Er springt auf, geht in die Knie, macht mit Armen und Händen eine Schlange, eine aufgerichtete Schlange mit offenem Maul und schliesslich die Zunge der Schlange, die hervorschnellt, dann wiederholt er alles blitzschnell, es sieht fantastisch aus, echte Kampfkunst eben. Der Mann ist 71 und hat sich laut eigenen Aussagen schon jeden einzelnen Knochen in seinem Körper zweimal gebrochen – doch so geschmeidig wie er sind die meisten anderen nicht einmal vor dem ersten Knochenbruch.
Es ist nicht so, dass sich Jackie Chan für übermenschlich hält: «Ich bin nicht Superman. Ich habe Angst, jedes Mal frage ich mich, ob ich jetzt sterbe.» So wie Bruce Lee. Der grosse Kampfkünstler aus Hongkong vor Jackie Chan. Der sich 1973 ausgerechnet beim Dreh mit Jackie Chan zu «Enter the Dragon» derart verletzte, dass er drei Monate später an einer Hirnschwellung starb. Bruce Lee war damals 32. Jackie Chan 18. Ein junger, unterbezahlter Stuntman, der mit Bruce Lee im ersten Taxi seines Lebens zum Bowling fuhr, weil Superstar Bruce Lee keine Lust darauf hatte, im Bus durch Hongkong zu fahren.
Dies erzählt Jackie Chan am Sonntagmorgen in einem Kino in Locarno, er hat am Samstagabend einen Preis für sein Lebenswerk entgegengenommen und unterhielt die Piazza Grande mit folgender Familien-Anekdote über das Altern. Als er vor vielen Jahren seinem Vater dabei zuschaute, wie er ein grosses Festmahl kochte, sagte der Vater: «Mein Sohn, ich bin 60 und kann immer noch kochen. Wirst du noch kämpfen können, wenn du 60 bist? Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Doch jetzt kann ich sagen: Ich bin 71 und kann immer noch kämpfen!»
Die Sache mit dem Kochen ist deshalb wichtig, weil Jackie Chans Vater Koch von Beruf war und nach Australien auswanderte, um dort einen Job an der amerikanischen Botschaft anzunehmen, als sein Sohn sechseinhalb Jahre alt war. Die Mutter folgte ihm zwei Jahre später. Den Sohn überliessen sie der Peking Opera School, einem Internat für Kampfkunst, Schauspiel und Gesang. Sie hatten einen Vertrag für eine zehnjährige Ausbildung unterschrieben.
«Zehn Jahre waren meine Idee», sagt Jackie Chan, «ich hatte damals keine Ahnung, wie lange ein Jahr war. Bevor er abreiste, schenkte mir mein Vater einen Kassettenrekorder. Jeden Monat schickte er mir eine Kassette, die er für mich aufgenommen hatte, es war immer das Gleiche: ‹Mein Sohn, ich vermisse dich›, und so. Ich weiss nicht, wo die Kassetten jetzt sind, ich glaube, ich müsste weinen, wenn ich sie mir anhören würde.»
Die Schule war hart, zuerst absolvierte Jackie einen Schnuppertag: «Ich durfte tun, was ich wollte, Lehrer schlagen und treten ...» Als er aufgenommen worden war, wurde zurückgeschlagen und zurückgetreten. «Am dritten Tag fiel mir eine Kastanie hinter den Kühlschrank. Ich wollte den Kühlschrank beiseite schieben, da spürte ich eine Hand und mein Lehrer sagte: Zeit, dass du den Stock spürst!»
Es war die Zeit von Maos Kulturrevolution, eine totalitäre Zeit, die Unsicherheit war gross, die Fluktuation an der Schule ebenso: «Viele Lehrer flohen nach Amerika oder verschwanden.» Wenn man dies weiss, versteht man besser, weshalb Jackie Chan das heutige China nicht wirklich kritisch sieht. Wenn er von internationalen Medien zu politischen Ereignissen befragt wird, sagt er gerne: «Oh, davon habe ich noch nichts gehört!»
Mit 14 konnte man ihn als Stuntman einsetzen. Mit 16 war die Schule zu Ende, er vertrieb sich seine Zeit in Spielcasinos und sass zuhause und wartete auf Angebote. Der Vater holte ihn nach Australien, «er wollte, dass ich da heirate», die Langeweile trieb ihn nach Hongkong zurück. Und er hatte einen Traum: Er wollte nicht mehr länger Stuntman sein, er wollte Stunt-Koordinator werden, quasi die bevorstehenden Knochenbrüche der anderen organisieren. Niemand nahm ihn ernst: «Sie sagten: ‹Du bist zu jung!› Ich kaufte jeden Morgen Zigaretten und verschenkte sie, aber ich gewann keinen Respekt.»
