Alice Schwarzer wächst bei ihren Grosseltern auf, Antinazis, die sie politisieren.
Alice Schwarzer, im Dezember werden Sie 80 Jahre, und Sie sind kein bisschen leiser. Wem oder was verdanken Sie eigentlich Ihren ewig jugendlichen Kampfgeist?
Man ist ja nicht, nur weil man 80 wird, plötzlich ein anderer Mensch. Ich erinnere mich an den sehr wahren Satz von Sartre: «Alt ist man immer nur für die anderen.» Innerlich ist man derselbe Mensch wie vor 20 oder 40 oder 60 Jahren. Aber zu Ihrer Frage: Woher habe ich das? Das habe ich früh geübt. Ich bin ja bei den Grosseltern aufgewachsen. Und meine Grossmutter war zwar öffentlich sehr schüchtern, aber innerhäuslich tonangebend. Sie hat die Nazis gehasst. In zwölf Jahren nicht einmal Heil Hitler gesagt - darauf war sie stolz- und Zwangsarbeiter durchgefüttert, das fand sie selbstverständlich.
Hat Ihnen das in Ihrer Kindheit keine Nachteile eingebracht?
Alice Schwarzer: Oh doch! Wir waren sehr randständig, aber ich habe daraus gelernt. Ich habe zwischen uns und den anderen vermittelt. Doch es war bei uns selbstverständlich, nicht wegzusehen und auf der Seite der Schwächeren zu stehen. Und das ist für mich lebenslang so geblieben. Ich kann gar nicht anders.
Nicht müde also, oder, bei gewissen Themen vielleicht inzwischen doch etwas resigniert?
Ja. Dass wir zum Beispiel immer noch um die selbstbestimmte Mutterschaft, um das Recht auf Abtreibung ringen müssen. Und dass es weiterhin diese epidemische Männergewalt in den Schlafzimmern und Kinderzimmern gibt - das macht mich müde. Aber auch wütend. Und wenn ich wütend werde, handele ich.
In der Ukraine sehen wir vor unserer Haustüre, dass Krieg über Vergewaltigungen geführt wird. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie daran denken?
Der Krieg in der Ukraine macht mich wahnsinnig! Nicht nur wegen der Vergewaltigungen, auch wegen der zwangsverpflichteten ukrainischen Männer ab 18, die zu Zehntausenden sterben. Und wegen der ahnungslosen jungen russischen Soldaten, die da an der Front verheizt werden.
War es in Kriegen denn je anderes? Oder was ist in diesem Fall anders?
Es gibt beim Ukrainekrieg interessanterweise eine regelrechte Spaltung in der deutschen Bevölkerung. Umfragen belegen: die Hälfte ist für die Lieferung von immer mehr schweren Waffen - die Hälfte für Verhandlungen und den Stopp des Krieges. Aber das hat sich lange nicht in den Medien gespiegelt. Vor allem die sogenannten Leitmedien in Deutschland drängen auf Eskalation des Krieges. Die lieben Kollegen müssen ja auch nicht im Schlamm sterben. Darum habe ich im April einen Offenen Brief an Kanzler Scholz initiiert, der inzwischen von sage und schreibe 413'000 Menschen unterschrieben wurde! Wir fordern ein Ende der Waffenlieferungen, Kompromisse auf beiden Seiten für ein Ende des Krieges. Diese Kompromisse werden eines Tages kommen müssen, aber bis dahin sterben noch Zehntausende von Menschen, wird die Ukraine ein Land der verbrannten Erde werden und Europa in eine tiefe Krise stürzen. Nicht zu fassen! Ich habe nicht erwartet, zu meinen Lebzeiten mitten in Europa nochmals so etwas zu erleben.
In der Schweiz fordern zwei Organisationen für Prostituierte, ukrainische Flüchtlingsfrauen sollten sich ohne Hindernisse prostituieren können. Was sagen Sie dazu? Die Ukraine ist bekannt als Land, in dem der Frauenhandel blutige Spuren zieht. Auch in dieses Land.
