Wenn sich jemand vorstellen kann, was die Eltern der verstorbenen Skitourenfahrer jetzt durchmachen, dann vielleicht Anne-Dauphine Julliand. Die 50-Jährige ist Autorin und Journalistin und lebt in Paris. Sie hatte mit ihrem Mann vier Kinder.
Arthur, das jüngste Kind, ist heute fünfzehn Jahre alt. Thaïs, die Zweitgeborene, starb mit drei Jahren an einer Leukodystrophie, bei der sich wegen eines genetisch bedingten Enzymmangels Nervengewebe kontinuierlich zerstört. Die zweite Tochter, Azylis, erkrankte ebenfalls an dieser seltenen Krankheit und starb 2017 im Alter von zehn Jahren. Fünf Jahre später nahm sich der älteste Sohn Gaspard, einen Tag vor seinem 20. Geburtstag, das Leben. Mit ihr über den Tod ihrer Kinder zu reden, ist nicht nur erschütternd, sondern macht auch Hoffnung. Diese Mutter schaffte es, weiterzuleben.
Es ist zwei Jahre her, seit sich Ihr Sohn Gaspard das Leben genommen hat. Was ist eine Ihrer schönsten Erinnerungen an ihn?
Anne-Dauphine Julliand: Ein paar Tage vor seinem Tod sind wir durch Paris spaziert bis zu einem Park. Wir sprachen über die Freiheit und die Liebe. Das war sehr schön, weil darin viel Zärtlichkeit und Leben war.
Dann haben Sie ihn verloren, Ihr drittes Kind. Wie überleben Sie?
Es klingt blöd, aber es ist das Leben an sich, das mich am Leben erhalten hat. Wie auch die Unterstützung meiner Lieben. Dadurch habe ich mich nicht alleine gefühlt. Das Schwierigste ist die Einsamkeit danach: Man fühlt sich alleine auf der Welt.
Vielen Eltern gelingt es nach dem Tod eines Kindes nicht, sich an irgendetwas zu erfreuen. Der Frühling erscheint ihnen falsch, das Schöne berührt sie nicht mehr. Wie ist Ihnen das gelungen?
Mich hat überrascht, dass das Leben weitergeht. Gerade der Frühling kommt immer wieder. Als ich vom Tod unseres Sohnes erfuhr, war es sechs Uhr morgens. Als ich danach das Spital verliess und durch die Strassen ging, erwachte die Stadt. Ich war vor Schmerz zerstört, als mir mitgeteilt wurde, dass unser drittes Kind tot sei. Und neben mir öffnete eine Bäckerei. Das war unerträglich: Die Welt drehte sich einfach weiter, während meine Welt gerade implodiert war. Aber als sich der Schmerz nach ein paar Monaten etwas beruhigt hatte, hat es mir gutgetan, dass die Welt sich weiterdrehte. Dass es da etwas Solides gab, etwas, das stärker ist als wir. Was ich stark fühle, ist, dass man die Wahl hat. Wenn Eltern die Schönheit des Frühlings heute noch nicht ertragen, ist der Schmerz noch zu stark. Es gibt keine Pflicht, das Schöne wieder zu sehen, aber bevor es wieder möglich ist, muss man den Gedanken aufgeben, dass das Schöne neben dem Schmerz unerträglich ist.
Betroffene Eltern sagen, wenn man ein Kind verliere, werde der Schmerz nie weniger.
Als ich vom Tod meines Sohnes erfuhr, dachte ich, ich würde sterben. Mein Herz hat so schnell geschlagen. Wenn ich in diesem physischen Zustand geblieben wäre, hätte ich nicht überlebt. Aber der Schmerz beruhigte sich. Er kommt oft zurück, aber die Abstände werden etwas grösser. Wenn mir meine Kinder fehlen, fehlen sie mir wie beim ersten Mal. Der Schmerz wird nicht weniger heftig, denn es ist nicht die Erinnerung, die schmerzt und verblassen könnte, nein, es ist, weil man die Kinder immer noch genau so liebt, wie damals. Dieses Unsterbliche ist es, was weh tut.
