Es war das Jahr 2011. Ich war 17 und sass der Gastroenterologin gegenüber, die bereits die zweite Speiseröhrenspiegelung an mir durchgeführt hatte. Die Kamera wies zwar erneut Reizungen in meiner Speiseröhre nach, bot aber keine Erklärung für meine weiteren Symptome – wie etwa, dass mir besonders von Kohlensäure immer übel wurde. Ich hatte keine Ahnung, ob überhaupt irgendein Zusammenhang mit der Speiseröhre bestand, aber sie war die Spezialistin und fragen kostete ja nichts. Ausser meine Selbstwahrnehmung, wie ich sofort merken sollte.
«Sie sind selber schuld, wenn Sie Luft schlucken!», schnaubte die Spezialistin empört. Ihre Reaktion war so heftig, dass ich beschämt meine aufwallenden Tränen wegblinzelte und mir schwor, das Thema zu begraben. Weder sie noch ich konnten damals wissen, dass ein kleiner Muskel in meinem Hals schuld an einer Reihe scheinbar zusammenhangsloser Symptome war.
Die Störung Retrograde Cricopharyngeal Dysfunction (kurz R-CPD) sollte erst acht Jahre später erstmals vom amerikanischen Arzt Robert W. Bastian als Krankheitsbild benannt und beschrieben werden. Alle nachfolgend schräg gedruckten Passagen stammen aus dieser ersten 2019 veröffentlichten Studie, die auf der Untersuchung von 51 Patientinnen und Patienten basiert.
Das ist meine Geschichte mit R-CPD.
Rückblickend begannen die Probleme schon früh. Meine ersten Erinnerungen daran beziehen sich auf unsere häufigen Wanderausflüge in meiner Kindheit. Zu Hause hatten wir eigentlich nie Süssgetränke, doch beim Wandern und dem anschliessenden Zmittag oder Snack in der Beiz, da durften wir bestellen, was unser Herz begehrte. Meine Favoriten: zum Trinken Orangina oder Rivella, zum Dessert Meringue mit Rahm oder eine dieser blauen Schatztruhen mit dem darin verborgenen Spielzeug. Oft war mir danach ein wenig übel, doch aus Angst, in Zukunft auf mein Dessert verzichten zu müssen, sagte ich nichts.
Ich belastete meine Eltern ja ohnehin schon mit meinen gesundheitlichen Problemen. Ich litt häufig unter schmerzhaften Blähungen. Besonders abends war mein Bauch steinhart und aufgeblasen wie ein Ballon.
Zahlreiche Patientinnen und Patienten sagten: «Ich beginne den Tag mit einem flachen Bauch, und am Ende des Tages sehe ich schwanger aus.» (Aus R. W. Bastians erster veröffentlichten Studie zu R-CPD, 2019).
Damalige Untersuchungen führten ins Leere, doch mit etwa acht Jahren entdeckte man beim Röntgen wegen einer Bronchitis per Zufall eine riesige Blase in meinem Magen. Im Kinderspital kamen die Ärzte zum Schluss, dass es sich um in Speichel gehüllte Luft handeln musste. Wie sich diese bilden konnte, blieb ein Mysterium. Doch das Ganze sei harmlos, sagte man uns, das war das Wichtigste.
Die häufigen Blähungen und das Unwohlsein begleiteten mich in die Teenager-Jahre. Da eröffnete sich mir die Welt des Alkohols – und Probleme in einer ganz neuen Intensität. Ein Bier und ich hing 15 Minuten später würgend über der Kloschüssel. Vodka-Redbull und anderes Teenie-Gesöff, dasselbe Spiel. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass nicht etwa der Alkohol, sondern die Kohlensäure das Problem sein musste – und plötzlich wusste ich auch, weshalb mir als Kind nach dem Wandern so häufig übel war. Meine Getränkeauswahl schrumpfte als Konsequenz massiv und fortan wurde es mir nur noch berechtigt übel, wenn ich es mit dem Vodka mit Orangensaft übertrieben hatte.
Mit dem Fernbleiben von Kohlensäure löste sich zwar das Problem der darauffolgenden heftigen Übelkeit, was aber blieb, war das Magenbrennen. Dieses war ungefähr im Alter von 15 in mein Leben getreten. Nach jedem Essen brannte mir die Magensäure in der Speiseröhre, und wenn ich mich hinlegte, lief sie mir bis in den Rachen. Eine Magenspiegelung erbrachte die Diagnose Speiseröhrenentzündung aufgrund von starkem Reflux. Ich erhielt sogenannte Protonenpumpeninhibitoren (PPI), welche die Produktion der Magensäure blockierten. Eine grosse Erleichterung stellte sich nicht ein.
