Es war das drittstärkste je gemessene Seebeben, das sich am frühen Morgen des 26. Dezembers 2004 im Indischen Ozean ereignete. Mit einer Stärke von 9,1 (oder 9,2/9,3 – man weiss es nicht so genau) auf der Richterskala setzte das Beben eine Energie frei, die derjenigen von 230'000 Atombomben entsprach. «Die bei diesem Erdbeben freigesetzte Energie war so gross, dass sie sich über Hunderte von Jahren langsam aufgebaut haben muss», erklärt ein Seismologe.
20 Minuten nach dem starken Beben erreichte die indonesische Stadt Banda Aceh eine Serie von Wellen in der Höhe von bis zu 30 Meter. Die Stadt wurde fast komplett dem Erdboden gleichgemacht. Innerhalb der nächsten Stunden rasten riesige Wellen mit etwa 800 Kilometer pro Stunde über den Indischen Ozean. Zwei Stunden nach dem Erdbeben erreichten sie Thailand, Sri Lanka und Indien. Stunden später überschwemmte der Tsunami Teile von Afrika. Insgesamt verloren schätzungsweise 230'000 Menschen ihr Leben.
Am 26. Dezember 2024 schaut die Welt zurück auf die Katastrophe, die eine Welt hinterliess, in der vielerorts nichts mehr war wie zuvor.
Dass der Tsunami Ende 2004 das Leben von Millionen Menschen veränderte, ist bekannt. Weniger bekannt sind hingegen die Auswirkungen, die das Seebeben auf die Erde selbst hatten.
Wie die Nasa wenige Wochen nach der Katastrophe berichtete, waren die Veränderungen enorm – und kaum vorstellbar. Demnach hat sich als Folge der Nordpol verschoben, die Form der Erde verändert und infolgedessen wurden gar unsere Tage kürzer.
Das verheerende Mega-Seebeben wurde durch das Aufeinandertreffen zweier Platten ausgelöst. Konkret lösten sich auf einen Schlag die Spannungen, die sich durch das Gleiten der indischen Platte unter die überlagernde Burma-Platte entwickelt hatten. Weil der Nettoeffekt eine etwas kompaktere Erde war, beschleunigte sich – analog einer sich drehenden Eiskunstläuferin, die ihre Arme einzieht – als Folge die Erdrotation.
Wer jetzt denkt, das sei der Grund, warum sich die Tage immer kürzer anfühlen, täuscht sich aber: Der von der Nasa berechnete Effekt beläuft sich auf 2,68 Mikrosekunden pro Tag. Theoretisch deutlich sichtbarer ist hingegen die Verschiebung des Nordpols: «Die ‹Nordpol-Mitte› wurde um etwa 2,5 Zentimeter in Richtung 145 Grad östlicher Länge verschoben», so die Nasa. Diese Verschiebung nach Osten setze einen langfristigen seismischen Trend fort, der in früheren Studien festgestellt wurde.
Als die Provinz Aceh am 26. Dezember 2004 von mehreren Tsunami-Wellen – Höhe: 15 bis 30 Meter – getroffen wurde, starben mindestens 160'000 der dort lebenden Menschen, über eine halbe Million wurde obdachlos. Da sich die Provinz am nächsten am Sumatra-Andamanen-Beben befand, wurde sie mitunter als erstes von einer als «schwarzen Wand» beschriebenen Welle getroffen, nur gerade 20 Minuten nach dem Seebeben. Die Provinz am nördlichen Ende der grossen indonesischen Insel Sumatra, und dabei insbesondere die direkt am Meer gelegene Stadt Banda Aceh, beklagte damit mit Abstand am meisten Opfer.
Dabei war Aceh bereits zuvor schon nicht mit Wohlstand und Stabilität gesegnet. Fast 30 Jahre lang herrschte dort Bürgerkrieg: Islamistische Rebellen der Gruppe Gerakan Aceh Merdeka (kurz: GAM) kämpften, getrieben von kultureller und ökonomischer Ungleichheit sowie von Rohstoffausbeutung, um Unabhängigkeit. Viele Versuche, Frieden zu schliessen, einschliesslich des letzten vor dem Tsunami im Jahr 2003, scheiterten. Immer wieder flammten die Feindseligkeiten zwischen Jakarta, das entschlossen war, das rohstoffreiche Aceh zu behalten, und den Rebellen auf. Die jahrzehntelange Gewalt, ausgehend von beiden Seiten, forderte mehr als 15'000 Tote und führte zu Tausenden von Vertriebenen.
