Was wusste der 31-jährige Elias Rodriguez von dem jungen Mann und der jungen Frau, die er am Mittwochabend im Jüdischen Museum in Washington erschossen hat? Hatte er sie im Visier, weil er wusste, dass sie in der israelischen Botschaft arbeiteten – oder wegen ihrer mutmasslichen jüdischen Identität, da Juden vielleicht in seiner Vorstellung für die Massaker an den Palästinensern in Gaza mitverantwortlich sind? In jedem Fall ist seine Mordtat – deren Motiv sich in dem nach seiner Tat gerufenen Slogan «Free, free Palestine!» («Befreit, befreit Palästina!») zusammenfassen lässt – mit Terrorismus vergleichbar.
Laut der «New York Times» besassen Yaron Lischinsky und seine Verlobte Sarah Lynn Milgrim beide die israelische Staatsbürgerschaft. Während die junge Frau jüdischen Glaubens war, war ihr Lebensgefährte und zukünftiger Ehemann, der einen jüdischen Vater und eine christliche Mutter hatte, ein «gläubiger Christ», schreibt die amerikanische Tageszeitung unter Berufung auf Zeugenaussagen.
Die «Washington Post» berichtet, dass der Tatverdächtige eine Weile Mitglied einer linksextremen amerikanischen Gruppierung, der «Partei für Befreiung und Sozialismus», gewesen sei. Er habe sie jedoch Ende 2017 verlassen, teilte die militante Gruppe mit, die behauptet, «nichts mit der Schiesserei in Washington zu tun zu haben und sie nicht zu unterstützen». Am vergangenen 24. April war der Vorsitzende der linkspopulistischen französischen Partei «La France insoumise», Jean-Luc Mélenchon, beim «Forum der Völker» in New York zusammen mit Aktivisten der «Partei für Befreiung und Sozialismus» aufgetreten, wie auf dem X-Account der Partei zu lesen war.
An einem der Fenster im Haus des Tatverdächtigen entdeckten die Ermittler die Aufschrift «Justice for Wadea» («Gerechtigkeit für Wadea») – wahrscheinlich eine Anspielung auf die Ermordung des sechsjährigen Wadea Alfayoumi im Jahr 2023. Der palästinensisch-amerikanische Junge war laut Anklage der US-Justiz von einer Person mit 26 Messerstichen getötet worden, die vom Hass auf den Islam und die Palästinenser getrieben war.
Fühlte sich Elias Rodriguez zum Zeitpunkt seines Doppelmordes noch der linksextremen Familie zugehörig? Handelt es sich um einen «einsamen Wolf», der von einem «atmosphärischen Antizionismus» beseelt ist, der wiederum von den Kriegsverbrechen und dem möglichen Völkermord, die Israel in Gaza angelastet werden, genährt wird?
Man muss bis zum 23. Dezember 1991 in Budapest zurückgehen, um einen Anschlag im Zusammenhang mit der palästinensischen Sache zu finden, an dem die extreme Linke beteiligt war. Es handelte sich um einen Bombenanschlag auf einen Bus mit 31 jüdischen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion an Bord. Zu dem Anschlag hatte sich die «Bewegung zur Befreiung Jerusalems», eine palästinensische Gruppe, bekannt. Aufgrund einer Fehlfunktion hatte die 25-Kilo-Bombe nur sechs Verletzte gefordert, vier Businsassen und zwei Polizisten.
Eine Terroristin der Roten Armee Fraktion (RAF), die nach ihren im Gefängnis gestorbenen Gründern Andreas Baader und Ulrike Meinhof auch «Baader-Meinhof-Bande» genannt wird, hatte die Gruppe logistisch unterstützt. Das berichtete der britische Historiker Thomas Skelton-Robinson 2007 in einem Interview mit der französischen Tageszeitung «Libération».
In demselben Interview erinnerte der Historiker daran, dass die Kontakte zwischen deutschen linksextremen Terroristen und palästinensischen Gruppen 1969 begonnen hatten und «während der gesamten Dauer des bewaffneten Kampfes in Deutschland bis in die 1990er Jahre» fortgesetzt wurden.
Ulrike Meinhof, Andreas Baaders weibliches Alter Ego, hatte im September 1972 in einem Artikel nach dem Massaker an israelischen Athleten im selben Jahr bei den Olympischen Spielen in München Stellung bezogen und den Verteidigungsminister Moshe Dayan «den Himmler» Israels genannt, berichtete Thomas Skelton-Robinson weiter.
