Da teilt die Frau ihre Initialen mit der extraterrestrischen Filmkreatur E.T., doch sie ist so dermassen von dieser Welt, so überaus irdisch und zugleich ein so riesengrosser Star, dass ich in ihrer Gegenwart an diesem Wochenende nicht anders kann: Die Tränen schiessen mir in die Augen. Denn Emma Thompson war immer schon da, als ich vor vielen Jahren das Nest der wohligen Unwissenheit verliess und erwachsen wurde. Sie pfadete mit ihren Kinorollen für viele Frauen, junge und nicht mehr so junge, einen Weg aus Selbstbewusstsein und Witz, sie spiegelte aber auch Schmerzliches und ein Verzweifeln an der Welt.
«Wir sind alle grossartige, mutige Heldinnen», sagt sie jetzt zwischen zwei Kühlgeräten auf einer überdachten Aussenbühne in Locarno (die Kühlgeräte sind wichtig, die Tessiner Hitze komme ihr vor «wie meine zweite Menopause», meinte sie am Vortag), «es bleibt uns ja gar nichts anderes übrig, wir leben ja im Patriarchat.» Sie erzählt von ihrer Grossmutter, einem Dienstmädchen ohne jede Bildung, das von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt und geschwängert worden war und das Kind ausgetragen hatte. Und entdeckt hatte, dass es den meisten ihrer Kolleginnen ebenso ergangen war, dass es da ein ganzes System der unehelichen Kinder aus hierarchischen Ausnutzungsverhältnissen gab.
Die Grossmutter wurde zur Vorlage ihrer Rolle als Haushälterin in «The Remains of the Day» mit Anthony Hopkins als Butler. Hopkins ist ihr von allen, mit denen sie schon zusammengearbeitet hat, der liebste, sagt sie, aber auch Hugh Grant erwähnt sie mehrfach, er war ihr Komplize in «Sense and Sensibility», und als sie beide an der Premiere von «Love Actually» standen und den Film damals für höheren Blödsinn ohne Haltbarkeit hielten, habe Grant zu ihr gesagt: «Ist das etwa das psychotischste Ding, das wir jemals gemacht haben?»
Für die Jane-Austen-Verfilmung «Sense and Sensibility» war Emma Thompson 1996 für zwei Oscars nominiert, als Hauptdarstellerin und als Drehbuchautorin, sie gewann den Drehbuch-Oscar, er war die direkte Folge eines Penis-Witzes, den sie Jahre zuvor für eine TV-Show geschrieben hatte. Und der seinen Ursprung wiederum in ihrer Vergangenheit als Stand-up-Comedienne hatte. «Früher machte ich oft Comedy für politische Veranstaltungen. Für Argentinien und Chile und gegen Margaret Thatcher und Herpes. Ich fand, Thatcher und Herpes muss man beide loswerden.» Es folgte ein TV-Sketch über einen sexuell unerfahrenen Mann, der seinen Penis für einen Schädling hält: «Der Produzent von ‹Sense and Sensibility› sah das und dachte sich: ‹Oh, diese Frau kann Jane Austen adaptieren!›» Er hatte recht.
Nach den Oscars drehte sie auch in den USA, und ausgerechnet während des Clinton-Lewinsky-Skandals arbeitete sie mit John Travolta an der Polit-Komödie «Primary Colors» (1998), in der Travolta einen Präsidentschaftskandidaten mit verhängnisvollen Affären spielt: «Wir sagten uns: Mein Gott, jetzt geschieht das alles in Wirklichkeit! Oh, wenn wir doch heute bloss wieder einfach einen netten Sexskandal haben könnten und nicht all diesen Mist! Da fällt mir eine gute Geschichte ein!»
Die Geschichte ist wirklich gut und Emma Thompson hat diese ideale Erzählstimme, der man stundenlang zuhören möchte, es ist eine warme Stimme voller Leben und voller Welt, voller Sonne und Regen und Weisheit und Gelächter. Doch zurück zur Geschichte: Emma Thompson sitzt also während des Drehs von «Primary Colors» in ihrem Trailer. Das Telefon klingelt. «Es war Donald Trump. Und er sagte mit dieser typischen Donald-Trump-Stimme: ‹Hier ist Donald Trump.› Ich fragte: ‹Wie kann ich Ihnen helfen?› Er sagte: ‹Oh, ich würde mich sehr freuen, wenn sie mich an einem meiner schönen Orte besuchen und mit mir dinieren würden.›»
Was Trump wohl wusste, war, dass an ebendiesem Tag ihre Scheidung von Kenneth Brannagh vollzogen worden war. Was er offenbar nicht wusste oder ignorierte, war, dass sie mit dem Schauspieler Greg Wise, den sie am Dreh von «Sense and Sensibility» getroffen hatte, zusammen war. «Es fühlte sich wie Stalking an», sagt sie, «er hat sich die Nummer des Telefons in meinem Trailer beschafft.» Und: «Ich hätte auf ein Date mit Donald Trump gehen und den Lauf der amerikanischen Geschichte ändern können!»
