Das Irritierende ist, wie toll viele Menschen in Amerika Elizabeth Holmes noch immer finden. Holmes ist die berüchtigte Silicon-Valley-Hochstaplerin, einst gefeiert als «der weibliche Steve Jobs», seit Januar 2022 wegen mehrfachen Betrugs verurteilt. Sie ist die Frau, die behauptete, das amerikanische Gesundheitswesen zu revolutionieren. Mit einem Bluttest-Gerät, das allen erlauben sollte, zuhause rund 240 Krankheiten zu diagnostizieren. Es erkannte nur Herpes. Und Holmes brachte Testpersonen in Lebensgefahr.
Aber sie hatte den Leuten einen amerikanischen Traum vorgegaukelt. Von einer, die mit 19 Jahren auszog, um anderen zu helfen. Und nichts hält sich in Amerika so hartnäckig wie der amerikanische Traum. Alles ist machbar. Man muss nur wollen. Und glauben. Irgendwann wird es schon gehen. Und wie kann eine Person, die wie Holmes das Wohl anderer im Sinn hat, schlecht sein?
Anders sieht es aus, wenn man Elizabeth Holmes, die heute 38 ist und aktuell auf ihr Strafmass wartet, aus einer europäischen Perspektive betrachtet. Wir sehen eine vertrauensunwürdige Psychopathin, die mit Menschen, welche sich ein kaputtes Gesundheitssystem nicht leisten können, Schindluder treibt. Epische Gier.
Allerdings ist diese europäische Wahrnehmung medial gefiltert. Wir waren ja nicht dabei, als sich das Phänomen Holmes und ihre Firma Theranos (der Name ist eine Mischung aus «Therapie» und «Diagnose») entwickelten. Wir kennen Berichte über sie, vielleicht noch den höchst mittelmässigen HBO-Dokfilm «The Inventor: Out for Blood in Sililcon Valley» oder ganz neu die makellose Hulu-Serie «The Dropout», die auf dem gleichnamigen Podcast basiert.
Wie fühlt es sich an, einen scheinbar amoralischen Menschen wie Holmes zu spielen? Okay, diese Frage wird uns nicht beantwortet, Amanda Seyfried, die Elizabeth Homels verkörpert, stand uns für ein Zoom-Interview nicht zur Verfügung. Dafür Naveen Andrews. Er spielt Holmes' langjährigen, älteren Liebhaber Sunny Balwani, der auch noch als Investor und COO von Theranos amtete. Neun Minuten lang hat Andrews für uns Zeit.
Mr. Andrews, was ist ihre Meinung zu Holmes und Balwani? «Die unvorteilhafteste, um es milde auszudrücken. Amanda und ich mussten uns entschliessen, wie wir uns den beiden nähern, wie wir ihre Beziehung gestalten. Wir hatten die Aufgabe, sie als Menschen darzustellen. All unsere herkömmlichen Meinungen über Moral, unsere ganze Haltung ihnen gegenüber mussten wir ablegen. Holmes ist eine Betrügerin, Balwani ein Betrüger, that's that. Wenn Sie die Menschen fragen würden, deren Leben durch sie in Gefahr gebracht wurden und die Investoren, deren Milliarden sie veruntreuten, würden Sie unbedingt mit Ihnen übereinstimmen.»
Und die anderen? Halten die am amerikanischen Traum fest? «An dem, was davon übrig geblieben ist. Aber ich sehe Holmes und Balwani in einer historischen Tradition: Sie gleichen den Räuberbaronen des 19. Jahrhunderts, die Amerika mit technischem Fortschritt, aber auch mit Monopolbildungen überzogen. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, mit unserer Show die ungebremste Macht und den Einfluss derartiger Unternehmen in Frage zu stellen.»
Naveen Andrews eigener Weg nach oben war kein leichter. Er kommt 1969 in London als Sohn einer Psychologin und eines Geschäftsmannes zu Welt, sein Elternhaus beschreibt er als «missbräuchlich», mit 16 sucht er Schutz bei einer 30-jährigen Lehrerin, zieht bei ihr und ihrem Mann ein, wenig später werden Naveen und sie ein Liebespaar, als er 23 ist, bringt sie sein erstes Kind zur Welt. Im gleichen Jahr erhält er die Hauptrolle im BBC-Vierteiler «The Buddha of Suburbia», ein Schatzkästchen von einer Miniserie, David Bowie komponiert den Soundtrack und geht mit Naveen zusammen auf Promotour, das Drehbuch ist von Hanif Kureishi, Roger Michell («Notting Hill») führt Regie.
