Als ich vor 22 Jahren nach Zürich kam, war «der Steini» ein Liebling des Stadtgesprächs. Er hatte gerade «Nacht der Gaukler» gedreht, schwarz-weiss, radikal, etwas zwischen frühem Godard und spätem Tarkowski. Der Film lief auch in irgendeiner Sektion in Cannes und alle, die darin mitspielten, begriffen sich als neue Gesichter der europäischen Arthouse-Avantgarde.
Ich habe den Film bis heute nicht gesehen, dafür viele andere. «Mein Name ist Eugen» (nationaler Lieblingsfilm), «Grounding – Die letzten Tage der Swissair» (beste Schweizer Dokufiction ever), «Sennentuntschi» (schöner Alpengrusel), «Das Missen Massaker» (kein Kommentar).
Und jetzt also «Wolkenbruch», die sensible, lustige, hinreissende Verfilmung des Bestsellers von Thomas Meyer. Ein unsicherer junger Zürcher Jude verliebt sich darin in eine schöne Nichtjüdin, eine Schickse. Und da besteht nun doch einiges an Redebedarf. Ich schreibe: Michael, zeig mir dein Zürich! Er bestellt mich in eine Bar in Hottingen, sie ist klein und bunt und heisst «Bar am Egge».
Hinter dem Tresen steht Samantha. Vor Hottingen gehörte sie zu den Ladies in der Olé-Olé-Bar an der Langstrasse und damit zu Zürichs unerschütterlichsten Tresenkräften. Was Michael Steiner höllisch imponiert. Schliesslich führte er selbst mal eine Beiz, den Bären in Rapperswil, wo er als Sohn einer Lehrerin und eines Drogisten gross geworden ist. Samantha strahlt und ist so sehr sein Zürich, wie das ein Mensch eben sein kann.
Michael, frag ich, stimmt der Eindruck, dass du in «Wolkenbruch» mehr Gefühle, mehr Empathie investiert hast als in all deine andern Filme? «Ja, das liegt aber auch am Stoff», sagt er, «in einem Buch kannst du etwas behaupten – zum Beispiel, dass sich die sexy Schickse in den ungelenken Motti verliebt –, da machen sich dann alle ihre eigenen Bilder dazu. Im Film ist das anders. Da hängt alles an der Plausibilität dieser Liebesgeschichte. Ich hab deshalb noch nie so intensiv Schauspieler gecastet und mit ihnen gearbeitet, ich wollte, dass die Leute Buch und Film als ebenbürtig wahrnehmen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, wenn es heisst: Das Buch war besser.»
Und weil die Liebesgeschichte so wichtig war, wurde auch eine Frau mit einem Frauenblick beigezogen, die Produzentin Anita Wasser nämlich. Für den Film dürfte dies eine existenziell wichtige Entscheidung gewesen sein. «Thomas Meyer ist ein Mann, ich bin ein Mann und es geht um eine Liebesgeschichte. Deshalb sagte ich von Anfang an, ich will den Blick einer Frau haben. Ich sagte zu Thomas: Hör auf die Frau! Wir Männer ... nein, wir sind nicht wirklich unsensibel, wir sehen gewisse Dinge einfach nicht!»
«Höchstens ironisch! Für mich war immer klar: Alles Wissen kommt von den Frauen, wird von ihnen weitergegeben. Selbst wenn meine Mutter am Herd stand und Mittagessen kochte, dachte ich: Wow, sie weiss alles. Sie sagte mir schon früh: Michael, Frauen sind das Schönste, was es gibt. Sie hatte recht.»
«Wolkenbruch» ist eine echte romantische Komödie. Mit umverteilten Geschlechterrollen. Motti ist die nicht ganz einfache Prinzessin, die unbedingt einen Prinzen finden muss und will und aus Liebeskummer auch mal herzzerreissend heult. Seine Laura dagegen kommt auf ihrem Velo wie auf einem weissen Pferd daher, ist stark und cool und bleibt immer «etwas in der Luft, ein Ideal, wie im Märchen. Ich wollte ihr nicht zu viel Bodenhaftung geben, sonst geht der Zauber verloren».
Motti lebt im Zürcher Stadtteil Wiedikon, dem Kreis 3. Im traditionell jüdisch orthdoxen Viertel also, wo auch Steiner vierzehn Jahre lang gelebt hat. Er kennt dort alles, Mottis Welt zu drehen war für ihn ein Heimspiel. Von Laura erfährt man nichts, weder über Herkunft noch Zukunft, bloss, dass sie im Kreis 5, auch bekannt als Züri West, lebt. Wieso gerade da? «Zürich sieht überall ähnlich aus. Der Kreis 5 ist anders, mobiler, industrieller, nicht so touristisch.» Was für Einheimische den Film umso vertrauter macht. Da sind tausend Orte, Bars, Brücken, Strassen, wo wir auch sind. Täglich. Ein Film wie eine kleine Heimat.
Für Motti ist Lauras Stadtkreis fremd und aufregend, er entdeckt in Züri West tatsächlich den Westen. Weshalb da auch kein Klezmer spielt wie in Mottis Quartier, sondern die Bieler Rockband Death by Chocolate. Wieso gerade die?