Es heisst, das erste Jahr nach dem Verlust sei das schlimmste. Weil man den ersten Geburtstag ohne das Kind erlebt, die ersten Weihnachten, die ersten Ferien alleine. War das bei Ihnen auch so?
Ich finde, das zweite Jahr ist das schlimmste. Im ersten Jahr leidet man sehr, aber man ist noch unter Schock und vom Schmerz wie betäubt. Diese ersten Male allein sind schwierig, aber man erwartet das. Im zweiten Jahr erst versteht man, dass die Abwesenheit definitiv ist, dass man das ganze restliche Leben ohne den Menschen sein wird, der uns fehlt. Am zweiten Geburtstag meines Sohnes nach seinem Tod habe ich daher mehr gelitten als am ersten.
Für Sie war es der dritte Verlust eines Kindes. War das umso schlimmer oder gab es etwas, was Sie gelernt hatten, das half?
Es ist beides. Ich wusste, dass ich überlebt habe, schon zweimal. Aber es war auch schlimmer, weil sich Gaspard das Leben genommen hat. Bei Thaïs und Azylis wussten wir, dass sie ein kurzes Leben haben würden, aber bei Gaspard sahen wir das nicht kommen. Darin lag eine Gewalt und eine Fassungslosigkeit, die wir bei den Mädchen nicht erlebt hatten. Als ich mich gefragt habe, ob ich das noch ein drittes Mal überlebe, sagte ich mir, dass man es nur einen Tag nach dem anderen schaffen kann. Das habe ich gelernt, als meine erste Tochter Thaïs starb und ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte. Man konzentriert sich auf den Moment. Auf schwere Momente folgen leichtere.
Spielt es also eine Rolle, ob ein Kind an einer Krankheit, bei einem Unfall oder durch Suizid stirbt?
Ich denke schon. Auf den Tod durch Krankheit kann man sich vielleicht auf eine Art vorbereiten und ich wusste, dass ich meine Töchter nie als Erwachsene sehen werde. Es gab einen bekannten Weg und ich konnte mich verabschieden. Bei Gaspard war es viel brutaler. Und es war auch kein Unfall, es war Suizid. Das spielt eine Rolle, aber nur fürs Erste. Nach ein paar Monaten kommt es auf dasselbe raus.
Sie haben über den Tod Ihrer beiden Töchter 2020 ein Buch veröffentlicht, «Consolation» heisst es, Trost. Damals lebte Ihr Sohn noch. Würden Sie es heute anders schreiben?
Ich würde nicht genau das Gleiche schreiben. Damals war in meinen Augen der Suizid eines Kindes das Schlimmste, was einen treffen kann. Und jetzt gibt es trotzdem Tage, an denen ich glücklich bin. Das ist meine grösste Überraschung, und das ist etwas, was ich teilen will. Man kann den Schmerz nicht löschen, aber man kann mit diesem Schmerz seinen Frieden machen. Darum geht es auch beim Trösten: Wenn man jemanden in den Arm nimmt, kann man ihn nicht am Leiden hindern. Denn das ist einfach das, was der andere fühlt und auch gefühlt werden muss. Beim Trösten geht es um die Angst vor dem Schmerz und dass man jemanden darin begleitet. Das ist möglich.
Sie machen einem Hoffnung, dass man nach einem Verlust überleben kann. Ihrem Sohn gelang es nicht.