Naveen ist jetzt hot. Und wird heroin- und alkoholsüchtig. Als er mit Juliette Binoche «The English Patient» dreht – er spielt Binoches langhaarigen indischen Lover –, kriegt er nur ganz knapp mit, was er überhaupt tut. Eines Tages fährt er unter vielerlei Einfluss seinen Sohn durch die Stadt und erkennt, dass ein Entzug ansteht. Er entschliesst sich, diesen im Rehab-Paradies Amerika durchzuziehen und wandert aus.
Mit der Nüchternheit kommen für ihn die Serien. «Lost» von J. J. Abrams (2004 – 2010), das grosse, nicht wirklich entschlüsselbare Mystery-Phänomen der neuen Serien-Ära des dritten Jahrtausends. «Sense 8» von den Wachowskis. Und jetzt «The Dropout».
«The Dropout» ist nicht einfach das nächste «Inventing Anna», keine Netflix-Massenware. «The Dropout» ist feinstes Serienhandwerk. Acht Folgen Aufstieg und Fall ohne Durchhänger, kein nervig überzeichnetes Personal, kein minutenlanges Geschwafel, perfekt geschrieben (von Elizabeth Meriwether, der Frau, der wir das dialogstarke «New Girl» verdanken), und mit einer Besetzung, nach der sich jeder Casting-Direktor nur die Finger lecken kann.
Stephen Fry spielt den tragischen britischen Biochemiker Ian Gibbons, der sich das Leben nimmt, als er von Holmes gefeuert und bedroht wird. Elizabeth Marvel (u.a. die amerikanische Präsidentin aus «Homeland») ist Holmes' Mutter, Dylan Minnette («13 Reasons Why») der Enkel eines Theranos-Verwaltungsrats-Mitglieds und Whistleblower. Und so weiter.
Als Naveen Andrews vor vielen Jahren mit David Bowie auf Pressetour für «The Buddha of Suburbia» war, lauschte er Bowies blumig formulierter Begeisterung über die gemeinsame Arbeit. Als er selbst um ein Statement gebeten wurde, sagte er: «Nun, es ist ein Job.» Bowie war entsetzt.
Mr. Andrews, war auch «The Dropout» nur «ein Job»? «Du meine Güte, nein! Kein bisschen! Ursprünglich interessierte mich die Geschichte von Elizabeth Holmes nicht. Als älterer Herr bin ich nicht an diesen jungen Leuten interessiert, die irgendein Start-up gründen. Doch dann entdeckte ich Shakespearsche Aspekte, ich dachte an Macbeth, mit Sunny Balwani als Lady Macbeth! Die Qualität des Drehbuchs und der Besetzung ermöglichten uns, den Stoff zu nehmen und zu etwas Besserem zu machen. Jedenfalls hoffe ich das.»
Er hoffte richtig. Wäre «The Dropout» Fiktion und nicht peinlich exakt der Wirklichkeit nachempfunden, es wäre genauso faszinierend.
Amanda Seyfried und Naveen Andrews entschieden sich für eine Interpretation ihrer Figuren, bevor Details über die Beziehung von Holmes und Balwani überhaupt bekannt waren. «Wir wollten, dass die beiden besessen voneinander sind.» Balwani greift in der Serie entscheidend in die Gestaltung ihres Images ein. Dass sie schwarze Steve-Jobs-Rollkragenpullis trägt, grüne Säfte trinkt und ihre Stimme tiefer macht, sind seine Ideen. Doch parallel zum Serien-Dreh förderte der laufende Prozess gegen Holmes immer neues Textmaterial zwischen den beiden zutage. Und dieses gab der Deutung von Seyfried und Andrews recht. «Das war eine riesige, riesige Erleichterung!»
Man kann Naveen Andrews Wahl in Sachen Serien nur als weise bezeichnen. Wie kam es dazu? «Ich versuche, meine Arbeit so zu wählen, dass sie Sinn macht, nicht bedeutungslos ist und ich trotzdem genug zu essen habe.»
Und? Schmeckt das Essen, das er sich erarbeitet? «Ich verhungere nicht!», sagt er, lacht und verabschiedet sich überaus warmherzig. Hinter ihm – Zoom hat so seinen Charme – warten schon seine fünf heiss geliebten E-Gitarren.
«The Dropout» startet bei uns am 20. April auf Disney+.
Hoffen wir, dass die Serie nicht den Menschen E. Holmes zerreisst, sondern auch die Gesellschaft (S. Meier inkl.), die sich gerade zu nach perfektem sehnt, und alles aus Genie langweilig findet.. aber Genie ist selten