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Wo Orcas Segelschiffe rammen – zum Warum gibt es verschiedene Theorien

In a image from video provided by The Ocean Race, an orca moves along a rudder of the Team JAJO entry in The Ocean Race on Thursday, June 22, 2023, as the boat approached the Strait of Gibraltar. A po ...
Die Schiffsruder, wie hier beim Ocean Race im Juni 2023, sind oft das Hauptziel der Orcas.Bild: keystone

Wo Orcas vor der iberischen Küste Schiffe rammen – das Warum bleibt ein Rätsel

Rund um die iberische Halbinsel greifen Orcas immer wieder Boote an. Seit Anfang 2020 wurden fast 500 solche Vorfälle registriert. Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel, doch eine eigentlich einfache Lösung scheint gefunden.
12.08.2023, 18:2822.08.2023, 14:20
Philipp Reich
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Phep Philouceros ist passionierter und erfahrener Segler. Diesen Sommer ist er wieder allein mit seiner Doppelkiel-Jacht namens Oxygene unterwegs. Der 77-jährige Franzose, der seit über einem halben Jahrhundert segelt, umschiffte am Montag gerade das Cabo de São Vicente an der äussersten Südwestspitze Portugals, als bei seinem Boot rund 400 Meter vor der Küste fünf Orcas auftauchten.

Zunächst umkreiste die Gruppe von Schwertwalen das Boot, wenig später attackierten zwei von ihnen das Ruder der 9-Meter-Jacht. «Es war innerhalb von einer Minute zerstört», erzählte Philouceros später den örtlichen Medien. «Später haben sie auch die Kimmkiele gerammt. Das Boot wackelte, es drehte sich, aber es kenterte zum Glück nicht.» Der Franzose, der den Vorfall noch filmte, setzte umgehend einen Notruf ab und wurde wenig später in einen Hafen geschleppt. Während der Rettungsaktion rammten die Orcas sein Schiff aber weiterhin.

Der neuste Vorfall: Orcas beschädigen das Ruder einer französischen Segeljacht.Video: YouTube/SuperViralTV

Wo die Orcas zuschlagen

Philouceros Schreckerlebnis ist die neuste von rund 470 Orca-Attacken, die Forscher der Organisation GT Orca Atlántica (GTOA) seit Sommer 2020 registriert haben. Wobei «Attacke» eigentlich das falsche Wort ist – schliesslich haben die Meeressäuger nichts Essbares, sondern Boote im Visier. Forscher sprechen daher lieber von «Interaktion».

Vor allem in den Sommermonaten kommt es häufig zu solchen Interaktionen zwischen Schiffen und Orcas, in den Wintermonaten wurden bislang nur wenige Zwischenfälle gemeldet. Dies liegt einerseits daran, dass zu dieser Zeit weniger Boote unterwegs sind, andererseits, dass die Orcas sich dann im Nordatlantik befinden und erst ab März zu den Küsten der iberischen Halbinsel zurückkehren. Dann beginnt für sie die Jagd auf den Roten Thunfisch, der im Juli durch die Strasse von Gibraltar zieht, um im Mittelmeer zu laichen.

Wie ein Orca-Zwischenfall abläuft

Bei den Interaktionen haben es die Orcas insbesondere auf die Ruder der Boote abgesehen. Diese werden sowohl gerammt als auch abgebissen, darüber hinaus werden auch Rumpf und Kiel von den Orcas ins Visier genommen. Die Angriffe auf ein einzelnes Boot dauern nicht selten über eine Stunde.

Durch ihre Grösse und ihr Gewicht von bis zu 3,6 Tonnen wäre es den Schwertwalen ohne Weiteres möglich, das gesamte Boot zum Kentern zu bringen. Das bestätigt auch Philouceros: «Wenn die Orcas meine Jacht wirklich versenken wollten, hätten sie es ohne Mühe tun können. Ich glaube aber nicht, dass das ihre Absicht war.» In bisher drei Interaktionen ist allerdings genau das passiert.

