Wie auch einige Venezianer beim Schlangestehen nimmt das Filmfest wenig Rücksicht auf etwaige Gefühlslagen. Venedig cancelt nicht, heisst es nun. Warum? Zu seiner 80. Ausgabe hat das Festival eine #MeToo-Trias aus Luc Besson, Woody Allen und Roman Polanski eingeladen. Cannes hatte sich das im Mai mit den neuen Filmen der beiden Letzteren nicht getraut.
Alle drei Regisseure gerieten in den vergangenen Jahren in den Fokus medialer Berichterstattung wegen diverser Vorwürfe von sexuellem Missbrauch. Ihre Fälle sind unterschiedlich und komplex, jeder ist für sich individuell zu bewerten. Fakt ist: Allen und Besson sind juristisch gesehen unschuldig. Beim geständigen Polanski liegt die Sache anders, ihm hat das damals minderjährige Opfer allerdings längst verziehen. Sollte man die drei also deswegen nicht einladen?
Die Aufregung im Vorfeld beweist, dass die bekannten Skandale immer noch mächtig Potenzial haben. In den Medien kann daran zum millionsten Mal die nie letztgültig zu beantwortende Frage diskutiert werden: Kann, soll, darf, ja muss man die Kunst vom Künstler trennen? Der Leiter des Festivals von Venedig, Alberto Barbera, sagte im «Guardian», er sei kein Richter, der das Fehlverhalten anderer beurteile, sondern ein Filmkritiker, der die Qualität von Filmen bewerte.
Nun gut, nehmen wir ihn beim Wort. Während Luc Besson immer wieder mit interessanten Genre-Beiträgen von sich reden macht, ist Woody Allen in den letzten zehn Jahren kein bleibender Erfolg geglückt. Die Glanzzeiten des nie erwachsen werden wollenden Stadtneurotikers sind längst vorbei, was einst geistreich war, wirkt nun banal. Wie eine Schallplatte, die früher reizvolle Chansons abspielte. Heute hört man abgenudelte Schlager.
Allens neuer Film – der 50. und womöglich letzte, sollte der in den USA komplett gebrandmarkte Regisseur keine Finanzierung mehr finden – ist bei allem Ernst nicht frei von Charme und gut gespielt. Zwei sich zufällig Wiederbegegnende, eine junge Frau und ein junger Mann, die sich noch aus der Schulzeit kennen, beginnen eine Affäre – mit mörderischen Verwicklungen.
«Coup de chance» spielt in einem in herbstmaronenbraunes Licht getauchten Paris und ist in französischer Sprache gedreht. Nur schade, dass ein Film, der so sehr die Macht des Zufalls betont, so arg auf seine zwanghaft konstruierte Schlusspointe setzt. Woody Allen selbst wurde am Lido als einer der wenigen anwesenden Stars begeistert empfangen.
Bei Polanski hat Venedig hingegen ordentlich danebengriffen. Seine in Gstaad gedrehte, extrem fäkallastige Blödelkomödie «The Palace» ist ein Tiefpunkt, für das Festival ebenso wie in Polanskis Karriere. Im Zentrum steht ein Luxushotel, das im Chaos versinkt, als eine klischeehafte Horde Alter, Reicher und Gesichtsoperierter am Y2K-Silvesterabend im Jahr 1999 einfällt.
Der Produzent klagte an der Pressekonferenz, dass «The Palace» noch immer keinen Verleih in Frankreich gefunden habe, und schob den Grund auf die Kontroverse um seinen Regisseur. Doch die entsetzte Grabesstille im Kinosaal zeugte eher davon, dass kein einziger Gag funktioniert hatte. Es bleibt Polanski nur zu wünschen, dass seine Karriere nicht mit dem Bild eines mit einem Pinguin kopulierenden Hundes endet.
Die einen wollen unliebsame Künstler ganz loswerden. Die anderen reagieren mit Trotz: Jetzt laden wir sie erst recht ein, mit uns gibt es keine Cancel Culture. Beide Seiten liegen falsch. Frei nach Oscar Wilde: Ein Kunstwerk ist nicht moralisch, sondern entweder gut oder schlecht.
Und die Wahrnehmung von Kunst ändert sich. Man muss Woody Allen und Roman Polanski kein Dauerabo als Dank für frühere Meisterwerke einrichten. Sondern lediglich den Mut haben, auch mal höflich abzusagen – und zu seinem Versprechen von künstlerischer Qualität stehen.
Denn wenn man moralisch argumentiert und dadurch gewisserweise Cancel Culture betreibt, dann macht man damit schlechte Filme zu Zensuropfern und cineastischen Märtyrern. Das wertet letztlich künstlerisch Fragwürdiges auf.
Gibt es neben der juristischen Unschuld noch eine andere Unschuld (katholische Kirche? Marxismus?) oder was bedeutet der Satz?