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«Niemand, der im Weinbusiness arbeitet, leugnet die Klimaerwärmung»

Wein und schön anstossen
Gehört für viele dazu: guter Wein.Bild: Shutterstock

Bordeaux-Spezialist: «Niemand, der im Weinbusiness arbeitet, leugnet die Klimaerwärmung»

Philippe Gallusser ist Bordeaux-Einkäufer beim Schweizer Weinhaus Martel. Er schwärmt von billigen Bordeaux-Weinen.
04.09.2023, 11:0204.09.2023, 11:22
Christian Berzins / ch media
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In meiner Weingruppe tischte ein Mitglied vor kurzem einen Mouton Rothschild 1986 auf – etwa 1000 Franken teuer, 100 Punkte bei Weinpapst Parker, trinkreif bis 2045. Das eine Mitglied sagte sofort: «hinüber!». Können Sie das verstehen, dass jemand meint, ein Jahrhundert-Bordeaux habe den Zenit überschritten?
Ich kann ihn bestens verstehen – aus mehreren Gründen. Es gibt Altwein- und Jungwein-Trinker: Viele Leute, die Wein geniessen, mögen klar erkennbare Primäraromen wie Himbeere, Citrus oder Kirschen. Bei einem 35 Jahre alten Wein sind die fruchtigen Aromen im Hintergrund. Diese alten Weine wurden auch noch ganz anders als die heutigen gemacht und das Klima war anders: Sie waren leichter, hatten oft nicht mehr als 12.5 Prozent Alkohol. Das Zweite sind Tertiär-Aromen, also Reifenoten, damit sind unter anderem erdige und balsamische Noten gemeint. Solche Aromen schrecken viele Leute ab.

Also verdient die Ehrlichkeit unseres Mitgliedes Respekt. Müsste man nicht bei manch einem Wein sagen: Da ist doch gar nichts dran!
Wein ist und bleibt eine subjektive Geschichte, aber andererseits eben auch eine objektive: Ich habe die Weinakademie besucht sowie eine Weinsensorik-Ausbildung absolviert und sehe, dass es sehr viel gibt, das man objektiv beurteilen kann. Die Länge des Abgangs, die Komplexität und vieles mehr. Aber ob jemand frischfruchtige Weine gerne hat oder gereifte Noten vorzieht, ist subjektiv.

Philippe Gallusser
Bild: ch media

Wie weit darf der subjektive Eindruck gehen? Müssten Weinfreunde nicht wenigstens etwas zu Objektivität neigen? Beispiel: Wir hatten vor kurzem einen Schweizer Weisswein, der über 200 Franken, bisweilen bis 400 Franken kostet. Und wir sagten: 40 würden wir bezahlen. Falsches Urteil?
Immerhin ein gutes Beispiel dafür, wie eine hohe Nachfrage und ein kleines Angebot die Preise in die Höhe treiben können. Wir als Weinhandlung sind nicht auf diese Preissteigerungen aus. Bei Ihrem Beispiel handelt es sich vielleicht um einen Chardonnay des Bündner Spitzenproduzenten Gantenbein. Wir verkauften den Wein des gleichen Jahrgangs für 78 Franken. Mit Spekulation hat dies nichts zu tun. Das gilt übrigens besonders auch für Weine der Domaine de la Romanée-Conti. Diese Weine sind international gesucht. Praktisch jeder Preis wird bezahlt.

Die Flasche Romanée-Conti kostet über 1000 Franken, gewisse ältere Jahrgänge auch 20'000. Erhalte ich nächstes Jahr eine Kiste bei Ihnen, wenn ich jetzt bestelle?
Wohl leider nicht. Die Nachfrage ist weit grösser als das Angebot. Deshalb müssen wir die Weine möglichst gerecht zuteilen. Man kann sich für den Kauf bewerben, erhält jedoch auch als langjährige Kundin oder langjähriger Kunde meistens eine Absage oder eine sehr kleine Menge. Sie könnten also in ein paar Jahren zu den glücklichen Romanée-Conti-Sammlern gehören.

Und dann kann ich den Wein auf dem Sekundärmarkt für viel mehr Geld weiterverkaufen?
Der Wein gehört der Person, die ihn gekauft hat. Man kann ihn verkaufen, verboten ist das nicht. Erfahren wir aber, dass jemand mit dem Wein spekulierte, verkaufen wir dieser Personen künftig keinen Wein mehr dieser Domaine.

Wo liegt bei Martel und den meisten Weinhandlungen der Durchschnittspreis?
Der Durchschnittspreis in der Schweiz liegt wohl bei rund 9 Franken pro Flasche. Unsere Weinhandlung macht den grössten Teil des Umsatzes mit Weinen im Bereich von 12 bis 25 Franken, an Private und an die Gastronomie. Durch den Verkauf von Premiumweinen wird der Durchschnitt natürlich angehoben.

