Jede dritte Frau leidet nach der Schwangerschaft an einem unterschätzten Problem
Das Wort ist erst auf halbem Weg in den Populärwortschatz: Rektusdiastase. Gemeint ist ein Spalt zwischen den geraden Bauchmuskeln, der entsteht, wenn das Baby im Bauch grösser wird. Bei vielen Frauen entwickelt er sich im ersten Jahr nach der Geburt zurück. Aber längst nicht bei allen. Gemäss der Hirslanden Klinik sind ein Jahr nach der Geburt noch 30 Prozent der Frauen betroffen. Ist der Spalt gross, ist es auch der Leidensdruck: Rückenschmerzen, ein vorstehender Bauch und eine instabile Körpermitte sind typische Beschwerden.
Mit Sonia Kälin (40) hat eine prominente Frau die Schweiz auf das Thema aufmerksam gemacht. Die Schwingerkönigin und Schiedsrichterin in der SRF-Sendung Donnschtig-Jass hat zwei kleine Töchter und ist – wie so viele heute – erst in ihren Dreissigern Mutter geworden. Beides sind Risikofaktoren. 4,5 Zentimeter betrug der Spalt in ihrem Bauch zehn Monate nach der Geburt der zweiten Tochter. «Ich kann nicht einmal einen Ballon aufblasen, weil mir dann gefühlt der Bauch platzt», erzählte sie dem Blick damals. Beim Tragen der Kinder bekomme sie Rückenschmerzen.
Bauchübungen machen – oder besser nicht?
Was lässt sich tun? Betroffene haben zwei Möglichkeiten: Training oder Operation. Welche Massnahme zur Situation passt, ist keine leichte Entscheidung. Auch Fachleute sind sich nicht in allen Punkten einig.
Zu ihnen gehört Anja Sippel. Die Physiotherapeutin hat gerade das Buch «Der Rektusdiastase Guide» veröffentlicht. Frauen seien stark verunsichert, was sie nach einer Schwangerschaft dürfen und was nicht, sagt Sippel. «Deshalb tun sie oft gar nichts – ausser ihren Alltag zu bewältigen, der mit Haushalt und Kindern strenge körperliche Arbeit bedeutet.» Für sie ist klar: Das hat auch mit Empfehlungen zu tun, die heute als wissenschaftlich überholt gelten. Lange wurde Frauen geraten, die geraden Bauchmuskeln rund um die Geburt nicht zu trainieren. Dabei zeigen Studien, dass ein Training aller Bauchmuskeln – während der Schwangerschaft wie auch danach – die Rektusdiastase nicht vergrössert.
Sippel tritt dezidiert dafür ein, sämtliche Bauchmuskeln zu trainieren. Einig ist man sich, dass gezieltes Training nach der Schwangerschaft wichtig ist. Speziell natürlich im ersten Jahr nach der Geburt. Bauchdeckenchirurg Philipp Kirchhoff, der sich auf die Operation von Rektusdiastasen spezialisiert hat, betont die Bedeutung dieses Zeitfensters.
Uneins sind sich Kirchhoff und Sippel aber darüber, was durch dieses Training nach einem Jahr noch zu erreichen ist. Dafür muss man wissen, dass es bei einer Rektusdiastase ums Bindegewebe geht: Die geraden Bauchmuskeln weichen vor der Geburt auseinander, dabei wird die Bindegewebeplatte dazwischen, die sogenannte Linea Alba, gedehnt. Hormone wie Relaxin und Östrogen unterstützen den Prozess, indem sie das Gewebe weicher machen. Wenn das Kind da ist, stellt der Körper den Hormonhaushalt wieder um, das Bindegewebe wird wieder stabiler.
Dieser Prozess sei nach einem Jahr abgeschlossen, sagt Kirchhoff. «Dann verändert sich nichts mehr: Die geraden Bauchmuskeln bleiben, wo sie sind.» Weil die Linea Alba aus Bindegewebe bestehe, könne sie mit Krafttraining nicht trainiert werden. Sippel hingegen sagt, durch die Impulse im Krafttraining werde das Bindegewebe aktiviert, was zu mehr Kollagenbildung führe und dieses stabiler, straffer und elastischer mache.
Einig, sind sich beide wieder, wenn es um den Effekt auf die Stabilität des Bauchraums geht. «Mit Training und angepassten Bewegungsmustern im Alltag kann man die Stabilität in der Körpermitte jederzeit verbessern», sagt Sippel. Kirchhoff spricht von einer Kompensation. Die schrägen und queren und die stabilisierenden Muskeln könnten einen Teil der Funktion der geraden Bauchmuskeln übernehmen. Nur gebe es Grenzen: «Im entspannten Zustand steht der Bauch wieder vor.»
Welche Kriterien über eine Operation entscheiden
Ob eine Operation Sinn macht, hängt vom Leidensdruck ab. Eine Rektusdiastase von zwei oder eine von zehn Zentimetern sind nicht dasselbe. Die Operation, bei der grob gesagt die Diastase mit einer Naht gerafft und ein Netz aus Kunststoff oder eigener Haut eingesetzt wird, ist aufwändig. Die Patientinnen verbringen mehrere Tage im Spital und sind zwei bis vier Wochen krankgeschrieben. Eine Physiotherapie ein Monat vor dem Eingriff bis sechs Monate danach verbessert laut Kirchhoff das Ergebnis.
Auch wird der Eingriff nur teilweise von der Krankenkasse bezahlt. Mehrere Tausend Franken müssen Patientinnen selber zahlen. Kirchhoff sagt: «Wenn eine Frau sagt, sie habe 95 Prozent Lebensqualität, operiere ich sie nicht.» Er müsse sich sicher sein, dass die Operation die Lebensqualität signifikant verbessern könne. Etwa, wenn die Patientin dann wieder tanzen oder Golf spielen könne, oder die Kinder hochheben. In jedem zweiten Fall rate er von einer Operation ab.
Das wachsende Bewusstsein für die Rektusdiastase habe leider den Geschäftssinn einiger Kollegen geweckt, sagt Kirchhoff. «In der Schweiz gibt es Chirurgen, die die Patientinnen glauben machen, sie müssten ihre Diastase dringend operieren lassen, weil sie gefährlich sei. Das ist Blödsinn.» Zu ihm kämen auch viele Frauen, die an den Folgen einer Operation leiden.
Es gilt also gründlich abzuwägen. «Viele schaffen es so mit einer Rektusdiastase zu leben, dass sie sie weder funktional noch ästhetisch einschränkt sind», sagt Kirchhoff. So auch Sonia Kälin. Sie hat sich gegen eine Operation entschieden.
«Der Rektusdiastase Guide» von Anja Sippel, 08/2025, Eigenverlag, 38 Franken. (aargauerzeitung.ch)