Also lernte er. Alles. Wie eine Kamera funktioniert. Wie man beleuchtet. Einen Film schneidet. Ein Drehbuch schreibt, Regie führt. Immer im Dienst von Hongkongs riesiger Unterhaltungsfilm-Industrie, die in einem Fort komödiantische Stoffe fabriziert, in denen viel gegessen und enorm viel gekämpft wird. Food und Fights gibt es da in einer handwerklichen Perfektion, die man in Hollywood nicht findet.
Denn das ist Jackie Chans Credo (es gilt auch für Tom Cruise): Selbstgemacht muss es sein, jeder Kick, jeder Sprung ist eine Gabe ans Kinopublikum, in dessen Dienst man steht, und ein Mastermind muss restlos alle Fäden in der Hand halten können, damit eine Geschichte, egal wie klamaukig sie uns scheinen mag, kohärent ist. Hindernisse sind dazu da, um sie zu überwinden.
«Das Publikum geht ins Kino und denkt ‹Guter Film› oder ‹Schlechter Film›. Es interessiert sich nicht dafür, ob die Bedingungen, unter denen gedreht wurde, schwierig waren. Wenn ich einen Film mache, dann wird gedreht, am nächsten Tag analysiert, neu gedreht, bis alles stimmt. Wenn man nicht wieder und wieder zurückblickt, merkt man nicht, was man falsch macht. Einmal habe ich sieben Monate lang an zwei Szenen gearbeitet, sieben Monate! Heute geht sowas nicht mehr, heute ist ein Film nur noch Business.»
Jackie Chan zuzuschauen und zuzuhören, ist ein chaotisches Vergnügen, der Mann kann nicht still sitzen, unentwegt gibt es eine Ganzkörper-Illustration dessen, was er sagt und vieles davon erzählt er in klangmalerischer Comic-Sprache. Eine Kampfsequenz beispielsweise brauche einen Rythmus, eine Melodie, eine Leichtigkeit und Virtuosität: «Pssssshhhhh – aaaahhh!» Oder: «Babababa! Poooom! Powwwww!» Oder: «Papapa – booom – chaaaa!» Aber sicher nicht: «Bobobobobobobobo!», wie das die Amerikaner von ihm gewollt hätten.
Anfang der 80er-Jahre hatte er sich im Hongkong-Kino und damit in Asien durchgesetzt. «Da war ich beinahe der König von Asien und dachte, jetzt muss ich Amerika erobern, doch die Amerikaner sagten bloss: ‹Was fuchtelst du so herum? Du brauchst nur einen einzigen klaren Schlag! Denk an Clint Eastwood!› Aber ich bin nicht Clint Eastwood!»
Er kehrte nach Hongkong zurück und drehte Filme, vor denen plötzlich auch die Amerikaner Respekt hatten, darunter «Project A» und «Police Story». Schliesslich kam mit «Rush Hour» ein Angebot aus Amerika, das er akzeptabel fand: «Ich choreografierte die Kampfszenen selbst. Das machte den Film etwas besser. Nicht viel besser, aber etwas.» Danach war Jackie Chan der König der Welt. Egal, wie weh das tat.
Die Ahnung, dass er nicht mehr der Jüngste sei, die streifte ihn vor 15 Jahren beim Dreh von «The Karate Kid»: «Ich sass da, schaute, wie Jaden Smith trainierte, fächelte mir Luft zu und dachte: Jetzt bin ich alt.» Natürlich ist dies reinste Koketterie. Und herzig.
Nach Locarno hat er auch seine beiden Stoffpandas mitgebracht, der eine heisst «La», der andere «Zy», zusammen ergibt das «lazy», «faul», ein Wort, das auf Jackie Chan seit vielen Jahrzehnten nicht mehr zutrifft, auch dies kokett. La und Zy schafften es schon auf Fotos mit Bill Clinton und Sylvester Stallone, in Locarno begegnen die beiden plüschigen Botschafter Bundesrat Ignazio Cassis und Festival-Präsidentin Maja Hoffmann. Auch bedeutend, aber anders.