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Attentat in Washington: Rückkehr des linksextremen Terrorismus?

epaselect epa12124462 A man with an Israeli flag draped on his shoulders near the scene where two people were shot and killed near the Capital Jewish Museum in Washington, DC, USA, 22 May 2025. Accord ...
Nach dem Anschlag in Washington am 21. Mai, bei dem zwei Angestellte der israelischen Botschaft getötet wurden.Bild: keystone

Attentat in Washington: Als die extreme Linke Juden angriff

Der Doppelmord im Jüdischen Museum in Washington wurde von einem ehemaligen Mitglied einer linksextremen Partei begangen. Bisher wurden Anschläge auf Juden im Westen von Islamisten verübt. Jakob Tanner, Professor an der Universität Zürich, erinnert daran, wie der Terrorismus der Roten Armee Fraktion gegen den jüdischen Staat und gegen Juden aussah.
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26.05.2025, 19:3127.05.2025, 09:45
Antoine Menusier
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Was wusste der 31-jährige Elias Rodriguez von dem jungen Mann und der jungen Frau, die er am Mittwochabend im Jüdischen Museum in Washington erschossen hat? Hatte er sie im Visier, weil er wusste, dass sie in der israelischen Botschaft arbeiteten – oder wegen ihrer mutmasslichen jüdischen Identität, da Juden vielleicht in seiner Vorstellung für die Massaker an den Palästinensern in Gaza mitverantwortlich sind? In jedem Fall ist seine Mordtat – deren Motiv sich in dem nach seiner Tat gerufenen Slogan «Free, free Palestine!» («Befreit, befreit Palästina!») zusammenfassen lässt – mit Terrorismus vergleichbar.

Laut der «New York Times» besassen Yaron Lischinsky und seine Verlobte Sarah Lynn Milgrim beide die israelische Staatsbürgerschaft. Während die junge Frau jüdischen Glaubens war, war ihr Lebensgefährte und zukünftiger Ehemann, der einen jüdischen Vater und eine christliche Mutter hatte, ein «gläubiger Christ», schreibt die amerikanische Tageszeitung unter Berufung auf Zeugenaussagen.

Ehemaliges Mitglied der «Partei für Befreiung und Sozialismus»

Die «Washington Post» berichtet, dass der Tatverdächtige eine Weile Mitglied einer linksextremen amerikanischen Gruppierung, der «Partei für Befreiung und Sozialismus», gewesen sei. Er habe sie jedoch Ende 2017 verlassen, teilte die militante Gruppe mit, die behauptet, «nichts mit der Schiesserei in Washington zu tun zu haben und sie nicht zu unterstützen». Am vergangenen 24. April war der Vorsitzende der linkspopulistischen französischen Partei «La France insoumise», Jean-Luc Mélenchon, beim «Forum der Völker» in New York zusammen mit Aktivisten der «Partei für Befreiung und Sozialismus» aufgetreten, wie auf dem X-Account der Partei zu lesen war.

An einem der Fenster im Haus des Tatverdächtigen entdeckten die Ermittler die Aufschrift «Justice for Wadea» («Gerechtigkeit für Wadea») – wahrscheinlich eine Anspielung auf die Ermordung des sechsjährigen Wadea Alfayoumi im Jahr 2023. Der palästinensisch-amerikanische Junge war laut Anklage der US-Justiz von einer Person mit 26 Messerstichen getötet worden, die vom Hass auf den Islam und die Palästinenser getrieben war.

Fühlte sich Elias Rodriguez zum Zeitpunkt seines Doppelmordes noch der linksextremen Familie zugehörig? Handelt es sich um einen «einsamen Wolf», der von einem «atmosphärischen Antizionismus» beseelt ist, der wiederum von den Kriegsverbrechen und dem möglichen Völkermord, die Israel in Gaza angelastet werden, genährt wird?

Extreme Linke an antisemitischen Anschlägen beteiligt

Man muss bis zum 23. Dezember 1991 in Budapest zurückgehen, um einen Anschlag im Zusammenhang mit der palästinensischen Sache zu finden, an dem die extreme Linke beteiligt war. Es handelte sich um einen Bombenanschlag auf einen Bus mit 31 jüdischen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion an Bord. Zu dem Anschlag hatte sich die «Bewegung zur Befreiung Jerusalems», eine palästinensische Gruppe, bekannt. Aufgrund einer Fehlfunktion hatte die 25-Kilo-Bombe nur sechs Verletzte gefordert, vier Businsassen und zwei Polizisten.