Die Nazifizierung des Juden, hier des Israelis, ermöglichte es damals wie heute, Israel und nicht nur seine Regierung zu delegitimieren. Thomas Skelton-Robinson fügte in Bezug auf die Beziehung derselben extremen Linken zu den Juden hinzu:
In ihrer Agenda 2024–2025 weist die CUAE, die Studentengewerkschaft der radikalen Linken an der Universität Genf, auf eine frühere Entführung durch dieselbe PFLP hin. Am 6. September 1970 waren drei Zivilflugzeuge, darunter eines der Fluggesellschaft Swissair, auf einen jordanischen Flughafen entführt worden. Die CUAE versäumte es, in ihrer Agenda zu erwähnen, dass die Terroristen die Juden, unabhängig von jeglicher israelischer Staatsangehörigkeit, bereits von den anderen Geiseln getrennt hatten. Die Erinnerung durch die Genfer Studentengewerkschaft an diese dreifache Entführung, noch dazu ohne Hinweis auf deren antisemitischen Charakter, wurde als Verstoss gegen die Ethik- und Berufsethos-Charta der Universität Genf gewertet.
Jakob Tanner, emeritierter Professor an der Universität Zürich und Spezialist für die Geschichte der Linken, erinnert im Gespräch mit watson an einen Anschlagsversuch auf die Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde in Berlin im Jahr 1969. Er wurde von einer linksextremen deutschen Gruppe, den Tupamaros, verübt, deren Name von uruguayischen Revolutionären inspiriert wurde. Das Datum war kein Zufall: Der 9. November war der Tag der «Reichskristallnacht» im Jahr 1938.
Die implizite Rechtfertigung für den gescheiterten Anschlag lautete wie folgt, resümiert Jakob Tanner:
Eine Veränderung in der Wahrnehmung Israels hatte sich seit dem Sechstagekrieg 1967 und der anschliessenden Besetzung des Westjordanlandes vollzogen.
Jakob Tanner weist darauf hin, dass bereits 1977 nach der Entebbe-Entführung durch palästinensische Terroristen und der Selektion der jüdischen Passagiere durch deutsche Mitglieder der RAF eine Debatte über den Antisemitismus der deutschen extremen Linken entstand, insbesondere durch die Veröffentlichung des Buches der britischen Autorin Jillian Baker, «Hitler's Children: The Story of the Baader-Meinhof Terrorist Gang».
Für den ehemaligen Chefredaktor von «Charlie Hebdo», Philippe Val, der das Buch «La gauche et l'antisémitisme» («Die Linke und der Antisemitismus», éditions de l'Observatoire, 2025) veröffentlicht hat, hat der Antisemitismus eines Teils der Linken, der sich laut dem Autor als «wahre Linke» bezeichnet, folgende Gründe:
Am Donnerstagmorgen setzte Thomas Portes, ein Abgeordneter von «La France insoumise», einen zweideutigen Tweet ab – nur wenige Stunden, nachdem der Doppelmord in Washington bekannt geworden war. «Free Palestine!», schrieb der Abgeordnete; dieselben Worte, die der Verdächtige nach seiner Tat gerufen hatte.👇
Hat er den Tweet als Zustimmung zur Tat verfasst? Er bestreitet dies und behauptet, er habe nichts von dem Anschlag in Washington gewusst. Er löschte den Tweet.
Seit den 1970er Jahren hat die Hamas die arabischen Terrorgruppen mit nationalistischer Ausrichtung abgelöst. Die islamistische Partei und ihre bewaffneten Zweige haben sich gegen die Fatah der Palästinensischen Autonomiebehörde durchgesetzt und sind zur Speerspitze des «Widerstands gegen das zionistische Gebilde» geworden.
Währenddessen setzt die extreme Linke im Westen ihren Kampf gegen den israelischen «Imperialismus» fort. Das Vorgehen der IDF in Gaza liefert ihr Argumente, da eine mögliche massive ethnische Säuberung bevorsteht. Es ist ein Anstieg der Radikalität zu beobachten.
Das ermordete Paar hat sich für den interreligiösen Dialog und die interkulturelle Verständigung eingesetzt. Es sind diese Brückenbauer, welche für Extremisten aller Couleur das eigentliche Feindbild darstellen.