Die Welt ist ein unsicherer Ort. Das war sie zwar schon immer, doch bei vielen scheint das Unsicherheitsgefühl zu steigen. In Wohnzimmern werden Überwachungskameras positioniert, die vor Einbrechern warnen sollen. Babys werden auf spezielle Matten mit Sensoren gebettet, damit das äusserst unwahrscheinliche Auftreten eines plötzlichen Kindstodes noch unwahrscheinlicher wird. Und Kinder werden mit Smartwatches und GPS-Trackern ausgerüstet, damit die Eltern stets wissen, wo sich die Kleinen befinden.
«Ängste und beunruhigende Berichte führen dazu, dass Kinder oft nur wenig Freiheit geniessen können», schreibt der Schweizer Technik-Anbieter Tamolino. Und präsentiert auch gleich die Lösung für das Problem: eine GPS-Kinderortungsuhr mit SOS-Funktion. «GPS-Tracker eignen sich am besten, um Ihre Kinder zu verfolgen und ihre Sicherheit zu gewährleisten, da wir wissen, dass in diesen Zeiten Verbrechen gegen Kinder zugenommen haben», heisst es in einem Web-Ranking von Kinder-Smartwatches.
Kinder verfolgen? Da erinnert man sich an seine eigene Jugend zurück. Den ganzen Nachmittag streifte man als Dreikäsehoch durchs Dorf, spielte auf einer Wiese Fussball und ging danach mit Durst irgendwo hin, wo Wasser plätscherte. Wenn man Lust hatte, erzählte man das am Abend den Eltern, die sich deswegen nicht sonderlich besorgt zeigten. Hauptsache, wieder gesund daheim und glücklich.
Heute setzen immer mehr Eltern in der Schweiz auf eine Smartwatch mit GPS. Der Onlinehändler Digitec Galaxus erkennt einen «ansteigenden Trend». Derzeit sei bei den smarten Uhren für Kinder die Marke Xplora und dabei das Modell X5 Play am beliebtesten, das eine Ortung mit GPS ermöglicht, sagt eine Mediensprecherin. Dieses ab 100 Franken erhältliche Modell erfülle im Moment die Bedürfnisse der Eltern am besten. Es ermöglicht eine Zwei-Weg-Kommunikation, eine Kontaktaufnahme ist somit von beiden Seiten möglich und zudem via eigenes Smartphone steuerbar.
Familie Erni hat ihre Kinder mit GPS-Trackinguhren ausgerüstet. Die drei Kinder hätten solche Uhren selber gewünscht, «weil diese modern sind und jeder und jede eine hat», erklärt die Mutter. Man kann damit vieles machen. Sie zählen die Schritte, messen den Puls. Das ist lustig für die Kinder. Dass die Eltern so auch erfahren können, wo sie sich aufhalten – ist ein netter Nebeneffekt.
Man muss die Kinder auch nicht aktiv verfolgen auf seinem Handy. Eine besonders «smartere» Möglichkeit für Eltern ist das sogenannte Geofencing. Eltern definieren mit einem digitalen geografischen Zaun den Bewegungsradius. Verlässt das Kind diesen, vibriert das eigene Smartphone.
Was viele Eltern, die solche GPS-Tracker nutzen, nicht wissen: Oftmals handeln sie in einem Graubereich. Zumindest wenn Kinder nicht über die Funktion der Armbänder informiert werden, ist das ein unzulässiger Eingriff in deren Privatsphäre. Sogar die UNO-Kinderrechtskonvention hält ein Recht auf Privatsphäre für Kinder fest.
Hugo Wyler vom Eidgenössischen Datenschutz erklärt, die Kontrolle müsste verhältnismässig sein und dem Zweck der elterlichen Fürsorge dienen. «Wir vertreten hier eher die Meinung, dass die Überwachung fast immer unverhältnismässig ist», sagt Wyler.
Ausgeschöpft scheint der Markt für Kindertracking nicht zu sein. Der Trend sei noch nicht mit jenem in den USA vergleichbar, wo die Geräte viel weiter verbreitet sind, sagt die Sprecherin von Digitec Galaxus. Genaue Zahlen gibt es nicht. Eine Studie aus Deutschland besagt, dass etwa 8 Prozent der Eltern ihre Kinder mit GPS-Sensoren überwachen.
Andere installieren Kameras im Haus, um auch aus der Ferne das Treiben des Nachwuchses kontrollieren zu können. Am Hauseingang steht eine Kamera, damit niemand unerkannt eintritt, damit lässt sich aber gleich auch noch ablesen, wer wann nach Hause gekommen ist.