Die Theorien über den Grund der Angriffe

Warum es die Orcas auf die Segelschiffe abgesehen haben, gibt der Wissenschaft nach dreijähriger Untersuchung noch immer Rätsel auf. Auch eine Anfang 2022 ins Leben gerufene Zusammenarbeit der Cruising Association (CA) mit der GT Orca Atlántica gab keine neuen Ergebnisse, obwohl seither 147 Interaktionen mittels eines Fragebogens für betroffene Schiffsbesitzer genauestens untersucht wurden.

So gibt es bis heute keine belegbare Erklärung, warum rund 15 Orcas aus einer Population von weniger als 50 Tieren ein komplett neuartiges Verhalten zeigen. Mittlerweile werden aber mehrere verschiedene Thesen diskutiert:

  • Spieltrieb: Verschiedene Forscher glauben, dass speziell Jungtiere mit den Rudern der Boote spielen wollen. Das Ruder bewegt sich unter Wasser und könnte dadurch die Aufmerksamkeit der Orcas auf sich ziehen. Der Meeresbiologe und Delfinforscher Bruno Diaz sagte gegenüber der Nachrichtenagentur AP: «Viele Schäden sind wahrscheinlich von ‹unreifen Teenager-Orcas› verursacht worden, die rüpelhaft werden. Vielleicht haben diese Orcas einfach Spass daran, Schaden anzurichten.»
  • Jagdtechnik: Auf einige der betroffenen Segler machte es den Eindruck, als würden ältere Tiere den jüngeren etwas beibringen wollen. Diese Aussage passt zur Auffassung der Walschutz-Organisation Wewhale, die ebenfalls den Jagdtrieb als Ursache anführt. Demnach befinden sich die Schwertwale seit Jahrhunderten in der Meerenge von Gibraltar auf der Suche nach Roten Thunfischen.
  • Stress: Die auf Meeressäuger spezialisierte Biologin Maria del Carmen Rodriguez vertritt die Ansicht, dass das ungewöhnliche Verhalten der Tiere eine Folge der Corona-Pandemie sein könnte. Nach Ansicht der Biologin könnte der verstärkte Schiffsverkehr nach Beendigung der Massnahmen und die damit verursachte Lärmentwicklung die Schwertwale gestresst haben.
  • Zwischenfall mit Boot: Dass eine Interaktion mit einem Segelboot Auslöser für das mysteriöse Verhalten der Orcas ist, daran glaubt die Meeresbiologin Eva Maria Carpinelli. Es könnte eine negative Situation mit einer Jacht gewesen sein, die dem Leittier der Orcas in Erinnerung geblieben ist. Nun könnte es sein aggressives Verhalten gegenüber Booten an die nächsten Generationen weitergegeben haben. «Diese Tiere lernen auf kultureller Ebene von einem Individuum zum anderen. Irgendetwas ist passiert – sie haben untereinander kommuniziert und gehen intensiv gegen Schiffe vor», so die Biologin.

Wie Schiffe Orcas aus dem Weg gehen können

Der Walforscher Renaud de Stephanis rät kleineren Schiffen, Gegenden mit Orca-Präsenz zu umfahren. Im Auftrag der spanischen Regierung statten der Leiter der Umweltorganisation CIRCE und sein Team Orcas mit Ortungsgeräten aus. «Wir setzen Satellitensender ein, um zu wissen, in welchem Gebiet sich die Orcas aufhalten», sagt de Stephanis. So könnten Boote diese Gebiete umfahren und Interaktionen vermeiden. Eine diesbezüglich angefertigte elektronische Seekarte, die mittels einer App oder Webseite abgerufen werden kann, sei so gut wie fertig.

Das Ziel sei es, in Echtzeit zu informieren und Warnungen auszusprechen, damit niemand verletzt und keine weiteren Boote angegangen werden. Ansonsten gibt es gemäss de Stephanis nur eine Lösung: «Jederzeit wissen, wo die Orcas sind. Und dann ganz nah an der Küste auf der 20-Meter-Tiefenlinie entlang segeln. Dort ist man sicher.»

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20 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Aspirin
12.08.2023 19:17registriert Januar 2015
Und welche ist jetzt die einfache Lösung?
456
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Hösch
12.08.2023 18:53registriert März 2022
Wie wenig wir doch über unsere Mitbewohner wissen.
Da haben alle Theorien was für und was gegen.
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