Einen was? «Einen Baum! Für unseren Garten! Ich kann ja nicht gut in Zürich einen Baum im Wald klauen, da kommt sofort ein Förster, also dachte ich, im Solothurnischen ist das einfacher. Mehr Wald und weniger Förster und keiner kennt mich. Samantha und ich machten ein Wochenende lang Airbnb, am Sonntagmorgen gingen wir mit einem Spaten in den Wald auf der Suche nach einem jungen Baum, ich fand einen, er war perfekt. Leider war der Spaten morsch. Der Stiel brach beim ersten Stich entzwei. Dafür hab ich Death by Chocolate mit nach Zürich genommen.» Besser die Band als den Baum.
Michael, bist du eigentlich der neue Kurt Früh? Der hatte auch diese Art, in seinen Filmen das kleine, junge und alles andere als reiche Zürich zu zeigen. Das Langstrassenquartier in «Bäckerei Zürrer» und «Hinter den sieben Geleisen». Die Betonblöcke der Agglo in «Der Fall». Und immer wieder die brutale Backstage-Tristesse des Sechstagerennens. «Schön wär's! Ich hab vor dem Dreh seine Filme nochmals geschaut. Ich wollte wissen, wie er damals Zürich erzählt hat. Und hell yeah, Früh ist immer noch Masterclass! <Der Fall> ist mein Lieblingsfilm, Frühs Sprung in die Moderne nach den Kleinbürgerfilmen.»
Champagner der Marke Krug? «Nein, stimmt nicht.» Stand aber so in der Zeitung. «Stimmt trotzdem nicht! Die Geschichte dahinter geht anders. Ich war an einer Krug-Degustation im Dolder. Da gab's diesen 2003er-Vintage. Die Tester tranken alle nur einen kleinen Schluck, aber ich fand das Zeug so wahnsinnig geil, dass ich einfach die anderen Gläser auch geleert habe und als ich die alle weg hatte, sogar der Flasche hinterhergerannt bin. Natürlich war ich aufgrund des heftigen Konsums einigermassen verhaltensauffällig. Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen. Deshalb schwärmte ich in der Zeitung von diesem wirklich grossartigen Champagner. Aber mein Lieblingsgetränk ist Gin Tonic. Wie im <Wolkenbruch>.»
Fühlt er sich von den Medien eigentlich oft missverstanden? Wenn wieder und wieder auf den jetzt doch schon ein Jahrzehnt zurückliegenden Geschichten von Konkurs, Koks und Kokotten herumgeritten wird?
«Nein. Aber in jedem Artikel wird mir garantiert irgendwas zugeschrieben, was ich nicht bin. Das fällt mir natürlich auf. Ich steck ja in meiner Haut. Rote Teppiche sind das eine, das sind Inszenierungen, das macht auch richtig Spass. Sonst entspricht das Bild, das ich gegen aussen verkörpere, nicht dem Bild, das ich von mir habe. Das sind zwei verschiedene Michael Steiner.» So geht es Stars eben. «Ich bin ein Mittelklassekind, das vermutlich eine spezielle Begabung in Sachen Film hat. Und als solches suche ich den Rummel eigentlich gar nicht.» Lassen wir das mal so stehen.
Selten sieht man Basman in grossen Komödienrollen, dabei ist er virtuos und unendlich liebenswert. Mottis leicht rötliche Locken sind eine Perücke. Darunter hatte Joel Basman während des Drehs nämlich gar keine Haare. Er pendelte gerade zwischen dem kahlgeschorenen Nazi Rudolf Höss in der Arte Dokufiction «Krieg der Träume», einem russischen U-Boot-Soldaten in «Kursk» und dem Zürcher Juden Motti Wolkenbruch. Eine kleine Randnotiz in Sachen Haare: In Zürich wie in Tel Aviv, wo Mottis erstes Mal in aller Pracht vollzogen wird, wurden für die orthodoxen Juden im Film zeigefreudige bärtige Hipster-Statisten gecastet. So macht man das heute.
Vier Jahre lang hat Michael Steiner mit seiner Ex-Frau und seinen beiden Kindern auf den Philippinen gelebt und beim Wiederaufbau der Stadt Tacloban nach dem Monstertaifun Haiyan geholfen. Wie kam ihm die Schweiz nach der Heimkehr 2016 vor? «Wie das Paradies. Je länger du in der dritten Welt lebst, desto genauer erkennst du, wie korrupt alles ist und wie krass zivilisiert wir hier in vielen Belangen sind. Und dass dies alles mit Bildung zu tun hat. Irgendwann wird dir fadengrad bewusst: Bildung ist das allergrösste Gut und das macht uns zu den Menschen, die wir sind. Mit diesem Herz, das wir als Schweizer haben.»
Haben wir denn ein besonders grosses Herz? «Ja. Wenn es hart auf hart kommt, hilft der Schweizer. Nicht jeder natürlich. Und auch nicht im Alltag.» Ausser, der Alltag findet sich im Film. Oder in einer kleinen, bunten Bar in Hottingen.
THE END.