Die Weine über 100 Franken kauft nur ein kleiner Prozentsatz?
Ja, wir reden hier vom Spitzenbereich, von höchster Weinkultur – oder von den Wein-Bentleys, wenn ich das so vergleichen darf. In diesem Bereich sind wir gut. Die Kompetenz strahlt auch ins preislich tiefere Segment aus, das wir ebenso schätzen. Das Volumen machen wir, um im Bild mit den Autos zu bleiben, mit qualitativ guten Fahrzeugen wie Audi oder Peugeot oder einem Volvo.

Wir haben nun über Preis und über Qualitätskriterien geredet. Wo beginnt dann bei Bordeaux-Weinen Qualität?
Ich bin überzeugt, dass es keine Region auf der Welt gibt, wo man für so wenig Geld so gute Weine erhalten kann. Im Bordeaux gibt es ab 15 Franken ausgezeichnete Weine. Qualität beginnt dort, wo Wein Struktur, Ausgewogenheit und Typizität zeigt. Je besser der Wein, je ausgeprägter sind diese Faktoren, je vielschichtiger ist ein Wein – und umso mehr kann er einen berühren.

epa08659864 Farm workers harvest grapes at Chateau Grand Corbin-Despagne vineyard in Saint-Emilion near Bordeaux, France, 10 September 2020. The vineyard has implemented strict sanitary measures to cu ...
Ein Winzer in Bordeaux bei der Arbeit.Bild: keystone

Bei Martel im Angebot ist ein gewisser Bordeaux Château Thieuley, er kostet 15.80 Franken. Und da ist auch der legendäre Château Palmer, der 2022er für 365 Franken in Subskription, also auf Vorbestellung. Ist es möglich, diese zwei Weine zu verwechseln?
Das ist fast nicht möglich – also …(überlegt): Nein, das findet jeder raus. Die Weine haben eine andere Stilistik. Der Thieuley ist unkompliziert und fruchtbetont, ein spielerischer Wein für jeden Tag. Der Palmer 2022 hat einen anderen Charakter. Dieser Wein ist präzis, extrem vielschichtig und sinnlich. Frische, Fülle, komplette Harmonie. Extrem lang, mehr als eine Minute Abgang.

Sie haben in Subskription etwa 150 Bordeaux-Weine im Angebot. Kann ich als «Martel»-Einkäufer hingehen und sagen: «Für mich 2000 Flaschen Mouton Rothschild!»?
Nein, das geht nicht so einfach. Der Bordeaux-Handelsplatz hat seine eigenen Spielregeln und ist ziemlich kompliziert organisiert, mit einer grossen Handelsplattform und einem historisch gewachsenen System von Zwischenhändlern. Wir machen zum Teil mit bei diesem System, importieren jedoch je länger, je mehr direkt.

Und wenn Sie einen berühmten wie «Mouton Rothschild» wollen, müssen Sie vom Zwischenhändler, dem Negociant, noch irgendeinen unbekannten Wein dazunehmen?
Wir sind da sehr zurückhaltend. Aber Sie haben schon recht: Ich kann vielleicht keinen Mouton allein kaufen, es ist in diesem Bereich ein Geben und Nehmen. Punkto Qualität von Zweitweinen machen wir jedoch keine Kompromisse.

Der Mouton Rothschild 2022 kostet bei Ihnen 643 Franken. Was oder wer lenkt diesen Preis?
Die ganze Welt reisst sich um diese Weine mit den grossen Namen wie Rothschild, die Nachfrage ist viel grösser als das Angebot. Das Internet bietet gute Vergleichsmöglichkeiten. Ist man zu teuer, fällt das schnell auf.

2022 soll im Bordeaux ein toller Jahrgang sein, 2022 war aber auch erneut ein extrem heisser Sommer, zum Teil fast wie 2003. Widerspricht sich das denn nicht?
Bis ins Jahr 2003, als es zum ersten Mal so unglaublich lange sehr heiss war, dachte man: je mehr Zuckergehalt, umso besser. Und dann ging der Zuckergehalt 2003 durch die Decke. Man hatte keine Erfahrung mit einem solchen Jahrgang, folglich kamen viele Weine nicht gut heraus. Man wartete zu lange mit der Ernte. Der Zucker war zwar hoch, aber die Gerbstoffe blieben grünlich, die Weine waren geschmacklich nicht reif. Jahre später – 2018, 2019, 2020 – war es wieder sehr heiss. Nur hat man in der Zwischenzeit viel gelernt im Umgang mit extrem heissen Sommern. Die Reben werden besser gepflegt und beschattet, es wird auch früher gelesen. So ergeben sich Weine mit sehr schönen, reifen Gerbstoffen und Frische, trotz Hitze und Trockenheit.

epa10817617 Mildew attacks both leaves and grapes in vineyards in St Michel-de-Lapujade, near Bordeaux, south-western France, 24 August 2023. Mildew, a micro-organism between algae and fungus wreaks h ...
Die Klimaerwärmung halbwegs im Griff, aber zurzeit macht im Bordeaux den Trauben der Mehltau zu schaffen (24. August 2023).Bild: keystone

Nennen wir das Kind beim Namen: Klimaerwärmung.
Niemand, der im Weinbusiness arbeitet, wird die Klimaerwärmung leugnen. Das ist offensichtlich. Aber eben: Heute haben die Winzer viel mehr Ahnung, wie man mit der Hitze umgeht.

