Kein israelischer Ministerpräsident war bisher länger im Amt als Benjamin Netanjahu. Und wohl kein anderer Regierungschef des jüdischen Staates dürfte international – und auch im eigenen Land – jemals dermassen verhasst gewesen sein wie dieser rechtskonservative Hardliner. Lange schon vor dem Krieg, der mit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 begann, hatte Netanjahu den Ruf, ein Kriegstreiber zu sein.
Zu Unrecht. Der gewiefte Politiker war trotz seiner festen Überzeugungen in der Praxis weit eher ein Taktiker, der die militärische Karte nur ungern ausspielte. Jetzt aber braucht Netanjahu den Krieg, und trotz aller Widerstände auch in der israelischen Bevölkerung selbst treibt der Premier noch mehr Soldaten in die Ruinen des Gazastreifens. Wie ist es dazu gekommen?
Benjamin Netanjahu wurde im Oktober 1949 in Tel Aviv geboren, anderthalb Jahre nach der Gründung Israels. Sein Vater, Benzion Netanjahu, war ein aschkenasischer Jude aus Warschau, dessen Familie 1920 nach Palästina auswanderte. Benzions ultrarechte Ansichten machten ihn zu einem Einzelgänger in der aschkenasischen Gründergeneration Israels, deren politische Vertretung, die linke Arbeiterpartei, bis 1977 die israelische Politik dominierte. Als sogenannter revisionistischer Zionist glaubte Benzion nicht an einen möglichen Kompromiss mit der arabischen Seite, sondern war überzeugt, dass Frieden mit den Palästinensern – damals Araber genannt – unmöglich sei.
Benjamin Netanjahu wurde von diesem ideologischen Umfeld geprägt. Grossen Einfluss auf ihn hatte wohl auch der frühe Tod seines älteren Bruders Jonathan, der bei der Geiselbefreiung in Entebbe 1976 als Kommandant des Spezialkommandos umkam und seither als nationaler Held gilt. Auch Benjamin diente in einer Spezialeinheit der israelischen Armee und wurde mehrmals verwundet. Einen Teil seiner Jugend verbrachte Netanjahu in den USA, wo er später auch studierte und als Unternehmensberater arbeitete. Er spricht deshalb akzentfrei Englisch. In den USA nannte er sich Ben Nitay, heute wird er oft «Bibi» genannt.
Netanjahus politische Karriere begann 1982, als er stellvertretender Botschafter Israels in Washington wurde. Nur 14 Jahre später gewann er als Kandidat des konservativen Likud-Blocks die Wahlen gegen Schimon Peres, den Nachfolger des von einem rechtsextremen Israeli ermordeten Jitzchak Rabin. Dessen Friedenspolitik hatte Netanjahu als Oppositionsführer vehement bekämpft. Schon 1999 wurde er jedoch abgewählt. Wer aber dachte, er sei nun politisch tot, täuschte sich: Nach zehn Jahren in der Opposition und als Minister unter anderen Regierungschefs schaffte er es 2019 zurück an die Spitze.
Kaum ein anderer Politiker verstand es so gut, in der mittlerweile völlig zersplitterten israelischen Parteienlandschaft Koalitionen zu schmieden. Allerdings scheute er nicht davor zurück, auch Parteien vom äussersten rechten Rand einzubinden, um eine Mehrheit zu erhalten. Sein aktuelles Kabinett, das seit Ende 2022 besteht, ist die am weitesten rechts stehende und religiöseste Regierung in Israels Geschichte.
Netanjahu hat sich den revisionistischen Zionismus, der bereits von seinem Vater vertreten wurde, weitgehend zu eigen gemacht. Die revisionistischen Zionisten lehnen die sogenannte Zweistaatenlösung – also die Schaffung eines Staates für die Palästinenser in den besetzten Gebieten – vehement ab und beanspruchen das gesamte Gebiet westlich des Jordan. Das hat unter anderem damit zu tun, dass der Schwerpunkt der antiken jüdischen Zivilisation einst im heutigen Westjordanland lag und sich in diesem Gebiet, das Israel «Judäa und Samaria» nennt, zahlreiche wichtige Stätten der jüdischen Geschichte befinden.
Netanjahu hat bereits 1996, kurz nachdem er zum ersten Mal Regierungschef wurde, den Baustopp für die jüdischen Siedlungen im Westjordanland aufgehoben. Während seiner Amtszeiten wurden die Siedlungen jeweils ausgebaut. Die Zweistaatenlösung befürwortete er nur unter Bedingungen, was kaum mehr als ein Lippenbekenntnis war, zudem lehnte er sie mehrmals klar ab, vor allem in letzter Zeit.