Emma Thompsons Eltern sind beide Schauspieler, sie selbst wollte nie Schauspielerin werden, «das war mir zu sehr Prekariat, in der Schule besuchte uns mal eine Frau aus der Verwaltung, ich dachte, das ist doch ein guter Beruf, die trägt so schöne Schuhe.» Doch dann studierte sie in Cambridge Literatur, wurde Punk und Feministin, trat einer Theatergruppe bei, ihre besten Freunde waren Stephen Fry und Hugh Laurie, ein paar Jahre später stiessen Kenneth Brannagh und Helena Bonham Carter zu dem Kreis, erst verliebten sich Thompson und Brannagh, dann Brannagh und Bonham Carter, die später wiederum Tim Burton heiratete.
Es war ein Reigen der hochbegabten jungen Briten mit viel klassisch britischem Literaturgepäck, die 90er-Jahre gehörten ihnen. Und Emma Thompson definierte Rolle um Rolle so um, dass ihre Heldinnen endlich zu Figuren wurden, mit denen sie sich auch identifizieren wollte. Es konnte doch nicht sein, dass Marlon Brando ihr grösstes Vorbild blieb.
Heute ist Emma Thompson 66 und hat ihren ersten Action-Thriller gedreht. Er heisst «The Dead of Winter», damit wurde sie nach Locarno eingeladen, ein Winter-Krimi aus Minnesota, der jedoch in Finnland gedreht wurde. «Es war minus 27 Grad, die Kälte war wie ein Tier, das sich an dir festbeisst!» Thompson spielt eine «ganz normale Frau», die zufällig Zeugin einer Entführung wird und versucht, das Opfer zu retten.
Leider, leider ist der Film nicht gut, ein leider, leider von allen Seiten nicht überzeugend gespieltes «Fargo»-Imitat, doch er bot den Anlass, Thompson nach Locarno zu holen, deshalb schauen wir dem halbtoten Gaul jetzt nicht mehr länger ins Maul (zuhause in Grossbritannien wird er eh schon abgefeiert, der Kritiker des «Guardian» gibt ihm ganz patriotisch die Höchstwertung). Und dafür, dass sie in Finnland eisbaden und -tauchen musste und überhaupt ihren inneren Tom Cruise entfesselte, gebührt ihr riesiger Respekt.
«Ganz normale Frauen» sind ihr Steckenpferd, am liebsten ist ihr die pensionierte und verwitwete Lehrerin Nancy in «Good Luck to You, Leo Grande» (2022), die noch nie einen Orgasmus hatte und nun einen Callboy engagiert, der ihr endlich die nötigen Grundlagen vermittelt.
Die grosse Masse der Zuschauerinnen und Zuschauer erinnert sich jedoch eher an ihre exzentrischen Rollen. An die von ihr entwickelte Anti-Mary-Poppins Nanny McPhee, die sie über alles liebt. An ihre Frauenärztin in «Bridget Jones». An die Professorin Sybill Trelawney in «Harry Potter». Noch nie wurde «Harry Potter» in einem Gespräch so schnell abgetischt: «Das ist nun wirklich kein bedeutender Teil meiner Karriere. Ich mach da jeweils fünf Tage lang irgendwas mit einer Brille und Perücke – fragen Sie mich was anderes!»
Apropos Anderes: Kaum war Emma Thompson am Donnerstagmittag zum ersten Mal in einer Pressekonferenz aufgetreten, vermeldeten Mode-Blogger rund um den Globus auch schon, dass sie einen pyjamaesken Hosenanzug im sogenannten «High Summer Cherry»-Print von Stella McCartney tragen würde, Hochsommerkirsche also, und dass diese Kirschen nicht einfach schwarz und grau seien, wie ungeübte Augen vermeldeten, sondern dass man einen beinahe schwarzen Violett-Ton in den Kirschen erkennen würde und dass genau dieser auch Thompsons Lippen schmücken würde.
So schnell hat sich noch nie eine Fashion-Meldung aus Locarno verbreitet. Und so viele Leute habe ich abends auch noch nie vor der Piazza Grande Schlange stehen sehen. Geschätzte tausend wurden wieder weggewiesen, es gab Buhrufe, ein Tumult drohte seinen Anfang zu nehmen, ein Kinokühlschrank bot den Abgewiesenen eine Parallelvorführung von «The Dead of Winter», doch das ist natürlich kein wirklicher Ersatz für die Piazza mit der grössten Open-Air-Leinwand Europas unter dem grössten Naturscheinwerfer der Welt, dem Vollmond.
Und was meint Emma Thompson dazu? «Ich dachte: Hmmm, hoffentlich wird die Piazza voll, vielleicht wird sie etwas dünn besetzt sein, aber egal. Dann kam ich raus und kriegte fast eine Hirnblutung! Dies ist mit Abstand mein absolutes Lieblingsfestival, das meine ich wirklich. Das erlebt man nur einmal im Leben – es sei denn, ich komme zurück.» Ja, bitte! Bitte, bitte, bitte!
einfach zurückhalten mit Ohnmachstsanfällen und Briefchen mit Lippenstift Küssen zustecken bei einem allfälligen meet and greet liebe Simone 😼