Viele Patienten hatten auch gastroösophageale Refluxsymptome, die erhebliches Sodbrennen verursachten; bei keinem der Patienten hatten PPIs (Protonenpumpeninhibitoren) jedoch eine Linderung der Symptome von R-CPD bewirkt.
Das Magenbrennen besserte sich nicht, und immer häufiger befiel mich nach dem Essen ein seltsamer Schmerz hinter der Brust und im Hals, so als würde etwas feststecken. Zudem begann ich auch öfter Übelkeit zu verspüren, ohne Kohlensäure getrunken zu haben.
Ein weiteres Symptom des Syndroms, das in 49 von 51 Fällen auftrat, waren Beschwerden, die auf eine Dehnung der Speiseröhre, des Magens und des Darms zurückgeführt werden können: zentraler, stechender Brustschmerz, Blähungen und Völlegefühl im Bauchraum und gelegentlich Übelkeit, insbesondere nach dem Essen. Schmerzen oder ein furchtbarer Druck wurden in unterschiedlichem Masse im unteren Halsbereich, in der Brust, im Bauch und im Rücken angegeben.
In meiner Verzweiflung googelte ich immer wieder erfolglos nach meinen verschiedenen Symptomen, bis ich eines Tages auf einen Beitrag auf Reddit stiess.
Inhaltlich war er fast identisch mit diesem Beitrag:
Die Person beschrieb exakt meine Symptome. Ich konnte es kaum fassen. Zum ersten Mal überhaupt schien es einen Beweis zu geben, dass ich mit meinen Problemen nicht alleine war. Und: Auch ich konnte nicht rülpsen. War das die Ursache des Problems? Ausserdem gaben mein Magen und Hals nach dem Essen (und insbesondere nach Kohlensäure) ebenfalls ganz seltsame gurgelnde Geräusche von sich.
Ein drittes Hauptsymptom, das bei 50 von 51 Patienten festgestellt wurde, waren gurgelnde Geräusche aus dem Brustkorb und dem unteren Hals- oder Bauchraum. Ein Patient sagte: «Ich kann sechs Stunden lang nichts essen, bevor ich in den Unterricht gehe, weil die Geräusche die anderen Studenten in meiner Nähe stören würden.» Die Geräusche wurden als «lautes Gurgeln», «Froschgequake», «Dinosauriergeräusche», «strangulierter Wal» oder «Monstergeräusche» beschrieben.
Die Antworten auf den Reddit-Beitrag waren voller gut gemeinter Ratschläge, wie man denn zu rülpsen lernt. Es half alles nichts. Die Erleichterung, die ich nach dem Finden des Reddit-Beitrags verspürte, war dennoch gross. Ich war nicht die Einzige. Es musste also eine vernünftige Erklärung geben.
Ich beschloss, der Sache nochmals auf den Grund zu gehen. Ich schilderte das Problem meinem Hausarzt, der zuerst ungläubig lachte und dann plump antwortete: «Dann müssen Sie halt rülpsen lernen!» Eine Reaktion, die mir mittlerweile allzu bekannt ist. Ich beharrte auf der Ernsthaftigkeit des Themas und er verwies mich an Spezialistinnen und Spezialisten. Diesmal wurden nebst einer zweiten Speiseröhrenspiegelung auch ein Ösophagus-Breischluck und eine Ösophagus-Manometrie durchgeführt.
Beim Ösophagus-Breischluck handelt es sich um eine Röntgenuntersuchung der Speiseröhre. Dabei wird Kontrastmittel getrunken, welches mittels Röntgenbestrahlung auf dem Weg vom Mund in den Magen beobachtet werden kann. Der Untersuch ergab nichts Auffälliges.
Bei der Ösophagus-Manometrie wird ein Katheter mit Druckmess-Sonden durch die betäubte Nase in den Magen geführt. Diese misst den Druck der Speiseröhre, während der Patient oder die Patientin Wasser trinkt und eine Testmahlzeit bestehend aus gekochtem Reis isst. Auch dieser Untersuch erbrachte keine neuen Erkenntnisse.
Eine Röntgenuntersuchung mit Kontrastmittel führt zwar leicht zur Diagnose einer A-CPD [eine Art Schluckstörung], nicht aber zur Diagnose einer R-CPD. Häufige (falsche) Diagnosen nach umfangreichen konventionellen Untersuchungen (Breischluck, Speiseröhrenspiegelung, Manometrie usw.) waren saurer Reflux, Reizdarmsyndrom oder «Stress».