Frieden mit den Palästinensern hielt er für eine Illusion. 2005 trat er etwa als Finanzminister unter Ministerpräsident Ariel Scharon zurück, weil er gegen dessen Plan war, den Gazastreifen und die dort gelegenen jüdischen Siedlungen einseitig zu räumen. Ausschlaggebend waren dabei Sicherheitsbedenken, die sich im Nachhinein freilich als berechtigt herausstellten, da die islamistische Hamas im Küstenstreifen 2007 die Macht übernahm und Israel seither immer wieder mit Raketen beschoss.
Um die Schaffung eines palästinensischen Staates zu verhindern, griff Netanjahu zu einer Strategie des divide et impera («teile und herrsche»): Er unterstützte die Hamas, die den Gazastreifen beherrschte und im Westjordanland die von der Fatah dominierte Palästinensische Autonomiebehörde herausforderte. 2019 erklärte er auf einer Fraktionssitzung des Likud: «Jeder, der die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern will, muss die Stärkung der Hamas unterstützen. Eine Spaltung zwischen den Palästinensern in Gaza und denen in Judäa und Samaria zu erzielen, ist Teil unserer Strategie.» Aus diesem Grund förderte die israelische Regierung die Finanzierung der Hamas durch den reichen Golfstaat Katar.
Als gefährlichsten Feind Israels schätzt Netanjahu das Mullah-Regime in Teheran ein, dessen nukleare Ambitionen er als existenzielle Bedrohung Israels betrachtet. Die Einschränkung des iranischen Atomprogramms durch das 2015 vereinbarte Atomabkommen lehnte er als ungenügend ab. Die Zerstörung der Atomanlagen im Iran erachtet er als unvermeidlich – notfalls mit militärischen Mitteln. Derzeit ist die Islamische Republik nach den massiven Militärschlägen gegen ihre verbündeten Milizen – die Hamas in Gaza und die Hisbollah im Libanon – deutlich geschwächt, zumal nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien.
Innenpolitisch hat Netanjahu versucht, den israelischen Staat vermehrt in Richtung autoritärer Strukturen zu drängen, etwa durch die umstrittene Justizreform, die das Oberste Gericht entmachten und Kontrollmechanismen aushebeln soll. Diese Bestrebungen führten noch vor dem Gazakrieg zu einer der grössten Protestbewegungen in der israelischen Geschichte. Das Oberste Gericht ist Netanjahu – mehr noch aber den rechtsextremen Ministern in seiner Regierung – auch ein Dorn im Auge, weil es einer Annexion des Westjordanlands im Weg steht. «Netanjahus wahres Ziel», diagnostizierte der «Haaretz»-Journalist Amos Harel unlängst, sei «ein allmähliches Abgleiten in ein autoritäres Regime, dessen Überleben er durch einen ständigen Krieg an mehreren Fronten zu sichern versucht.»
Netanjahu führt einen «endlosen Krieg», um sich an der Macht zu halten. Er reitet gewissermassen einen Tiger – absteigen ist zu gefährlich. Es sind hauptsächlich persönliche Gründe, die es ihm ratsam erscheinen lassen, sich um jeden Preis im Amt zu halten: ein laufendes Strafverfahren wegen Korruption und eine womöglich drohende Strafuntersuchung wegen der Geschehnisse rund um den 7. Oktober. Möglicherweise dient ihm der Krieg aber auch dazu, übergeordnete Ziele zu erreichen, etwa das oben erwähnte «autoritäre Regime» oder die Lösung des «palästinensischen Problems» durch eine ethnische Säuberung.
Schon Netanjahus erste Amtszeit als Premierminister war von Korruptionsskandalen überschattet. 1999 wurde er nicht zuletzt deswegen abgewählt. Auch in seinen weiteren Amtszeiten gab es zahlreiche Vorwürfe, die zum Teil auch seine Frau Sara betrafen. Anscheinend liess er sich von Geschäftsleuten für staatliche Aufträge oder vorteilhafte Gesetzgebungen mit Luxusartikeln bezahlen und sicherte sich eine positive Berichterstattung, indem er bestimmte Medienhäuser gesetzlich begünstigte.
