Yvonne Gallusser hat einen langen Leidensweg hinter sich. «Ab dem Kindergartenalter bin ich aufgegangen wie ein Ofenchüechli», erzählt die heute 47-Jährige aus Solothurn. Eine Traumafolgestörung nach sexuellem Missbrauch prägte ihr Leben, Essen wurde zum Trost. Doch als sie mit 37 Jahren 145 Kilogramm bei einer Grösse von 1,75 Meter wog, wurde ihr klar: So geht es nicht weiter. «Ich hatte ein Doppelkinn, Schmerzen in den Gelenken, konnte kaum mehr die Treppe hochsteigen, war im Prädiabetes-Stadium – und psychisch am Anschlag.»
Am Universitätsspital Zürich traf sie auf einen Arzt, der ihre Probleme ernst nahm. Keine Diskriminierung, keine Schuldzuweisungen. Dann bekam sie einen Magenbypass, die Gewichtsabnahme war zunächst enorm: Sie wog noch 60 Kilogramm. Doch mit den Jahren kam das Gewicht zurück. Sie griff zu Saxenda, einem Medikament mit dem Wirkstoff Liraglutid, der das Hungergefühl reguliert. Er gehört zur Gruppe der GLP-1-Agonisten, zu der auch das neuere Semaglutid zählt, das in Medikamenten wie Wegovy steckt.
Saxenda half Yvonne eine Zeit lang, bis es aufgrund von Lieferengpässen nicht mehr an Adipöse vergeben wurde. Rasch nahm sie wieder zu und wog bald 100 Kilogramm. Eine zweite Magenbypassoperation brachte nicht den erhofften Erfolg. Vor einem halben Jahr begann sie mit Wegovy. Seither hat sie 20 Kilogramm abgenommen, wiegt nun 80 Kilogramm. Die Spritze bezahlt sie selbst: Wer bereits operiert worden sei, habe es schwer, Zuschüsse von der Krankenkasse zu erhalten, sagt Yvonne. Doch die rund 180 Franken pro Monat sind es ihr wert. «Ich fühle mich extrem wohl, so viel Lebensqualität!»
Ihre körperlichen Beschwerden sind verschwunden: kein Bluthochdruck, keine Gelenkschmerzen, keine Rückenschmerzen, kein Prädiabetes mehr, auch die Füsse tun nicht mehr weh. Doch nicht nur das, sie hat auch ihren Lebenstraum verwirklicht und zweimal den Jakobsweg bewältigt.
Die Gewichtsreduktion veränderte auch ihr Liebesleben: Während ihrer schwersten Zeit hatte Yvonne einen Partner, auch adipös und schliesslich am Magen operiert. Als die Kilos bei beiden purzelten, spürte vor allem Yvonne neue Energie, Euphorie. «Ich ging aus, lernte Leute kennen.» Er war weniger der Typ dafür. «Plötzlich wurde ich von fremden Männern beachtet – das kannte ich vorher nicht.» Sie begann zu flirten. Und holte nach, was sie in den Zwanzigern nie hatte. So geriet die Beziehung ins Wanken. «Es hat vorher schon gebröckelt, aber die Lebensveränderung durch den Gewichtsverlust war das Tüpfli auf dem i.» Schliesslich trennte sich das Paar. Yvonne ist heute glückliche Singlefrau.
In der Psychologie gilt ein starker Gewichtsverlust als ein «Major Life Event». So bezeichnen Fachleute Ereignisse, die das Leben nachhaltig und gravierend verändern. Sie bringen die Beziehung zwischen einer Person und ihrer Umwelt durcheinander und lösen starke Emotionen aus. Auslöser können positiver oder negativer Natur sein: eine schwerwiegende Erkrankung, Trennung, der Tod eines Angehörigen oder eine Beförderung, die Geburt eines Kindes – oder eben das Erreichen eines Zielgewichts.
Eine Übersichtsarbeit von Forschenden aus Singapur und Grossbritannien schälte auf Basis von 36 Studien mit adipösen oder übergewichtigen Erwachsenen eine Reihe an Veränderungen heraus, die mit Gewichtsverlust einhergingen. Dazu zählten mehr Selbstwertgefühl, weniger depressive Symptome und Angstzustände, das Verhältnis zum eigenen Körper verbesserte sich, die Personen berichteten von mehr Vitalität und einem besseren Sozialleben.