Das ist Zynismus pur. Ich vermute, dass die Zuhälter-Lobby das den Damen geflüstert hat. Die freuen sich auf neue Ware, «Frischfleisch», wie sie sagen. Ich hoffe, dass der Schweizer Staat Wege findet - und sucht! -, um das zu verhindern. Wir kennen das ja aus allen Kriegen: Die Männer sind arm dran, aber für die Frauen und Kinder hört der Krieg auch nach Kriegsende nicht auf.
Das heisst was genau?
Auch die eigenen Männer sind brutalisiert und bewaffnet. Und die Söldner streunen durchs Land.
Das Recht auf Abtreibung wird aktuell weltweit wieder infrage gestellt. Frauenhandel existiert weiterhin, Kinderehe, Genitalverstümmelung, die Prostitution bleibt in den meisten Ländern legal. Was lässt Sie eigentlich glauben, dass sich Ihre Arbeit gelohnt habe?
Immerhin: Wir reden darüber! Das war früher nicht der Fall. Der Feminismus hat diesen ganzen Horror überhaupt erst zum Thema gemacht. Doch wir sehen: Der von uns erkämpfte Fortschritt ist nicht gesichert. Er muss immer wieder neu erkämpft werden. Ich hoffe, die jüngeren Frauen begreifen das. Vor allem die in den Medien, die so gerne vom Postfeminismus reden.
Lässt sich der Protest der iranischen Frauen gegen die staatliche Repression als Licht am Horizont verstehen? Und, was müsste passieren, dass sich die Lage der Iranerinnen tiefergreifend verändert?
Wir haben in der aktuellen EMMA eine grosse Strecke zu Iran und zu Afghanistan. Und bei allem Grauen: Wir zeigen, dass der Westen helfen kann. Und muss! Und ich erinnere in meinem Editorial an meine fast 44 Jahre Kampf an der Seite der Iranerinnen. 1979, bei der Machtergreifung von Ayatollah Khomeini, war ich ja zusammen mit einem Dutzend französischer Intellektueller auf den Hilferuf der zwangsverschleierten Iranerinnen nach Teheran geeilt. Seither bin ich an dem Thema drangeblieben.
Konkret, was muss der Westen jetzt tun, oder nicht tun, um die Frauen zu unterstützen?
Vor unserer eigenen Türe anfangen! Der politisierte Islam agitiert weltweit. Doch wir im Westen haben ihn oft unter dem Stichwort «Toleranz» gewähren lassen. Das ist fatal. Diese Leute haben den Glauben in Geiselhaft genommen und greifen im Namen der Religion zur Macht. Wozu sie fähig sind, sehen wir ja jetzt wieder in Iran. Der Iran ist seit fast 44 Jahren ein Gewaltregime, das alle Frauen und Männer, die nicht bei Drei auf den Knien liegen, auspeitscht, foltert, tötet. Vor Masha Amini sind schon Tausende Frauen gestorben, weil ihr Kopftuch nicht «sittsam» sass. Doch die eine war jetzt zu viel. Das iranische Volk kann nicht mehr. Es will die Diktatoren stürzen, koste es auch ihr Leben. Aber die iranischen Frauen und Männer werden die Tyrannen nur mit Unterstützung vom Ausland zu Fall bringen können. Wird diese Hilfe endlich kommen?
Sie zählen zur meistgehassten und zur am meisten bewunderten Frauenrechtlerin der Welt. Die Ablehnung Ihrer Positionen scheint aktuell auf einem neuen Höhepunkt zu sein. Neuerdings schimpft man Sie «transphob». Was passiert da gerade?
