Schauplatz des verstörendsten Endes einer TV-Serie, das von David Lynchs «Twin Peaks», ist ein Labyrinth aus schweren roten Vorhängen.
Sind die Vorhänge bei Lynch Zufall? Sicher nicht.
Vorhänge – sofern blickdicht – strahlen eine inhärente Bedrohung aus. Man kann sich nie sicher sein, was sich dahinter befindet. Bei Lynch sowieso nicht – aber auch zu Hause in den eigenen vier Wänden nicht.
Du glaubst, dahinter sei nur die langweilige Wand? Gut möglich. Aber bist du dir da wirklich sicher? Ohne nachgeschaut zu haben?
Vielleicht ist da auch ein Tomatenfleck oder eine haarige Spinne. Vielleicht aber befindet sich dahinter auch ein Mörderclown, eine Pforte zur Hölle … oder Roger Schawinski.
Ohne zu schauen, kannst du nicht sicher sein.
Kommt hinzu, dass ein Vorhang den geringstmöglichen physikalischen Schutz bietet vor ebendiesen Gefahren, die er so gut versteckt. Das Grauen hat jederzeit die Möglichkeit zuzuschlagen.
Noch nie hatte jemand, der es gut meint, einen blickdichten Vorhang nötig … in wessen Schloss wimmelt es nur so von schweren Vorhängen? Genau. Im Schloss von Graf Dracula. Und wer hat nicht nur einen pervers langen Tisch, sondern auch Gardinen, bei denen offensichtlich ist, dass sich dahinter irgendein Phishing-, Abhör- oder Vergiftungsapparat befindet?
Eben.
Vorhänge sind zutiefst suspekt und ganz offensichtlich Komplizen des Bösen.
Und dann gibt es noch die Wischiwaschi-Variante «nicht blickdicht». Unentschlossenheit in Stoff-Form. So ein richtiger Bünzlischeiss.
Noch nie hat so ein Vorhängli einen Raum schöner oder gemütlicher gemacht. Guck dir Fotos der schönsten Häuser der Welt an, Lloyd Wrights Fallingwater, das Stahl-Haus in Hollywood, oder die Villen von John Lautner. In keinem davon hängen Gardinen. In Hitlers privater Residenz in Berchtesgaden hingegen …
Ich könnte diese Hetzschrift nun bis ins Unendliche erstrecken, dieses Argumentarium beinahe endlos erweitern. Aber wir wissen alle – das beste männliche Argument hilft nichts gegen ein weibliches: «Ich han kei Bock, dass die halb Nachbarschaft bi ois ine glotzt!»
Das Problem ist der Gendergap. Als langweiliger Ü40er mit BMI 27 kenne ich Geglotze und Gegaffe nur von Überlieferungen. Entsprechend beschränkt ist mein Bedürfnis nach Gegenmassnahmen.
Für viele Frauen sind belästigende Blicke hingegen tägliche Lebensrealität. Sie müssen mit gröberem Geschütz dagegen auffahren. Und leider, leider kann man Vorhängen dabei eine gewisse Funktionalität nicht absprechen.
Lange Rede, kurzer Sinn: Deshalb haben auch wir zu Hause Vorhänge. Ich habe mich mit ihnen arrangiert. Primär, indem ich sie ignoriere – ich versuche einfach, sie nicht zu bemerken. Das klappte recht gut. Bis gestern.
Jesus Maria, was sehe ich da.
Einige unserer Vorhänge sind überlang. So lang, dass sie locker auf dem Parkett zu liegen kommen. Und wenn man sie zurückzieht, schleifen sie über den Boden wie ein störrisches Kind im Supermarkt.
Wie konnte ich etwas derart Unpraktisches eine so lange Zeit tolerieren? Dort, wo der Stoff entlangschleift, haben schon Hühner auf den Boden geschissen. Alles, was aus Babys oder Kindern herauskommen kann, lag hier schon auf diesem Parkett – gehäuft. Hier latscht Quartiersbengel F. (7 Jahre) mit seinen matschigen Gummistiefeln durch, wenn er mit meinem Sohn draussen spielt, jetzt aber megadringend Bisi muss.
Natürlich machen wir stets sauber – aber was ist mit den Fuseln und Spinnen, sofern denn unterscheidbar? Den Keimen, Mikroben, Bakterien und Pollen? Und unser Stoffzamboni patrouilliert hin und her und nimmt alles auf wie Mutter Theresa, bietet allem Asyl, was nur erfunden wurde, um uns Menschen zu quälen.