Dennoch gibt es auch Fälle, bei denen sich das Sozialleben eher verschlechtert hat. Dies unter anderem, weil die Personen sich mit ihren neuen Essgewohnheiten im alten Umfeld nicht mehr wohlfühlten. Eine andere problematische psychologische Folge ist die durch den Gewichtsverlust verursachte überschüssige Haut, die zu seelischen Belastungen bei den Betroffenen führen kann. Im Zusammenhang mit den Fett-weg-Spritzen ist das «Ozempic Face» bekannt geworden: eingefallene Wangen und tiefere Falten, die einen deutlich älter wirken lassen.
Die Endokrinologin Eleonora Seelig leitet die Adipositas-Sprechstunde am Kantonsspital Baselland und am Universitätsspital Basel. Sie bestätigt, dass die Abnehmspritze für viele Personen nicht nur ein paar Kilos weniger bedeutet, sondern ein neues Leben. Die Nachfrage nach den Abnehmspritzen sei riesig, sagt sie.
Es handle sich zwar nicht um «Zauberspritzen», betont die Ärztin. Manche Patienten nehmen mit ihnen nicht ab, andere leiden an sehr starken und anhaltenden Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall. Umso wichtiger sei eine individuelle Begleitung und ein realistischer Umgang mit Erwartungen.
Aber in der Summe sei es beeindruckend, wie viele Patientinnen und Patienten positiv auf die Behandlung reagierten: «Viele sehen sehr schnell Erfolge. Sie sind erleichtert, zufrieden – manchmal sogar richtig euphorisch.» Mit den Medikamenten bekämen sie endlich das Hungergefühl in den Griff, erlangten die Kontrolle über das Essverhalten zurück. Damit kommen auch andere Lebensbereiche ins Gleichgewicht: Bewegung und gesunde Ernährung seien nicht mehr ein ständiger Kampf gegen den inneren Schweinehund, so Seelig.
Ardian kennt diese Erfahrungen nur zu gut. Der heute 17-Jährige musste sich schon im Kindergarten Sprüche zu seinem Gewicht anhören. Er merkte, dass er im Sport nicht mit den anderen mithalten konnte. «Ich habe mich zwar angestrengt, aber ich war immer langsamer, sprang weniger hoch, schaffte es nicht, mich an den Ringen hochzuziehen.» Seine Lehrer gaben ihm dennoch gute Noten, weil sie sahen, wie sehr er sich bemühte. Doch wohl fühlte er sich in seinem Körper nicht.
Essen war für ihn lange ein Ventil. «Fast Food war meine Schwäche – Burger, Döner, Pizza, Pasta. Und ich konnte Süssgetränken und Energydrinks nicht widerstehen.» Nach schlechten Tagen kam es zu Fressattacken. Mit 15 Jahren wog Ardian 142,8 Kilogramm. Bei einer Grösse von 1,75 Metern ergibt das einen BMI von 46,7, also hochgradig adipös. «Mir wurde klar, dass ich so nicht weitermachen kann», sagt er. Mit eiserner Disziplin nahm er 10 Kilogramm ab: Er stellte seine Ernährung um, begann gesunde Mahlzeiten zu kochen, geht nun viermal pro Woche ins Fitnessstudio. «Sport war früher eine Qual, heute ist er ein fester Bestandteil meines Alltags.»
Seit einem halben Jahr spritzt sich Ardian zusätzlich täglich Saxenda (Wegovy wird für Jugendliche von der Krankenkasse nicht übernommen). Begleitet wird er von Dunja Wiegand, Leiterin der Adipositas-Sprechstunde am Ostschweizer Kinderspital St.Gallen. «Kinder und Jugendliche mit extremer Adipositas haben im eigentlichen Sinne eine Essstörung», sagt sie. Das Essen diene nicht mehr nur der Sättigung, sondern werde eingesetzt, um Gefühle wie Wut, Frust oder Traurigkeit zu betäuben – wenn auch nur für kurze Zeit. Deshalb müssten Betroffene immer wieder zum Essen greifen – ein Teufelskreis, so Wiegand.
Erschwerend komme hinzu, dass stark übergewichtige Jugendliche häufig Ablehnung und Spott erleben. «Das verschlechtert ihren ohnehin labilen psychischen Zustand zusätzlich.»