Das ist besonders grotesk. Schliesslich setze ich mich seit 1984 für die Rechte von Transsexuellen ein! Alles nachlesbar im Emma-Lesesaal. Damals kannte kaum einer auch nur das Wort. Und wer, wenn nicht ich, ist für die totale Dekonstruktion der Geschlechterrollen? Also dass ein Mensch, unabhängig von seinem biologischen Geschlecht, ganz einfach Mensch sein darf. Bei der aktuellen Debatte aber geht es um etwas ganz anderes. Es gibt Transideologen, die allen Ernstes fordern, dass jeder Mensch ab seinem 14. Lebensjahr ohne jede psychologische oder medizinische Befragung und Betreuung sein Geschlecht wechseln darf. Einmal im Jahr. Im Ernst. In Deutschland soll das sogar Gesetz werden.
Was wäre daran schlecht? Ich frage so naiv, um Ihre Argumente donnern zu hören.
Alles! Alles wäre schlecht! Die Kategorien «Frau» und «Mann» hätten keine soziale und politische Relevanz mehr. Dabei sind sie eine Realität. Stichwort: Gendermedizin. Oder Gender Gap. Oder Femizide. Das alles wäre nicht mehr zu erfassen, wenn das Geschlecht relativ wird. Vor allem aber: Die Jugendlichen, die sich für trans halten, würden mitten in der Pubertät irreversible Schritte machen, die sie später vielleicht bereuen. Das trifft vor allem die Mädchen, die keine «Frau» werden wollen. Deren Anzahl hat sich in den letzten Jahren in der westlichen Welt vervierzigfacht. Und das hat Gründe. Die Mädchen von heute sind zwischen konträren Rollenbildern zerrissen: von der Astronautin bis zur Barbie. Influencerinnen suggerieren ihnen zum Beispiel, sie hätten den falschen Körper.
Zurück zur Kritik an Ihnen. Verkennen Sie, dass Provokation eines Ihrer Talente ist? So schreiben Sie im erwähnten Buch, dass die Debatte über Geschlechteranpassung eine Mode sei.
Nein, keine Mode, ein Trend. Es gibt eine verschwindende Minderheit echter Transsexueller, denen muss geholfen werden, denn ihre Zerrissenheit und ihr Schmerz sind gross. Aber diese abertausenden Mädchen, die jetzt in den Transberatungsstellen anklopfen, die haben diese «Lösung» ihres Identitätskonfliktes im Internet oder in ihrer Peergroup gefunden. Doch in Wahrheit haben sie vielleicht ganz andere Probleme: kein Problem mit ihrem biologischen Geschlecht, sondern eine mit ihrer Geschlechterrolle. Zu Recht! Sie wollen keine Barbies sein. Aber dazu müssen sie kein Mann werden, sondern können ganz einfach freie Frauen sein.
Seit 2017 hat das deutsche Bundesverfassungsgericht entschieden, es gäbe ein drittes Geschlecht, man darf sich als «divers» eintragen lassen. Sie halten dagegen und akzeptieren nur zwei biologische Geschlechter. Wem nützt eigentlich die Ideologisierung des Geschlechterkampfes?
Es gibt nur zwei biologische Geschlechter. Das ist eine wissenschaftliche Tatsache und keine Glaubensfrage. Selbst die extreme Minderheit der Intersexuellen trägt kein drittes, sondern zwei Geschlechter in sich. Aber es gibt viele Geschlechterrollen und hundert Rollenschubladen. Und die gehören schon lange abgeschafft. Ich bin für den freien Menschen, unabhängig vom biologischen Geschlecht.
Der Fernsehfilm «Alice» über Ihre Arbeit bis zur Gründung von «EMMA» zeigt Sie als Kämpferin, die kaum je zu Diplomatie bereit war. Ob in Frankreich, Paris, oder in Deutschland, Sie wurden von Mitstreiterinnen immer wieder abgelehnt oder gemieden. Rückblickend, wo hat Ihre Sturheit der Sache geschadet?