Doch dann kam die Tsunami-Katastrophe. Das Jahrhundertereignis führte Rebellen und Regierung zurück an den Verhandlungstisch. Bereits zwei Tage danach erklärte die Rebellengruppe GAM einen Waffenstillstand, und im darauffolgenden August unterzeichneten beide Parteien das «Helsinki Peace Agreement». In dem Abkommen, das mit massgeblicher Hilfe und Mediation aus dem Ausland zustande kam, wird der Tsunami ausdrücklich als Grund angeführt.
Die Folge: Die Rebellen gaben ihre Waffen auf, im Gegenzug erhielten sie Amnestie, und über 1500 Kämpfer wurden aus Gefängnissen entlassen. Die Provinz Aceh erhielt weitgehende kulturelle und politische Autonomie sowie das Recht, 70 Prozent der Rohstoffe zu behalten, zugesichert. Jakarta behielt jedoch weiterhin die Kontrolle über die Finanzen, die Verteidigung und die Aussenpolitik der Provinz.
Spannungen bestehen zwar noch heute in Aceh. So gab es kurz nach den Friedensverhandlungen eine verstärkte Umsetzung der Scharia, einschliesslich der Einführung einer umstrittenen Sitten-Polizei. Zudem werfen Menschenrechtsorganisationen der Regierung in Jakarta vor, sich zu wenig um eine Aufarbeitung der Polizeigewalt während des Bürgerkriegs zu bemühen. Dennoch: Zu einem bewaffneten Konflikt kam es in Aceh seit dem Tsunami nicht mehr.
2007 veröffentlichte die kanadische Journalistin Naomi Klein ein viel beachtetes, Kapitalismus-kritisches Buch mit dem Namen «The Shock Doctrine: The Rise of Disaster Capitalism». In dem Bestseller argumentiert Klein, dass sich die neoliberale Wirtschaftspolitik, die von Ökonomen wie Milton Friedman und der Chicago School of Economics vorangetrieben wurde, mithilfe einer bewussten Strategie global ausbreiten konnte: «Katastrophenkapitalismus». Bei dieser Strategie, so Klein, nutzen politischen Akteure das Chaos von Naturkatastrophen, Kriegen und anderen Krisen aus, um an sich unpopuläre Massnahmen wie Deregulierung und Privatisierung durchzusetzen.
Naomi Kleins Buch wurde von der Ökonomen-Riege zwar stark kritisiert. Bestandteil von «Shock Doctrine» sind aber unter anderem Berichte aus den Tsunami-betroffenen Gebieten nach dem 26. Dezember 2004. Und hier scheint das Bild einer Art von «Schock-Strategie» durchaus zuzutreffen.
Die Hilfsorganisation Action Aid International untersuchte im Jahr nach dem Unglück insgesamt 95 betroffene Städte und Dörfer und fand umfangreiche Beweise für Zwangsumsiedlungen von Menschen – oft zugunsten von kommerziellen Interessen und der Tourismusindustrie.
In Sri Lanka richtete die Regierung kurz nach den Tsunami-Wellen sogenannte «Pufferzonen» entlang «hochgefährdeter» Küstengebiete ein. Infolgedessen wurden Tausende von Menschen von ihrem Land entlang der Küste ferngehalten. Viele verloren den Zugang zu für sie wichtigem Ackerland und Fischerei-Gebieten. Im indischen Bundesstaat Andhrah Pradesh wurden die Bewohner zwei Kilometer von ihrem ursprünglichen Dorf ins Landesinnere umgesiedelt, damit ein neues Touristenzentrum gebaut werden konnte.
Und auch in Thailand berichteten Betroffene von diesen «Pufferzonen». Ein thailändischer Dorfbewohner erzählte den Forschenden: «Ich kam am Tag nach dem Tsunami ins Dorf, um nach meinen Kindern zu suchen, aber die Wächter hatten bereits einen Zaun errichtet.» Der Mann habe sie angefleht, ihn hineinzulassen, «aber sie sagten, es sei ihr Land, auf dem sie ein Hotel bauen würden.»