Eine Terroristin der Roten Armee Fraktion (RAF), die nach ihren im Gefängnis gestorbenen Gründern Andreas Baader und Ulrike Meinhof auch «Baader-Meinhof-Bande» genannt wird, hatte die Gruppe logistisch unterstützt. Das berichtete der britische Historiker Thomas Skelton-Robinson 2007 in einem Interview mit der französischen Tageszeitung «Libération».

In demselben Interview erinnerte der Historiker daran, dass die Kontakte zwischen deutschen linksextremen Terroristen und palästinensischen Gruppen 1969 begonnen hatten und «während der gesamten Dauer des bewaffneten Kampfes in Deutschland bis in die 1990er Jahre» fortgesetzt wurden.

«Der ‹Himmler› Israels»

Ulrike Meinhof, Andreas Baaders weibliches Alter Ego, hatte im September 1972 in einem Artikel nach dem Massaker an israelischen Athleten im selben Jahr bei den Olympischen Spielen in München Stellung bezogen und den Verteidigungsminister Moshe Dayan «den Himmler» Israels genannt, berichtete Thomas Skelton-Robinson weiter.

Die Nazifizierung des Juden, hier des Israelis, ermöglichte es damals wie heute, Israel und nicht nur seine Regierung zu delegitimieren. Thomas Skelton-Robinson fügte in Bezug auf die Beziehung derselben extremen Linken zu den Juden hinzu:

«Meistens schafften es deutsche Terroristen in diesem vom Holocaust belasteten Land, sich nicht für diese Verbrechen an Juden rechtfertigen zu müssen. Sie betrachteten sich nicht als Antisemiten, sondern als ‹Antizionisten›. Der Unterschied ist gering, als deutsche Terroristen 1976 bei einer Flugzeugentführung die Juden von den anderen Geiseln trennen [Red: Der Historiker bezieht sich auf die Entebbe-Operation der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), an der deutsche Linksextremisten beteiligt waren].»

Die Agenda der CUAE und die von den Geiseln getrennten Juden

In ihrer Agenda 2024–2025 weist die CUAE, die Studentengewerkschaft der radikalen Linken an der Universität Genf, auf eine frühere Entführung durch dieselbe PFLP hin. Am 6. September 1970 waren drei Zivilflugzeuge, darunter eines der Fluggesellschaft Swissair, auf einen jordanischen Flughafen entführt worden. Die CUAE versäumte es, in ihrer Agenda zu erwähnen, dass die Terroristen die Juden, unabhängig von jeglicher israelischer Staatsangehörigkeit, bereits von den anderen Geiseln getrennt hatten. Die Erinnerung durch die Genfer Studentengewerkschaft an diese dreifache Entführung, noch dazu ohne Hinweis auf deren antisemitischen Charakter, wurde als Verstoss gegen die Ethik- und Berufsethos-Charta der Universität Genf gewertet.

Versuchter Anschlag auf Juden 1969 in Berlin

Jakob Tanner, emeritierter Professor an der Universität Zürich und Spezialist für die Geschichte der Linken, erinnert im Gespräch mit watson an einen Anschlagsversuch auf die Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde in Berlin im Jahr 1969. Er wurde von einer linksextremen deutschen Gruppe, den Tupamaros, verübt, deren Name von uruguayischen Revolutionären inspiriert wurde. Das Datum war kein Zufall: Der 9. November war der Tag der «Reichskristallnacht» im Jahr 1938.

«Die Bombe war nicht explodiert. Sie hätte ein Blutbad angerichtet: 250 Menschen befanden sich in den Räumen der jüdischen Gemeinde.»
Jakob Tanner

Die implizite Rechtfertigung für den gescheiterten Anschlag lautete wie folgt, resümiert Jakob Tanner:

«‹Was die Nazis den Juden in Deutschland angetan haben, tun die Israelis heute den Palästinensern an.› Dieses Argument war jedoch weder in Bezug auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs noch in Bezug auf die Ereignisse im Nahen Osten legitimiert.»
Jakob Tanner

Eine Veränderung in der Wahrnehmung Israels hatte sich seit dem Sechstagekrieg 1967 und der anschliessenden Besetzung des Westjordanlandes vollzogen.

«Für die antiimperialistische Linke in Deutschland und anderswo wurde Israel zu einem Vorposten des Imperialismus. Aus dieser Perspektive war Palästina für Europa das, was Vietnam für die USA war. Das war übrigens auch die Rechtfertigung, die die Tupamaros nach ihrem missglückten Anschlag auf die Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde in Berlin 1969 anführten.»
Jakob Tanner

Jakob Tanner weist darauf hin, dass bereits 1977 nach der Entebbe-Entführung durch palästinensische Terroristen und der Selektion der jüdischen Passagiere durch deutsche Mitglieder der RAF eine Debatte über den Antisemitismus der deutschen extremen Linken entstand, insbesondere durch die Veröffentlichung des Buches der britischen Autorin Jillian Baker, «Hitler's Children: The Story of the Baader-Meinhof Terrorist Gang».