Was reden Sie! Es gab vom ersten Tag an Konflikte in der feministischen Bewegung. So wie in der sozialistischen Bewegung. Aber bei Frauen redet man dann von «Weiberzank», bei Männern von «historischen Kontroversen». Die beiden grossen feministischen Strömungen sind in der Tat kontrovers, heute nennt man sie Universalistinnen und Identitäre. Ich bin Universalistin, wie Beauvoir oder Badinter, zum Beispiel. Ich gehe davon aus, dass im Prinzip alle Menschen gleich sind und mehr Gemeinsames haben als Trennendes. Wir wollen zu Verhältnissen beitragen, in denen alle Menschen gleiche Chancen und Rechte haben, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Ethnie oder Religion. Die Identitären aber - oder die Stellvertreter dieser Gruppen! -, betonen das Trennende und vertreten die Meinung, dass die Richtigkeit eines Argumentes nicht von Fakten abhängig ist, sondern von Meinungen und Gruppenzugehörigkeit.
Welche Entscheidung bereuen Sie, wenn Sie heute auf Ihr Leben sehen?
Dass ich die EMMA nicht in Paris gegründet habe.
Tatsache? Das ist nun aber eine Ohrfeige für Deutschland!
Wieso? Paris gibt es eben nur einmal.
In Zürich lesen Sie aus Ihrer Autobiografie «Mein Leben». Was soll Ihrer Zuhörerin an diesem Abend kapieren? Und was könnte, sollte ein männlicher Hörer verstehen?
Dass er ein Mensch sein darf - und kein Mann sein muss. Und dass er als Mann ein schweres historisches Erbe hat, gegen das er angehen muss, wie: Privilegien auf Kosten anderer, vor allem Frauen, Dominanzgelüste, Gewalt.
Ich hoffe, dass ich Ihnen mit dieser Frage nicht zu nahe zu treten: Das Grab von Simone de Beauvoir, Ihrer grossen Vordenkerin, ist mit roten Lippenstiftküssen übersät. Was wünschen Sie sich auf Ihrem Grabstein?
Dasselbe! Lippenstiftküsse auf dem Grabstein und Blumen und Steinchen, eine jüdische Sitte, oder bekritzelte Metrokarten und kleine Briefe, in denen Frauen aus der ganzen Welt sich für Beauvoirs Wirken bedanken, das ihnen Mut gemacht hat, 36 Jahre nach ihrem Tod. Aber noch kann man ja an die lebendige Alice Schwarzer schreiben, ziemlich lange noch, hoffe ich.
Alice Schwarzer liest aus der Autobiografie «Lebenswerk» im Bernhard-Theater, Zürich, eine Veranstaltung des Literaturhauses Zürich, am 30.10., Beginn 18 Uhr. Eine Diskussion mit Literaturhaus-Leiterin Gesa Schneider. Der Spielfilm «Alice» wird am 30. 11 in der ARD ausgestrahlt.
Aber ja, man soll gleichzeitig mit Putin sprechen und einen Friedenspakt verhandeln. Was auch fatal wäre, wenn denn wenigstens konsistent argumentiert wird.
Oder wenn das Sprichwort "der Pfad zur Hölle ist gepflaster mit guten Absichten" um ein Gesicht gebeten hätte. So Notwendig ihre Arbeit auch war, die zunehmende ideologische Verblendung und insbesondere Bilndheit gegenüber den Konsequenzen ihrer Forderungen machen aus der unbequemen Frauenrechtlerin einfach immer mehr die alte, schrullige Tante, die immer auf allen Familienfesten mit dabei ist, mit der aber eigentlich niemand etwas zutun haben will.
Eine aktuelle Studie der «Bertelsmann Stiftung» zeigt: „Eine deutliche Mehrheit von 60% befürwortet Waffenlieferungen der EU an die UA. Besonders gross ist die Zustimmung in Polen mit 84% der Befragten. In Belgien sind es 62%, in Deutschland 61%.“
5.10.22: «Europa steht fest an der Seite der Ukraine» https://bit.ly/3z7zYCf