Ein Artikel der «New York Times» vom März 2005 kam insgesamt zum Schluss: «Der Tsunami, der die Küstenlinie wie ein riesiger Bulldozer weggeräumt hat, hat den Bauunternehmern eine ungeahnte Chance eröffnet, die sie schnell ergriffen haben.»
Genaue Zahlen, wie viele Hotels oder Unternehmen von der Katastrophe profitiert haben, sind kaum zu finden. Einige betroffene Tourismusgebiete, wie Khao Lak in Thailand, generieren aber heute über 50 Prozent mehr Einnahmen aus dem Tourismus als vor dem Tsunami. Die Auswirkungen davon sind komplex: Während die Branche für die einen eine wichtige Einnahmequelle ist, kann der Tourismus für die anderen – zum Beispiel für Fischer-Familien – aber auch zum grossen Problem werden.
Das Seebeben im Indischen Ozean war nicht nur im Ausmass seiner Zerstörung einzigartig, sondern auch in dem, was danach geschah. In Sri Lanka, Indonesien und Thailand tätige Hilfsorganisationen berichteten damals, dass die Betroffenheit sowie die Hilfe aus der Öffentlichkeit alles Bisherige übertraf.
Das Tsunami-Evaluierungskomitee, das sich aus UN-Organisationen und anderen NGOs zusammensetzt, bezeichnete die Hilfszusicherungen als die grosszügigste und am schnellsten finanzierte humanitäre Reaktion in der Geschichte.
Was die Chefin einer in den betroffenen Gebieten aktiven Hilfsorganisation unter anderem mit dieser Aussage meint, ist der Einsatz von Bargeld-Transfers. Dass man Empfängern von Hilfsleistungen schlicht und einfach Geld auszahlt, ist umstritten. Die Praxis steht sinnbildlich für einen der grössten Ideen-Zwiste in der Entwicklungsökonomie: Soll man Betroffene eng begleiten und ihnen in erster Linie vorbestimmte Hilfsgüter liefern – oder wissen sie es selbst am besten?
Gegenüber dem Guardian berichtete vor zehn Jahren der Chef des Disasters Emergency Committee (DEC), der Dachorganisation britischer Wohltätigkeitsorganisationen: «Früher waren die humanitären Organisationen gegen Bargeldtransfers, weil sie oft Risiken darin sahen, wie dieses Geld ausgegeben würde», so Saleh Saeed. «Eine der Lehren, die wir aus der Erprobung von Bargeldtransfers gezogen haben, war, wie effizient sie waren.» Sie hätten es den Menschen ermöglicht, sich vor Ort mit dem Nötigsten zu versorgen, «anstatt Dinge zu erhalten, die sie nicht brauchten oder die zu spät eintrafen». Man habe für die Zukunft viel gelernt, so Saeed:
Das Verfahren von Bargeldtransfers ist seither auch bei anderen Katastropheneinsätzen gezielt eingesetzt worden, etwa beim Taifun «Haiyan» auf den Philippinen.
Dass die Tsunami-Wellen eine unfassbare Zahl von mindestens 240'000 Tote forderten, ist natürlich mit der extremen Stärke von mindestens 9,1 auf der Richterskala zu begründen – aber nicht nur. Zum einen hat die hohe Opferzahl mit einer Reihe unglücklicher Geschehnisse zu tun.
So waren die Behörden in Indonesien nicht in der Lage, eine Warnung auszusenden, weil das Sensorsystem des Landes von einem Blitz getroffen worden war. Die thailändischen Seismologen und Meteorologen entschieden sich nach Registrierung des Bebens gegen eine erste Warnung, da die Daten zu unklar waren – und sie Angst vor den Folgen einer Falschwarnung hatten. In Indien wurde der falsche Beamte über die Katastrophe informiert. In allen Ländern, die vom Tsunami betroffen waren, war die Reaktion grundsätzlich unorganisiert und lethargisch. Viele wussten nicht, wen sie kontaktieren sollten.
