In seine mit Gewinn zu lesende Auflistung «12 sagenhafte Orte in der Schweiz, von denen du (ganz sicher) noch nie gehört hast» hat mein Kollege Reto Fehr auch das Winzerdorf Saint-Saphorin aufgenommen. In dessen Nähe habe sich einst das Dorf Glerula befunden, schreibt Reto. Und erwähnt, dass dieser Ort vermutlich im Jahr 563 von einem Tsunami im Genfersee zerstört wurde. Dieses Detail hat die User MitSternchen* und lynx neugierig gemacht:
Des Users Wunsch ist mir natürlich Befehl – zumal ein Tsunami im Genfersee mir als ausserordentlich spannendes Thema erscheint.
Das wunderschöne Panorama des Genfersees mit seinen von Weinbergen bestückten Ufern und den Savoyer Alpen im Hintergrund zieht Touristen aus der ganzen Welt an. Das Idyll bietet keinerlei Anlass, an eine Katastrophe zu denken. Doch der schöne Schein trügt: Vor fast 1500 Jahren raste eine riesige Welle über den See, überschwemmte die Ufer und riss Menschen, Vieh und Häuser mit. Ganze Dörfer wurden ausradiert; die Flut erreichte selbst Genf am unteren Ende des Sees, schwappte über die Stadtmauer und zerstörte grosse Teile der spätantiken Stadt, darunter die Brücke über die Rhone und die Mühle. Niemand weiss, wie viele Menschen bei dieser Tragödie den Tod fanden.
Überliefert wurde das katastrophale Ereignis von zwei zeitgenössischen Chronisten, dem Bischof Gregor von Tours und dem Bischof Marius von Avenches. Beide berichteten von einem Felssturz an einem heute nicht mehr eindeutig lokalisierbaren Berg im Wallis namens Tauredunum. In Gregors Bericht verschütteten die Gesteinsmassen eine Burg und das Flussbett der Rhone, worauf sich ein See aufstaute, der sich als Flutwelle in den See ergoss, als der Damm brach. Ein Bergsturz, der eine solche Sperre hätte bewirken können, müsste aber in einer Enge oberhalb von Saint-Maurice niedergegangen sein. Dies kann sich nicht so zugetragen haben, denn in diesem Fall wäre die Abtei dort mit Sicherheit zerstört worden.
Glaubwürdiger ist daher der Bericht von Marius, der davon spricht, dass der Bergsturz «eine nahegelegene Festung sowie Dörfer mit all ihren Bewohnern» vernichtete und den See so «erschütterte», dass er über die Ufer trat. Die Gesteinsmassen gingen also in den See oder ins Rhone-Delta nieder. In diesem Fall ereignete sich der Felssturz wohl am Pic de la Suche am Nordhang des Bergs Grammont. Dafür sprechen auch Gräber, die während eines Strassenbaus gefunden wurden. Allerdings ist das Rhonetal dort zu breit, als dass ein Bergsturz es komplett hätte sperren können, und es gibt auch keine Spuren von den Überresten eines solchen Damms.
Lange Zeit fehlte so der Beweis dafür, dass die katastrophale Flutwelle im Jahr 563 tatsächlich stattgefunden hatte – bei den spätantiken Berichten hätte es sich auch lediglich um Legenden handeln können. Doch dann kam der Zufall zu Hilfe: Die Limnogeologin Stéphanie Girardclos von der Universität Genf und ihre Doktorandin Katrina Kremer wollten im Jahr 2010 eigentlich die Hochwasser von Genfer- und Bielersee während der letzten Jahrtausende untersuchen. Die Sedimente vom Seegrund, die sie zu diesem Zweck analysierten, brachten sie aber nicht weiter.
Dafür stiessen sie auf etwas anderes: Als sie die Sedimente an der tiefsten Stelle des Genfersees zwischen Lausanne und Evian-les-Bains mit künstlich erzeugten seismischen Wellen von 3,5 Kilohertz kartografierten, entdeckten sie eine ausgedehnte, linsenförmige Ablagerung mit einer Länge von etwa zehn und einer Breite von fünf Kilometern. Die mächtige Sand- und Schlammschicht weist eine durchschnittliche Dicke von 5 Metern auf und hat ein Volumen von 250 Millionen Kubikmetern. Girardclos und Kremer dachten sofort an das Tauredunum-Ereignis von 563, auch weil die Sedimentschichten gegen Südosten hin mächtiger werden. Dies spricht für deren Ursprung im Rhone-Delta.
Die Wissenschaftlerinnen untersuchten nun Bohrkerne der Sedimente an den tiefsten Stellen des Sees und im Rhone-Delta. Dabei zeigte sich, dass das Material der Ablagerung nicht in Lagen geschichtet ist, wie es bei Sedimenten zu erwarten wäre, sondern chaotisch und ungeordnet – ein Aufbau, der für sogenannte Turbidite typisch ist. Das sind Sedimentgesteine, die durch die plötzliche Bewegung von umfangreichen Schlammströmen entstehen. Sie sind ein Indiz für ein plötzliches und extremes Ereignis.
Organische Bestandteile in den Bohrkernen, beispielsweise Holzstückchen, ermöglichten eine Altersbestimmung mittels der Radiokarbonmethode. Sie ergab, dass die Ablagerung aus dem Zeitraum zwischen 256 und 612 stammen muss – mithin chronologisch passend zum Tauredunum-Ereignis.
