Was passiert, wenn Kinder eine grosse Reichweite auf Social Media haben und jede Woche tausende Dollar verdienen? Soviel vorweg: nichts Gutes.
Dieser Frage geht Netflix in der neuen Dokumentation «Bad Influence: The Dark Side of Kidfluencing» nach. In der dreiteiligen Serie geht es um die 17-jährige Influencerin Piper Rockelle und die Jugendlichen, die in ihren Videos mitgewirkt haben. Mehrere davon sind inzwischen ausgestiegen und behaupten in der Doku, von Pipers Mutter Tiffany Smith misshandelt worden zu sein.
Rockelle begann mit acht Jahren, Inhalte online zu posten, zunächst auf der App Musical.ly. Als sie im Teenageralter war, hatte ihre Mutter um sie herum ein Social-Media-Imperium aufgebaut, das YouTube, TikTok und Instagram umfasste. Sie teilte Videos, wie sie mit ihren Freunden Dinge unternimmt. Als die Klicks in die Höhe schellten, wurden weitere Jungs und Mädchen zur Gruppe hinzugefügt, die als Pipers «Squad» bekannt wurde. So richtig Erfolg feierte die Gruppe während der Pandemie, als viele zu Hause herumhockten und Onlineinhalte konsumierten.
Den Kindern, meist aufstrebende Schauspieler, und deren Eltern wurde versprochen, dass sie mit der «Squad» bekannt werden und somit ihre Marke aufbauen können. Bezahlt wurden sie nicht. Lediglich Markendeals durften sie annehmen – doch auch hier wurde von Piper und ihrer Mutter genau kontrolliert, wer für welche Marke Werbung machte.
Gemeinsam mit Pipers Mutter und Managerin Tiffany Smith und deren kontrovers jüngeren Partner Hunter (der alles filmte und die Videos bearbeitete) lebten die Jugendlichen in einem Haus in Los Angeles. Dort nahmen sie mehrere Videos am Tag auf und filmten meist bis spät in die Nacht hinein. Oft waren die Jugendlichen komplett erschöpft, assen zu wenig und weinten. Doch The Show Must Go On.
In den Videos ging es meistens um Streiche, virale Tanzchoreografien oder auch Crushes auf andere der Gruppe. In den Interviews der Doku erzählen die ausgestiegenen Mitglieder, dass die Streiche oft viel zu weit gingen und grausam waren. In einem YouTube-Video zum Beispiel gab Piper vor, sich das Bein zu brechen und einen Schlaganfall zu erleiden und wurde in einem gemieteten Krankenwagen abtransportiert, während ihre Freunde verzweifelt zurückblieben.
«Es gibt so viele Videos, in denen wir uns alle unwohl gefühlt haben», sagt Sophie Fergi, die ihre Erfahrungen mit Piper als «einige der härtesten Jahre meines Lebens» beschreibt. Damals war sie erst 12 Jahre alt.
Schnell merkte Tiffany, dass mehr Leute die Videos der Gruppe anschauten, wenn die Thumbnails anzüglich sind. Die Mädchen mussten im Bikini posieren oder ihr Shirt so weit anheben, dass der BH zu sehen ist. Die Jungs mussten teilweise oben ohne vor der Kamera stehen.
Doch bei den sexualisierten Inhalten vor der Kamera blieb es nicht. In der Dokumentation sagen mehrere ehemalige «Squad»-Mitglieder aus, dass Tiffany ihnen gegenüber sexuell übergriffig wurde. So erinnert sich ein Mädchen daran, dass Tiffany sie gefragt habe, ob sie wisse, was ein Blowjob ist und ob sie das gerne mal an Hunter, der Anfang 20 war, ausprobieren würde. Zu diesem Zeitpunkt war sie 13. Jemand anders erzählt, dass Tiffany sich vor ihr ausziehen wollte.
Corinne, auch ein ehemaliges «Squad»-Mitglied, erinnert sich in der Doku daran, dass sie mit Tiffany zur Post ging, wo diese mehrere Pakete abschickte. Anscheinend war darin Unterwäsche von Piper. Als Corinne fragte, warum, habe Smith erklärt: «Alte Männer riechen gerne daran».
Überraschend ist das nicht, denn die Doku verweist auf eine Studie, die besagt, dass 60 Prozent der Inhalte, die auf den Computern von Personen mit pädophilen Neigungen gefunden werden, von Social-Media-Plattformen stammen. Und 92 Prozent des Publikums von Influencern im Teenageralter sind wahrscheinlich erwachsene Männer.
2022 reichten elf ehemalige «Squad»-Mitglieder Klage gegen Tiffany Smith ein. In der Klage heisst es, dass sie «häufig einer emotional, körperlich und manchmal auch sexuell missbräuchlichen Umgebung ausgesetzt waren, die von Tiffany Smith am und ausserhalb des Sets während der Dreharbeiten für Pipers YouTube-Kanal ausgeübt wurde».
Der Prozess gegen Tiffany wegen Kindesmissbrauchs wurde im Oktober 2024 beigelegt und es kam zu einer aussergerichtlichen Einigung in der Höhe von 1,55 Millionen Franken.
Piper ist inzwischen 17 und teilt immer noch sexualisierte Beiträge auf Social Media. Sie verkauft auch Bilder auf einer Plattform, auf die nur Erwachsene Zugriff haben. Ihr YouTube-Kanal ist zwar noch online, wurde aber entmonetarisiert. Sprich, sie kann kein Geld mehr damit verdienen.
Sie und ihre Mutter haben es abgelehnt, in der Dokumentation Stellung zu nehmen und stritten vor der Veröffentlichung alle Vorwürfe ab.
«Natürlich haben wir nichts getan, was uns vorgeworfen wurde, aber leider ist Geld ein grosser Motivator für bestimmte Menschen. Wir haben die Entscheidung getroffen, die Sache hinter uns zu lassen, denn ehrlich gesagt wäre ein längerer Rechtsstreit für alle Beteiligten – auch für die Kinder – noch schädlicher und schmerzhafter», so Smith gegenüber dem Magazin «People». «Piper ist minderjährig und hat bereits eine Menge unnötiger und schädlicher Nachforschungen über sich ergehen lassen müssen. Deshalb haben wir uns entschieden, ihre psychische Gesundheit in den Vordergrund zu stellen und die Sache hinter uns zu lassen.»
Was in der Dokumentation weniger zur Sprache kommt, ist die Verantwortung der Eltern von den anderen Kindern. Es kann argumentiert werden, dass sie ihre elterlichen Pflichten vernachlässigt und viel zu lange gewartet haben, um ihre Kinder aus diesem toxischen Umfeld herauszuholen.
Auch wenn die Vorwürfe in der Serie schockierend sind, ist es nicht überraschend, dass diese Branche auf Ausbeutung und Missbrauch beruht. Momentan fehlen auch einfach die nötigen Gesetze, um Kinder-Influencer zu regulieren.
Die dreiteilige Doku-Serie ist auf Netflix verfügbar.
Der US-Raubtierkapitalismus monetarisiert alles.
Auch Kindheiten.