2019 erhob Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit Anklage gegen Netanjahu wegen Bestechlichkeit, Betrugs und Untreue. Das 2020 eröffnete Strafverfahren ist nach Unterbrüchen wegen der Corona-Pandemie und des Gaza-Kriegs noch nicht abgeschlossen. Netanjahu sieht im Vorgehen der Justiz eine Verschwörung, die den Volkswillen umgehen soll. Dies erklärt zumindest teilweise seinen Feldzug gegen die Judikative, dessen Kernstück die erwähnte Justizreform ist. Auch Mandelblits Nachfolgerin, Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, hat Netanjahu ins Visier genommen: Sein Justizminister Jariv Levin hat ein Verfahren zu ihrer Absetzung eingeleitet.
Ungemach droht Netanjahu aber nicht nur aufgrund des erwähnten Strafverfahrens. Der Inlandsgeheimdienst Schin Bet ermittelt zurzeit, ob im Umfeld des Premierministers Geld aus Katar angenommen wurde, um das Image des Golfemirats in Israel zu verbessern. Netanjahu kündigte im März dieses Jahres an, den Schin-Bet-Chef Ronen Bar zu entlassen, wurde aber vom Obersten Gerichtshof zurückgepfiffen. Bar hat inzwischen erklärt, sein Amt Mitte Juni niederzulegen.
Bar soll Netanjahu auch Monate vor dem 7. Oktober vor einem Angriff der Hamas gewarnt haben, was der Premierminister aber ignorierte. Dies – sein Versagen im Zusammenhang mit dem Massaker der Hamas – macht Netanjahu politisch noch mehr zu schaffen als die Korruptionsvorwürfe. Ausgerechnet er, der den Israelis stets Schutz versprach, konnte diese Katastrophe nicht verhindern. Netanjahu hat bisher eine staatliche Untersuchungskommission immer abgelehnt, welche die Vorgänge untersuchen soll, die zum Massaker führten.
Eine überwältigende Mehrheit der Israelis – 87 Prozent – ist der Ansicht, dass Netanjahu die Verantwortung für das Versagen der Sicherheitsdienste am 7. Oktober übernehmen müsse. Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Israel Democracy Institutes (IDI), die im März veröffentlicht wurde. Fast drei Viertel der Befragten (72,5 %) finden zudem, dass er deswegen zurücktreten solle. Eine zunehmende Mehrheit ist zudem der Meinung, es sei wichtiger, die Geiseln zurückzubringen als die Hamas auszuschalten – während Netanjahu diese beiden erklärten Kriegsziele in der Praxis umgekehrt gewichtet.
Der ehemalige israelische Regierungschef Ehud Olmert kommentierte Netanjahus Politik im August des vergangenen Jahres wie folgt:
Möglicherweise gibt es aber einen weiteren Grund, warum Netanjahu den Krieg in Gaza noch weiter eskaliert: Er könnte zum Schluss gekommen sein, es biete sich nun die Gelegenheit, Fakten zu schaffen – nämlich nicht nur die Hamas als Machtfaktor im Gazastreifen auszuschalten, sondern eine ethnische Säuberung vorzunehmen. Die mit dem Iran verbündeten Milizen – und das Regime in Teheran selbst – sind geschwächt und die internationale Ordnung ist durch den Ukrainekrieg und das erratische Verhalten des US-Präsidenten Donald Trump erschüttert. Trump hat sich zudem bisher eher israelfreundlich verhalten. Überdies hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) bereits im November 2024 einen Haftbefehl gegen Netanjahu erlassen; hier ist das Tuch schon zerschnitten.
Die Befürworter einer Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete, zu denen Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner gehören, stehen nämlich vor einem Dilemma: Die palästinensische Bevölkerung, die schneller wächst als die jüdische, würde in einem solchen erweiterten Staat bald klar die Mehrheit bilden. Sie auf Dauer als zweitklassige Einwohner eines einheitlichen Staates zu behandeln, wäre international höchst problematisch.
Die extreme Rechte in Israel träumt deshalb offen davon, die Palästinenser aus den besetzten Gebieten zu vertreiben. Bereits ist es im Windschatten des Gazakriegs zu vermehrten Übergriffen militanter Siedler im Westjordanland gekommen. Die Radikalen hoffen, die Palästinenser aus dem Westjordanland zum Exodus nach Jordanien zu zwingen, aus dem Gazastreifen nach Ägypten. Ob Netanjahu diesen Traum teilt, wissen wir nicht.
Wenn man diesen Knopf löst udn aufarbeitet, werden womöglich auch die letzten beiden Jahre in einem neuen Licht da stehen.
Aber Bibi will dies nicht oder verhindert es mit allen kräften, obwohl besonnene Kräfte in Isreal dies immer wieder fordern.
So handelt wohl nur ein Kriegsverbrecher.