Dies bedeutet jedoch nicht etwa, dass Girardclos und Kremer auf dem Grund des Genfersees auf die Gesteinsmassen des Bergsturzes von 563 gestossen waren. Die von den Forscherinnen durchgeführten Computersimulationen zeigen, dass es sich um eine Kettenreaktion handelte: Die Ablagerung besteht aus Sedimenten, die sich ursprünglich im Rhone-Delta befanden. Als die Gesteinsmassen des Bergsturzes – schätzungsweise 10 bis 30 Millionen Kubikmeter – auf diese weichen und feuchten Sedimente prallten, kollabierten diese unter der Wucht des Aufpralls und flossen als gigantischer Schlamm- und Schuttstrom in den See.
Diese Masse – viele Male grösser als jene des Felssturzes – verdrängte so viel Wasser, dass ein Tsunami entstand, der sich an den Ufern zu hohen Wellen auftürmte. Gemäss den Computersimulationen erreichte die Welle bereits nach 10 Minuten Lausanne – hier erreichte sie eine Höhe von 13 Metern – und nach 20 weiteren Minuten Nyon, wo sie noch 4 Meter hoch war. Das rund 70 Kilometer entfernte Genf wurde etwa 65 Minuten nach Beginn des Tsunamis von der Flut getroffen. Hier, am Ende des schmaleren und seichteren Petit Lac, türmte sich die Welle wieder zu einer Höhe von 8 Metern auf.
Mit den Forschungsergebnissen von Girardclos und Kremer, die sie 2012 im Fachmagazin «Nature Geosciences» publizierten, war das Rätsel des Tauredunum-Ereignisses gelöst. Noch fehlte aber eine archäologische Bestätigung des Bergsturzes. Diese fand sich 2019, als in der Waadtländer Gemeinde Noville, die direkt an der Rhonemündung liegt, bei den Aushubarbeiten für einen Kanal Überbleibsel einer gallo-römischen Siedlung gefunden wurden.
Die Mauerreste und Gegenstände des täglichen Gebrauchs waren in einer Schlammschicht eingeschlossen und von dieser verschoben worden. Einige der Objekte konnten datiert werden, darunter eine römische Fibel aus dem 3. Jahrhundert. Der jüngste Gegenstand stammte etwa aus der Zeit des 5. Jahrhunderts; der Bergsturz musste sich danach ereignet haben.
Die Katastrophe, die im 6. Jahrhundert die Genferseeregion verwüstete, war allerdings nicht das einzige solche Ereignis. Die Wissenschaftlerinnen fanden in der Folge noch weitere Flutwellen. Insgesamt fünf Ereignisse konnten sie für die letzten 4000 Jahre eruieren, darunter eines, das in der Bronzezeit zwischen 1872 und 1608 v. Chr. stattgefunden haben musste. Dies deckt sich mit archäologischen Befunden: Ab 1758 v. Chr. verlieren sich die Spuren von Pfahlbausiedlungen in bestimmten Uferregionen des Genfersees.
Tsunamis gab es überdies nicht nur im Genfersee. Auch bei anderen Schweizer Seen sind solche Ereignisse dokumentiert. Bekannt ist etwa eine Flutwelle von 4 Metern Höhe, die 1601 die Stadt Luzern überschwemmte. Sie wurde durch ein Erdbeben der Stärke 5,9 im Gersauerbecken ausgelöst. Der Luzerner Stadtchronist Renward Cysat schrieb, die Welle sei «drei Büchsenschüsse weit und zwei Hellebarden hoch über Land» gekommen.
1687 traf eine weitere Welle Luzern. Sie war 5 Meter hoch und entstand, als Teile des Muota-Deltas in den See rutschten. Noch höher – 10 Meter, nach Augenzeugenberichten sogar 20 Meter – war 1806 eine Flutwelle im Lauerzersee. Sie war eine Folge des Bergsturzes am Rossberg, der das Dorf Goldau vernichtete. Die Gewalt des Wassers habe alle Gebäude rings um den See mit sich fortgerissen, berichtete die NZZ damals.
Die Tatsache, dass solch verheerende Tsunamis auch in Binnengewässern auftreten können und es sich dabei nicht um Einzelereignisse handelt, ist beunruhigend. Zwar sind Flutwellen sehr selten, aber ihre Auswirkungen können die Uferzonen extrem verwüsten – zumal diese heute meist sehr dicht besiedelt sind. So leben heute rund um den Genfersee mehr als eine Million Menschen. Besonders gefährdet ist die Stadt Genf mit rund 200'000 Einwohnern, die sich am Ende des trichterförmigen Petit Lac befindet. Die Innenstadt würde durch eine Flutwelle, wie sie 563 auftrat, komplett überflutet.
Wissenschaftler empfehlen daher die Einrichtung eines Frühwarnsystems. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) hält die Kantone im Rahmen des Projekts KATAPLAN zu einer Analyse der Gefährdungen an, bei der die jeweils für diesen Kanton spezifischen Gefahrenpotentiale erfasst werden sollen. Der Kanton Luzern überwacht beispielsweise kritische Stellen entlang der Rigi oder am Bürgenstock.
Die Gefahren, die von instabilen Hängen entlang von Seeufern, aber auch von Unterwasserrutschungen in See-Deltas ausgehen, sind ab 2017 in einem vierjährigen interdisziplinären Forschungsprojekt untersucht worden. Zum Einsatz kamen dabei unter anderem Computersimulationen und simulierte Rutschungen in Wassertanks. Die Forscher erhoffen sich davon auch mehr Informationen über die Wiederkehrrate von Tsunamis in Schweizer Seen.
Ganz herzlichen Dank für das weitere Aufgreifen des Themas und die spannenden Hintergründe.