Bei Familie Morgan stehen solche Kameras. Als die Familie von einer Wohnung in ein Reihenhaus gezogen ist, hat sie sich die Kameras zugelegt, um einen gewissen Schutz vor Einbrechern zu erlangen. Einmal ging der Alarm los. Ein kurzer Schreckensmoment. Doch ein Blick übers Smartphone ins eigene Haus zeigte bald: alles in Ordnung. Es war die Katze, die sich etwas zu dicht vor die Kamera gestellt hat. Einmal, als die Familie eine neue Reinigungskraft engagiert hat, schaute der Vater kurz über sein Smartphone in das Wohnzimmer. Nicht, weil er ihr misstraut hätte. Einfach, weil es geht.
Überwachungstechnologie an Kinderarmen, in Wohnzimmern und unter Matratzen. Warum tun das Eltern? Einfach nur, weil es jetzt geht? «Zum einen ist es eine Angst ums Kind, aber zum anderen auch ein grosses Kontrollbedürfnis», sagt der Medienpsychologe Gregor Waller von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Vielleicht auch deshalb: Die Überwachung ist ein allgemeiner Trend. Die Kameras im öffentlichen Raum nehmen ständig zu. Nicht nur in China. Längst auch in der Schweiz. Natürlich im Namen der Sicherheit. Dieser Überwachungstrend setzt sich auch im Privaten fort.
Die Polizei rät übrigens nicht davon ab, findet sie unter gewissen Umständen sogar nützlich. Wichtig sei einfach, dass sie korrekt installiert seien.
Über die privaten Sicherheitskameras lassen sich nicht nur Katzen beobachten, sondern auch Familienmitglieder. Auch bei Familie Morgan. «Klar, wenn meine Frau wollte, könnte sie mich beobachten, wenn ich allein zu Hause bin», sagt der Vater. Das stört ihn aber nicht. «Er hätte ja nichts zu verbergen vor ihr.» Als technikaffiner Mensch ist ihm die Gefahr bewusst, dass sich theoretisch auch Hacker Zugriff verschaffen könnten. Natürlich sind die Zugänge mit starken Passwörtern geschützt, aber Garantie gibt es bekanntlich nie. Er überlegt sich nun, eine neue Kamera anzuschaffen, deren Linsen sich mit einer Klappe verschliessen, sobald man sich zu Hause befindet.
Familie Morgan überlegt sich auch, ob sie für ihre ältere Tochter ein GPS-Tracker kaufen soll, jetzt, wo sie in den grossen Kindergarten kommt. «Es würde mir ein Gefühl von Sicherheit geben, wenn ich weiss, dass ich sehen kann, wo sie ist, wenn sie zu spät nach Hause kommt», sagt der Vater.
Für den Medienpsychologen Gregor Waller ist das bloss eine «vermeintliche Sicherheit». Die Dinger könnten ausfallen, die Batterie leer sein – da gebe es viele Möglichkeiten, dass ein Tracker nicht funktioniere.
Für Waller ist das aber nicht der entscheidende Punkt: Viel mehr müssten sich Mütter und Väter fragen, was sie mit einem solchen Armband für eine Botschaft an ihr Kind senden würden. «Nichts anderes als: Du schaffst das nicht allein da draussen.» Eltern trauen es ihren Kindern nicht zu, doch diese müssten Autonomieerfahrungen machen, lernen, dass sie selbstständig unterwegs sein können. Nur so könnten die Aufwachsenden ein positives Selbstwertgefühl aufbauen, Selbstwirksamkeit erfahren.
Überwachte Kinder können unter Umständen ihr Verhalten ändern. Ihr Selbstwertgefühl kann im schlechtesten Fall in der Entwicklung verzögert werden. «Natürlich haben die Eltern eine Fürsorgepflicht. Doch wichtig wäre die Balance zwischen Fürsorgepflicht der Eltern und dem Recht des Kindes auf Privatsphäre», sagt Waller. Ähnlich sieht das die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm: «Wenn Väter und Mütter von ihrem Kind abhängig sind, fällt ihnen das Loslassen schwer. Damit verhindern sie, dass es Schritte in die Selbstständigkeit wagt.»
Klar, Kinder können in dieser hektischen Welt in brenzlige Situationen geraten. Aber genau damit müssen sie den Umgang lernen, um solche Risiken zu bewältigen. Dafür, so sagt Waller, brauche es Aufklärung durch die Eltern. Wie verhält man sich in riskanten Situationen? Wo holt man Hilfe und vieles mehr? Dafür brauche es eine Vertrauenskultur zwischen Eltern und Kindern. «Das», so sagt Waller, «ist viel besser als eine technische Kontrolle.» (aargauerzeitung.ch)
- Sorry für diesen Kommentar aber es zeigt doch, wie lächerlich die Begründung des Herstellers ist.
Liebe Eltern, seid doch einfach etwas mehr zuhause. Dann kommt ihr weniger in Versuchung, solchen Krimskrams einsetzen zu wollen. Das hat ja schon voyeuristische Züge. Ach, war das schön, als wir als Kinder ganze Nachmittage ausserhalb jeglicher elterlicher Kontrolle unterwegs unsere Streiche spielen konnten. Gelegentliche nachtr. Reklamationen nicht ganz ausgeschlossen.