Halb ist’s der Weinmacher, halb die Natur. Aber könnte es auch sein, dass sich die Traube dem Klimawandel anpasst?
Da ist sicher was dran. Ich bin täglich in Kontakt mit Winzerinnen und Winzern aus der ganzen Welt. Viele von ihnen staunen, wie gut sich ihre Reben bei Hitze behaupten. Das gilt auch für ursprünglich kühlere Gebiete wie Deutschland, die zum Beispiel im letzten Jahr mit Hitze und Trockenheit zu kämpfen hatten – und auch unter diesen Bedingungen frische und kristallklare Rieslinge erzeugten.

Und die Horrorszenarien, dass es für gewisse Trauben viel zu warm wird?
Das ist durchaus nicht vom Tisch, Merlot zum Beispiel verträgt extreme Hitze weit weniger gut als zum Beispiel Cabernet Sauvignon. Darum beginnen im Bordeaux immer mehr, Malbec oder auch etwa die portugiesische Sorte Tourgia Nacional anzubauen. Insgesamt sind sechs Rebsorten zusätzlich zu den klassischen Bordeaux-Reben zugelassen.

Also haben die Bordeaux-Weine ein Problem, wenn sie auf Merlot setzen?
In der Tendenz ja, die Rebfläche von Merlot ist im Bordeaux rückläufig. Doch es sind beim Wein immer mehrere Faktoren, die mitspielen. Mitentscheidend sind das Können der Winzer und das Terroir, die Böden. Zu meinen 2022er-Favoriten zählen tatsächlich auch reinsortige Merlot-Weine, die eine wunderbare Frische zeigen.

Sind denn die traditionellen Güter so beweglich?
Durchaus. Man muss auch sehen, dass im Rebbau die Veränderungen sehr langsam vor sich gehen. Pflanze ich neue Reben, muss ich mindestens zehn Jahre warten, bis die Trauben erstklassige Qualität liefern. Vermutlich sogar länger.

Die Schweiz ist ein Pinot-Noir-Land, und im Tessin haben wir den Merlot. Dann haben wir bald ein Problem.
Um den Merlot müssen wir weniger Angst haben: Über 40 Grad heiss wie im Bordeaux wird es im Tessin kaum. Beim Pinot Noir kann es Probleme geben, die Rebsorte mag es nicht zu heiss. Manche Gegenden in der Schweiz gehören zu den Gewinnern der Klimaerwärmung. Unsere Stars aus der Bündner Herrschaft liegen zwischen 500 Meter und 650 Metern, das ist ideal, da ist es nicht dauernd so heiss, in den Nächten gar wunderbar kühl.

Die guten Bordeaux werden teurer, aber im« Tages-Anzeiger» lasen wir vom «Bordeaux in Not». Was ist da los?
Wir sprechen und sprachen hier von den Grand Cru Classes, den grossen Weinen, die teuer werden. Aber im Bordeaux gibt es noch viel mehr Wein, insgesamt 200'000 Hektaren, die Schweiz hat gerade mal 15'000. Vor etwa 30 Jahren gab es einen Riesenboom, das kam mit dem Weinpapst Parker, alle wollten Bordeaux trinken. Auch die kleinen Weinbauern profitierten, man baute Reben an, blies es auf. Und dann war Bordeaux irgendwann weniger gefragt und es machte «Plopp!». Es gibt ein Überangebot an Billig-Bordeaux. In diesem Segment sind wir allerdings nicht tätig.

Das sind aber teilweise gute Weine?
Billig-Bordeaux – ich rede von Wein um die zwei Euro – und die Grand Cru Classe-Weine, die wir handeln, sind qualitativ zwei Welten. Massen-Bordeaux lässt sich zudem heute auch zu Tiefstpreisen schlecht verkaufen. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Spitzenwein aus dem Bordeaux. Es ist auch im Bordeaux noch immer möglich, Châteaus zu entdecken, die sehr guten Wein zu vernünftigen Preisen produzieren. Bordeaux für 500 Franken: schön und gut. Aber es gibt auch tolle Weine ab 10 bis 15 Franken. Nach diesen suchen wir.

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quelle: epa/efe / raque manzanares
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