Gaspard hatte eine Depression, die durch den Tod seiner Schwestern wohl schwerer ausgefallen ist, aber er ist nicht wegen ihnen gestorben. Ihr Tod war ja viele Jahre davor. Er war dazwischen ein glücklicher, junger Mann. Bis noch einen Monat vor seinem Tod hätte niemand sagen können, dass es ihm schlecht geht. Er war sehr gut begleitet von einem Psychologen. Er hatte alles versucht, um aus der Depression rauszukommen, er war in einer Klinik bis zu seinem Tod, weil er selbst gesagt hat, wenn ich da nicht hingehe, werde ich sterben. Er hat gekämpft wie ein Löwe, aber die Depression hat ihn uns weggenommen.
Wenn Menschen etwas Traumatisches erleben, entwickeln sie danach oft Ängste. Wie schafften Sie es, das Urvertrauen nicht zu verlieren, gerade, wenn es um Ihr viertes Kind, Arthur, geht?
Als Gaspard depressiv wurde, dachten wir nicht daran, dass wir ihn verlieren könnten. Denn wir hatten ja schon zwei Kinder verloren. Es schien unmöglich, drei Kinder zu verlieren. Aber leider ist im Leben alles möglich. Bloss werde ich Arthur deswegen nicht daran hindern, zu leben. Er ist fünfzehn, ich kann ihn nicht unter einer Glasglocke einsperren. Und was meinen Kindern zustösst, stösst jedem für sich zu. Es gibt kein Familien-Schicksal.
Sie wollen Ihr letztes Kind nicht überbehüten?
Ich rate ihm mit dem gesunden Menschenverstand jeder Mutter von Gefährlichem ab. Nicht, weil wir nur noch ihn haben, sondern weil das Leben schön ist und man Sorge dazu tragen soll. Aber man kann nicht alle Risiken ausmerzen. Wenn Arthur weit herausschwimmen will im Meer, dann sage ich: Wenn du das kannst, dann tu es. Ihn zu überwachen, ist nicht leben.
Was haben die Verluste mit Ihrer Beziehung zu Ihrem Mann gemacht?
Wenn ein Kind stirbt, ist das für ein Paar eine grosse Belastung. Es erschwert die Beziehung. Aber wir versuchen, einander zu verstehen, einander zuzuhören, einander zu trösten. Zusammenzuleben.
Können Sie verstehen, wenn jemand sagt, weil man als Eltern so verletzlich wird, will man lieber keine Kinder haben?
Ich kann das verstehen, aber ich finde es sehr traurig. Die Liebe ist immer das grösste Risiko im Leben. Ein Kind zu lieben macht einen extrem verletzlich, aber es gibt auch nichts Schöneres. Die Verletzlichkeit ist Teil dieser Schönheit. Wenn man liebt, kann man leiden. Aber mit einem trockenen Herzen leidet man noch mehr.
Was möchten Sie den Eltern sagen, die im Wallis ihre drei Söhne im Schneesturm verloren haben?
Man kann sie vor allem fest in den Arm nehmen. Weil man es nötig hat, jemanden nahe zu spüren, wenn man leidet. Ich möchte ihnen keine Ratschläge geben, sie werden ihren eigenen Weg gehen. Ich würde ihnen nur sagen, dass sie einen Moment nach dem anderen leben sollen.
Bitte erzählen Sie uns noch eine Erinnerung an eine Ihrer Töchter.
Ich habe da eine sehr schöne Erinnerung aus den Tagen vor Thaïs Tod, sie war drei Jahre alt. Sie konnte sich nicht mehr bewegen und lag auf ihrem Bett. Dennoch haben wir Verstecken gespielt. Ich habe einfach die Augen geschlossen und gesagt: Wo bist du, ich sehe dich nicht! Sie musste so lachen! Das Leben ist wirklich stark, bis zum Ende. Aber ich will nicht, dass man mich missversteht.
Was meinen Sie?
Ich will nicht überall das Positive suchen. Man sollte alles leben, auch den Schmerz. Ich finde, das Wichtigste, was man tun sollte, wenn man jemanden verliert, ist zu sich selbst sanft zu sein. Man muss nicht immer das Schöne in der Welt sehen, aber man muss bis auf den Grund seines Herzens sehen.