Die Linke und der Antisemitismus

Für den ehemaligen Chefredaktor von «Charlie Hebdo», Philippe Val, der das Buch «La gauche et l'antisémitisme» («Die Linke und der Antisemitismus», éditions de l'Observatoire, 2025) veröffentlicht hat, hat der Antisemitismus eines Teils der Linken, der sich laut dem Autor als «wahre Linke» bezeichnet, folgende Gründe:

«[Diese ‹wahre Linke›] hasst die europäischen Werte, die von der Aufklärung geerbt wurden; der Aufklärung, die Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit und die damit verbundene liberale Gesellschaft, die diese Werte implizieren, als Identität etabliert hat. Und diese Gesellschaft wird mit einem verjudeten und kosmopolitischen Kapitalismus gleichgesetzt. Der Hass auf Europa und der Hass auf den Juden sind ein und derselbe Hass.»
Philippe Val in «La gauche et l'antisemitisme»

Der Tweet eines Abgeordneten von La France insoumise

Am Donnerstagmorgen setzte Thomas Portes, ein Abgeordneter von «La France insoumise», einen zweideutigen Tweet ab – nur wenige Stunden, nachdem der Doppelmord in Washington bekannt geworden war. «Free Palestine!», schrieb der Abgeordnete; dieselben Worte, die der Verdächtige nach seiner Tat gerufen hatte.👇

Screenshot eines Tweets von Thomas Portes, Abgeordneter von La France Insoumise
Screenshot: X

Hat er den Tweet als Zustimmung zur Tat verfasst? Er bestreitet dies und behauptet, er habe nichts von dem Anschlag in Washington gewusst. Er löschte den Tweet.

Von nationalistischen zu islamistischen Gruppen

Seit den 1970er Jahren hat die Hamas die arabischen Terrorgruppen mit nationalistischer Ausrichtung abgelöst. Die islamistische Partei und ihre bewaffneten Zweige haben sich gegen die Fatah der Palästinensischen Autonomiebehörde durchgesetzt und sind zur Speerspitze des «Widerstands gegen das zionistische Gebilde» geworden.

Währenddessen setzt die extreme Linke im Westen ihren Kampf gegen den israelischen «Imperialismus» fort. Das Vorgehen der IDF in Gaza liefert ihr Argumente, da eine mögliche massive ethnische Säuberung bevorsteht. Es ist ein Anstieg der Radikalität zu beobachten.

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7. Oktober
Im Morgengrauen des jüdischen Feiertags Simchat Tora startet die islamistische Terrororganisation Hamas einen Grossangriff auf das umliegende Gebiet in Israel. Mehrere Tausend Raketen werden aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Mehrere tausend Terroristen überwinden die Grenzbefestigungen und töten an einem Musikfestival und in mehreren Ortschaften wahllos Soldaten und vor allem Zivilisten.
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quelle: keystone / abir sultan
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15 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Dominik Egloff
26.05.2025 20:18registriert November 2015
Wenn ich in Diskussionen die enorme Wut vieler Studenten auf Israel und oft auch auf die jüdische Lobby, die nach ihnen im Hintergrund bei uns heimlich enorm viel Macht habe, so fürchte ich schon, dass die Bewegung zunehmend radikalisiert wird und sich eine neue westliche Terrorbewegung daraus entwickeln könnte. Der beliebte Slogan "Intifada international" lässt schlimmes ahnen, denn es ist genauso bekannt was "International" bedeutet, wie was "Intifada" in der bisherigen Praxis bedeutet. Es bedeutet Terror gegen Zivilisten bis hin zu Massenmorden.
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mstuedel
26.05.2025 23:16registriert Februar 2019
Auffällig, wie sich die Pole links- und rechtsaussen beim Antisemitismus berühren.
Das ermordete Paar hat sich für den interreligiösen Dialog und die interkulturelle Verständigung eingesetzt. Es sind diese Brückenbauer, welche für Extremisten aller Couleur das eigentliche Feindbild darstellen.
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    QDH: Heute geht's um die wirklich wichtigen 10 Punkte
    Jede Woche quizzen wir unseren hellsten Mitarbeiter. Kannst du ihn besiegen? Einfach wird es nicht.

    Liebe Huberquizzer

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