Die Folge: Trotz einer zeitlichen Differenz zwischen Seebeben und Tsunami-Wellen von teilweise weit über einer Stunde wurden praktisch alle Opfer überrascht.
Zum anderen wurde aber auch schnell klar: Selbst wenn die Informationswege da gewesen wären und die Technologie einwandfrei funktioniert hätte, waren letztere damals noch stark limitiert. 2004 war das Pacific Tsunami Warning Center (PTWC) auf Hawaii das einzige Tsunami-Überwachungszentrum, das über mehrere Länder operierte.
Am 26. Dezember 2004 registrierte ein Seismometer in Australien ein grosses Beben vor der Küste Nordsumatras im Indischen Ozean. Die Forscher des Pazifischen Tsunami-Warnzentrums bemühten sich sogleich, das Epizentrum des Bebens zu bestimmen – und festzustellen, ob ein Tsunami ausgelöst worden war. Innerhalb weniger Minuten gab das Zentrum sein erstes Bulletin heraus. Die Feststellung: keine Tsunami-Gefahr für die Küsten des Pazifischen Ozeans.
Was jedoch immer wahrscheinlicher wurde, war ein Tsunami im Indischen Ozean. Das vermerkten die Forschenden des PTWC zwar auch, nur: Ihnen fehlte es an konkreten Daten aus dem Ozean. Während es im Pazifischen Ozean, für den die Gefahr eines Tsunamis rein statistisch gesehen deutlich höher liegt als im Indischen Ozean, bereits geeignete Instrumente gab, fehlten diese in letzterem komplett.
Was es konkret gebraucht hätte, wären Daten beispielsweise zum Wasserstand, zu Wellen und zum Wasserdruck. Oder im besten Fall: eine Boje, die all das selbständig ermittelte und ein Warnsignal verschickte. Solche Bojen existierten zu dieser Zeit bereits. Nachdem die Seismometer am Meeresboden ein Beben registriert haben, können diese Bojen Druckveränderungen feststellen, die auf einen Tsunami hindeuten. Sechs sogenannte DART-Stationen («Deep-ocean Assessment and Reporting of Tsunamis») waren 2004 im Pazifischen Ozean verteilt, aber keine im Indischen Ozean.
Das alles änderte sich nach 2004 schlagartig, die Tsunami-Vorsorge wurde in vielen Ländern zur obersten Priorität. 2007 wurde das Tsunami-Warn- und Schutzsystem für den Indischen Ozean (Indian Ocean Tsunami Warning System, IOTWS) mit einem Kostenaufwand von über 130 Millionen US-Dollar eröffnet: ein Netz von Messstationen, darunter acht DART-Boyen, die Australien, Indien und Thailand gehören und von diesen Ländern betrieben werden.
Insgesamt gibt es inzwischen 75 DART-Bojen, die über alle Ozeane verteilt sind und jede Küstenlinie abdecken. Drei davon haben den Tsunami in Japan 2011 erfolgreich erkannt und anhand der damals neusten Technologien die Küsten warnen können.
Doch mindestens so wichtig, da sind sich Experten heute einig, wie die neuste Technologie sind Aufwände in Bildung, Infrastruktur und in die Verbesserung der Widerstandsfähigkeit betroffener Gebiete. Vielerorts haben asphaltierte Strassen unbefestigte Wege ersetzt, und Schilder, die auf Tsunami-Zonen und Evakuierungsrouten hinweisen, sind in vielen Küstengemeinden so alltäglich wie Telefonmasten. In Indonesien können die Lautsprecher von Moscheen, die normalerweise für Gebete verwendet werden, nun auch für Tsunami-Warnungen genutzt werden.
Im Dezember 2004, als sich das Meer hunderte Meter zurückzog, liefen zahlreiche Menschen in Banda Aceh auf die noch nicht sichtbare «schwarze Wand» zu. Sie wollten wissen, was los war, und sammelten dabei Krebse und Muscheln ein. Kaum jemand hatte gewusst, was wenige Minuten später auf sie zukommen und sie komplett verschlucken würde.
Auch wenn ein Frühwarnsystem wohl niemals alle Menschen retten kann – zumindest solche Szenen sollen heute nie wieder passieren.