Eine vertiefte Studie von Vorhängen konnte ich bisher vermeiden. Aber aus sowohl praktischen als auch hygienischen Gründen müssen Vorhänge haarscharf über dem Boden hovern. Wie Tom Cruise in Mission Impossible. Alles andere löst bei mir sofort Alarm aus.
Ich protestiere lauthals.
«Die Überlänge ist schon lange wieder im Trend», flötet es aus dem Badezimmer. Als wäre «Trend» jemals ein legitimer Grund für irgendetwas im Leben gewesen.
Natürlich ist mir le dernier cri in Sachen Vorhangtrends entgangen. Doch leider zeigt sich wieder einmal: Wer «kenne deinen Feind» nicht befolgt, den bestraft das Leben. Oder Pinterest. Dort liegen 80 Prozent der Gardinen mit einer Selbstverständlichkeit auf dem Boden, als wären sie der Haushund. Vermutlich riechen sie auch so. Mit derselben Anzahl Flöhe.
Kein Wunder, gibt es Grippe- und Seuchenwellen, wenn das führende Einrichtungsportal vorschlägt, die Fussböden mit den Gardinen zu reinigen. Wo bleibt da der Protest von Rigatoni … Risoletto … ihr wisst schon, der violette Schmalspur-Hagrid, der uns die Impfung madig reden wollte.
Ich entschliesse mich, Versäumtes nachzuholen. Ich entschliesse mich, Feindesland zu betreten. Einmal tief durchatmen und dann in den Browser tippen: «schoener-wohnen.de».
«Die Gardine hat ihr angestaubtes Image längst abgelegt und kann deutlich mehr als nur abdunkeln», lerne ich dort.
ABER DOCH NICHT, INDEM MAN SIE ÜBER DEN BODEN SCHLIRGGET!
«Das Karomuster findet seinen Weg aus der rustikalen Nische in unsere Wohnzimmer», heisst es weiter.
NEIN! NIE! Und hör auf mit diesem Erste-Person-Plural-Scheiss ... «So tragen wir unsere Lieblingsshawls diesen Herbstbububibu». Fick dich! Und ich meine nicht den Architekten. Ich trage meinen Schal immer noch wie 1987 und sicher nicht anders. Nur schon deshalb, um deiner Erste-Person-Plural-Repression die Stirn zu bieten. Pausenplatzgruppendruck hier, ehrlich.
«Mit Samt, Satin und Co. kehrt der Glanz zurück in unsere Häuser. Vorhänge und Gardinen schimmern mit Chrom auf Oberflächen und Accessoires um die Wette und verleihen dem Zuhause einen edlen Touch, nach Bedarf auch mit einem Hauch Exaltiertheit.»
EINEN HAUCH EXALTIERTHEIT GIBT ES NICHT! EXALTIERTHEIT BEDEUTET AUFREGUNG, ÜBERSTEIGERUNG! GUCK MICH AN! DAS IST EXALTIERTHEIT! UND DAS STEHT IM WIDERSPRUCH MIT «EIN HAUCH»!
Durchatmen ... Lautner-Villen angucken … Ich gebe zu, ich habe mich geirrt. Das Böse lauert nicht hinter einem Vorhang. Es lauert in Einrichtungswebseiten.
Ich wende mich wieder David Lynch zu. Dieser setzt Vorhänge perfekt ein, er spürt, welch teuflisches Werk die hängenden Stoff-Fetzen sind. Mit Sicherheit hat er in «Twin Peaks» die Vorhänge wie vom Lineal gezogen einen Zentimeter über den Boden schweben lassen. Er muss es doch wissen, das ist doch ein unabhängiger Denker, so einen kann man mit einer Erste-Person-Plural-Formulierung nicht kleinkriegen ... und da kommt auch schon die Szene.
Fuck me!
Da liegen sie.
Wie die Schweine im Dreck.
Die Welt ist verloren. Das ergibt doch einfach alles keinen Sinn.
Was folgt als Nächstes? Fake-Hosentaschen, die man gar nicht benutzen kann?
Ich bin raus hier.
Ich brauch jetzt einen Kaffee.
Einen verdammt guten Kaffee.
Und danach rüste ich meinen Staubsaugroboter mit Rasierklingen aus.
Der Spannungsaufbau phänomenal. Wein doch in Textform hat was ! Dieses Abledern tut der Seele gut. Ich mag es, wenn wenn sich eine/r wegen "einer Kleinigkeit" so richtig aufregen kann.
Bitte mehr !
Mir zum Beispiel gehen Telephongespräche im ÖV auf den Sack, um seine Wichtigkeit (Berufsstatus) zu zelebrieren.
Kein Licht stört beim einschlafen, kein reflektieren stört beim gamen.