind die Konsequenzen.»
Seit 2009 ist Georgien über die sogenannte Östliche Partnerschaft mit der EU verbunden. Dieses Projekt gehört wie die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) und die Schwarzmeerpolitik (Black Sea Synergy) zu den ostpolitischen Projekten der EU. Das Land ist zudem seit 2014 Mitglied der Vertieften und Umfassenden Freihandelszone (DCFTA). Und seit 2016 besteht ein Assoziierungsabkommen mit der EU, das den Export aus Georgien deutlich angekurbelt hat.
Am 3. März 2022, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, stellte Georgien den Antrag auf Mitgliedschaft in der EU. Seit Dezember 2013 ist es – gemeinsam mit der Ukraine und der Republik Moldau – offiziell Beitrittskandidat. Bis das Land der EU beitreten kann, verlangt die EU-Kommission allerdings weitere umfassende Reformen, etwa im Bereich der Justiz und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität.
Obwohl die Bevölkerung überwiegend EU-freundlich eingestellt ist – 2022 sprachen sich vier von fünf Einwohnern für den Beitritt aus –, dürfte es daher noch lange dauern, bis Georgien Mitglied der EU wird. Falls es überhaupt noch dazu kommt – spätestens seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs hat die aktuelle Regierung eine Kehrtwende vollzogen, gibt sich vermehrt euroskeptisch und sucht die Nähe Russlands. Auch die EU hat deshalb die Annäherung auf Eis gelegt.
Irgendwie passt das nicht zusammen.