An die exakte Reihenfolge der Untersuchungen kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiss nur noch, dass die zweite Speiseröhrenspiegelung erneut eine Reizung offenbarte und es die Aussagen dieser Spezialistin waren, die alle meine Hoffnungen auf eine Lösung zerstörten. Die Unfähigkeit zu rülpsen, Übelkeit und Unwohlsein nach dem Essen und insbesondere nach dem Trinken von Kohlensäure, das habe alles absolut nichts miteinander zu tun.
Diese Patienten erleben täglich die hier beschriebenen belastenden, kräftezehrenden und oft sozial lähmenden Symptome. Keiner von ihnen war zuvor diagnostiziert oder erfolgreich behandelt worden, obwohl die medizinische Fachwelt intensiv nach Antworten suchte.
Ich zog damals einen Schlussstrich unter meine Suche nach Antworten. Ich war ja selber schuld an meinen Symptomen, also musste ich auch selber Strategien finden, um damit umzugehen. Wenn die Übelkeit nach dem Essen unerträglich wurde, half es, wenn ich mir im Badezimmer den Finger in den Hals steckte und so den Würgereflex triggerte. Es ist die einzige, abscheuliche Möglichkeit für die angestaute Luft, aus meiner Speiseröhre und dem Bauch zu entweichen. Ich nannte es «luftkotzen». Die Schwierigkeit bestand zu Beginn insbesondere darin, früh genug damit aufzuhören, bevor der restliche Mageninhalt automatisch folgte.
Einige können mehrmals am Tag Luft ablassen, indem sie heftiges Würgen oder Erbrechen auslösen.
Ich begann genauer darauf zu achten, was ich ass, konnte teilweise identifizieren, was meine Übelkeit und das Magenbrennen nebst Kohlensäure noch verschlimmerte. Doch viele triggernde Zutaten sind mir bis heute unbekannt. Auswärts zu essen beinhaltet daher immer ein gewisses Risiko, denn da esse ich häufiger Dinge, die ich sonst nicht esse. So etwa auch an vergangenen Weihnachten mit meiner Familie. Das üppige, sehr leckere Nachtessen und das anschliessende Dessertbuffet waren zu viel des Guten.
Wenn sich die Übelkeit im ertragbaren Rahmen befindet, erwähne ich das gar nicht mehr. Einzig die gurgelnden Geräusche dürften mich verraten, und nach ein bis zwei Stunden ist es wieder vorbei. Mein enges Umfeld weiss aber Bescheid, dass es gelegentlich zum grösseren Problem werden kann. Im Ausgang ist die Frage nicht ob, sondern wann ich auf der öffentlichen Toilette «luftkotzen» muss.
Da sich die Symptome der R-CPD während und nach dem Essen und Trinken dramatisch verstärken, beschrieben die Patienten häufig soziale Ängste, die durch ihre gurgelnden Geräusche und Blähungen verursacht wurden. Viele von ihnen assen nicht ausserhalb ihrer Wohnung und mieden kohlensäurehaltige oder alkoholische Getränke.
Zehn Jahre später, Ende August 2021. Das Sommerfest bei watson endet in einer Bar an der Langstrasse. Unser Chefredaktor will uns eine Runde Bier ausgeben, ich muss dankend ablehnen. Mein ehemaliger watson-Kollege Dennis fragt mich nach dem Grund. Ich erzähle ihm die ganze Geschichte. Ungläubig hört er mir zu. Ob ich nie wieder versucht hätte, das abzuklären? Ich verneine. Fast zehn Jahre war es her seit der zweiten Magenspiegelung. Es könne doch nicht sein, dass es nach wie vor nichts dazu gebe, wendet er ein. (Wenn du das liest, danke, Dennis!)
Auf dem Heimweg im Tram google ich zum ersten Mal wieder. Und finde ihn: den Sub-Reddit No-Burp. Eine seit 2014 existierende Community von Nicht-Rülpsern, die über ihre Probleme berichten und sich gegenseitig beratschlagen. Als ich über den Begriff Air Vomit (Luft-Erbrechen) stolpere, muss ich vor Überraschung und Erleichterung fast laut loslachen. Ich bin nicht verrückt!
Mit Tränen in den Augen lese ich einen Beitrag nach dem anderen. Noch nie habe ich mich so verstanden gefühlt. Dass es uns scheinbar allen so geht, macht das Ganze noch besser:
Besonders häufig wird in dem Subreddit auch ein gewisser Dr. R. W. Bastian erwähnt. Eine Google-Suche später, und ich habe seine 2019 publizierte Studie vor mir. Der Titel:
Zum ersten Mal hat mein Leiden einen Namen: Retrograde Cricopharyngeal Dysfunction. Zum ersten Mal kann es diagnostiziert werden. Und behandelt?! Ich überfliege das Dokument, während sich alle Puzzleteile in meinem Kopf zu einem ganzen Bild zusammenfügen. Die Blähungen, die Übelkeit und das Unwohlsein nach dem Essen, die Frosch-Geräusche, der Druck auf der Brust, ja, sogar das Magenbrennen – alles scheint zusammenzuhängen.