Ardian hat gelernt, solche emotionalen Essmuster zu durchbrechen. «Der Weg war nicht immer einfach», gibt er zu. Inzwischen hat er fast 50 Kilogramm abgenommen. Als er nach einem Foto von früher gefragt wird, scrollt Ardian durch sein Handy. Und scrollt weiter. Lange. Dann zuckt er mit den Schultern. «Ich habe mich kaum fotografiert. Und wenn doch, habe ich die Bilder gelöscht.»
Denn Scham war lange seine Begleiterin. «Wenn ich in der Stadt in meinen Burger biss, spürte ich die Blicke der Leute. Im Kleidergeschäft passte mir nichts.» Es sei ein besonderer Moment gewesen, das erste Mal Kleidung in regulärer Grösse zu kaufen. Früher ging er auch ungern in die Badi. «Diesen Sommer wird das anders sein.»
Er spricht öffentlich über dieses neue Lebensgefühl, weil er andere motivieren möchte. Er wisse, wie es sei, an einen Punkt anzukommen, an dem man denke, dass es nicht mehr weitergehe. Seine Botschaft lautet: «Dranbleiben, Disziplin aufbauen und sich selbst respektieren.»
Auch Yvonne Gallusser berichtet, wie sich nicht nur ihr Körper verändert hat, sondern auch ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft. Früher hat sie viel Diskriminierung erlebt, wurde von ihrem Chef verhöhnt: «Wenn du die OP machst, bleibst du trotzdem dick», meinte er. Das Dicksein hat er gleichgestellt mit Dummheit, Faulheit, Versagen. Im Zug mieden die Leute sie. «Jetzt setzen sie sich neben mich.» Das sei ein schönes Gefühl.
Die Ärztin Eleonora Seelig weiss, dass Übergewicht immer noch stark stigmatisiert wird. Dabei zeigten viele Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte: Veranlagung spielt eine viel grössere Rolle als lange angenommen. «Wir wissen heute, dass manche Menschen schlicht weniger Sättigung empfinden oder stärker auf Essensreize reagieren. Das ist vererbbar», sagt Seelig. «Es ist nicht einfach eine Frage des Willens.»
Da die Abnehmmedikamente derzeit nur für drei Jahre von den Krankenkassen bezahlt werden, müsse die Zeit genutzt werden, um den Lebensstil nachhaltig umzustellen, betont Eleonora Seelig. «Es geht nicht nur ums Abnehmen, sondern darum, das Gewicht später auch halten zu können.»
Das wissen Betroffene natürlich. Es gibt Personen, die viel abgenommen haben und deren Gedanken auf einmal nur noch um die Zahl auf der Waage kreisen. Das löst Druck und Unzufriedenheit aus, wenn das Wunschgewicht nicht ganz erreicht wird oder wenn die Kilos zurückkommen.
Seelig sagt aber, dass erste Beobachtungen ihrer eigenen Patientinnen und Patienten durchaus positiv seien: «Wir sind zum Teil selbst überrascht zu sehen, wie gut sie ihr Gewicht nach Absetzen der Medikamente halten können.»
Ardian wünscht sich, noch 20 Kilogramm zu verlieren. Dann hätte er einen BMI von 23,3 – Normalgewicht. Und vor allem ist er zuversichtlich, sein Gewicht auch ohne die Spritze halten zu können. «Ich habe die neuen Gewohnheiten verinnerlicht, mein Mindset gestärkt.» Er lächelt und sagt: «Ich weiss, dass ich es schaffen werde – nicht nur für den Moment, sondern für immer.»
Yvonne Gallusser ist zufrieden mit ihrem Gewicht: «Vielleicht noch ein bisschen weniger, aber es muss nicht sein.» Denn sie weiss, dass auch dies ihre Seele nicht vollständig heilen würde: «Das Abnehmen ist letztlich nur eine Krücke», sagt sie. Ihr Trauma begleitet sie weiterhin, psychologische Betreuung ist nach wie vor notwendig. «Man kann eine Traumafolgestörung nicht einfach abstreifen», sagt Yvonne. Aber sie habe gelernt, damit umzugehen. Ihr Rat an andere? «Sucht euch Gleichgesinnte.» (aargauerzeitung.ch)
Vor langer Zeit kannte ich eine junge Frau, die hatte dadurch ihr Gewicht noch weit mehr als verdoppelt.