Sogar Dinge, die ich bisher nicht einmal hinterfragt habe – zum Beispiel, wieso Erbrechen bei mir immer eine unglaublich schmerzhafte Angelegenheit ist.
Einige waren selbst nach einer Lebensmittelvergiftung nie in der Lage, sich zu übergeben, während andere berichteten, dass sie sich erst nach heftigem und schmerzhaftem Würgen übergeben konnten. Mehrere gaben an, dass sie beim Erbrechen zunächst «unglaubliche» Mengen an Luft freisetzten.
Vom vierten Hauptsymptom – exzessiver Flatulenz – schien ich verschont geblieben zu sein.
Das vierte Hauptsymptom von R-CPD war weniger universell und wurde bei 43 von 51 Patienten festgestellt: exzessive Flatulenz. Dies war für alle bis auf 8 Patienten ein wichtiges Problem. Eine junge Frau sagte: «Überall, wo ich hingehe, suche ich meine Umgebung nach einem privaten Ort ab, an dem ich kurz Gas ablassen kann.»
Die Studie bot mir erstmals eine medizinische Erklärung dafür, wieso ich nicht rülpsen konnte: Die Unfähigkeit ist auf eine Störung des oberen Schliessmuskels der Speiseröhre zurückzuführen, welcher sich nicht entspannen kann, um Luft aus der Speiseröhre und dem Magen gegen oben entweichen zu lassen. Eine scheinbar banale Störung, die weitreichende Symptome nach sich zieht.
Die Behebung dieser Symptome besteht tatsächlich darin, rülpsen zu lernen. Mit reiner Willenskraft gelingt dies allerdings nicht. Dr. R. W. Bastian beschreibt in der Studie, wie eine Botoxspritze in den Schliessmuskel die Störung beseitigen kann. Dabei wird der Schliessmuskel gelähmt und so zur Entspannung gezwungen. Während der Effekt des Botox in den folgenden Wochen nachlässt, lernt der Muskel, sich von selbst zu entspannen, wenn es nötig ist. Luft kann entweichen – man kann endlich rülpsen.
Für die erstmalige Beschreibung von der fortan kurz genannten R-CPD und deren Behandlung wird R. W. Bastian von der No-Burp-Community als Held gefeiert.
Bei allen Patienten kam es entweder zu einer vollständigen oder zumindest zu einer deutlichen Verringerung aller Symptome. Alle 51 Patienten konnten nach der Injektion rülpsen.
Meine Freude erhielt einen ersten Dämpfer, als meine Suche nach dieser Botox-Behandlung in der Schweiz erfolglos blieb. Erst an ganz wenigen Orten weltweit wurde sie angeboten. Drei Jahre lang schaute ich online immer wieder nach, bis ich vergangenen Herbst auf eine Seite des Kantonsspitals St.Gallen zur Thematik stiess. Dort wird die Behandlung angeboten.
Ich liess mich von meiner perplexen Hausärztin, die noch nie etwas von R-CPD gehört hatte, an das Kantonsspital St.Gallen überweisen. Dort hatte ich im Dezember die erste Abklärung, während derer ich der Ärztin fast um den Hals gefallen wäre. Noch nie hat man meinen Symptomen ohne Stirnrunzeln geglaubt, geschweige denn sie ernst genommen.
Als Nächstes folgt routinemässig ein weiterer Breischluck. Wenn dieser keine anderen überraschenden Probleme offenbart, sollte der Botox-Behandlung nichts mehr im Wege stehen.
Und ich werde hoffentlich bald befreit rülpsen können.
Fortsetzung folgt ...
Und es tut mir leid dass du so lange nicht ernst genommen wurdest.
Kenne das ein wenig von meinem Rücken (bitte keine Tipps, ich könnte Bücher füllen damit!)
Freu mich jedenfalls sehr für dich, dass du nach so langer Zeit wenigstens endlich einen Befund hast (schon das alleine ist unglaublich befreiend) und sich sogar eine Lösung abzeichnet (ein Leben ohne Bier könnte nur noch mit einem Leben ohne Negroni verschlimmert werden😜).
Die Daumen sind jedenfalls gedrückt!👍🏼