Nein, ich spiele kein Schach.
Ich kenne zwar die Regeln, doch meine Schachkarriere beschränkt sich auf Partien gegen meinen damals doch sehr jungen Sohn, weswegen ich nun selbstredend keine Ahnung habe, was die «sizilianische Verteidigung» wäre. Oder etwa das «Damengambit». Letzteres ist Titelgeber der Netflix-Serie «The Queen's Gambit», das weltweit (und in der Schweiz) wochenlang auf der 1 der Netflix-Top-Ten war (und erst letzte Woche durch die neuste Staffel von «The Crown» auf den zweiten Platz verdrängt wurde).
Wieso ist eine fiktive Geschichte über eine nerdige Wettkampfart, die in den 60er-Jahren spielt, erfolgreich? Und relevant?
Erstmal muss gesagt werden, dass man nicht Schach verstehen, geschweige denn lieben muss, um die Serie zu geniessen. Schon mal gut.
Dann aber wäre da der Cast. Der ist so richtig, richtig gut.
Erwähnenswert wären etwa Harry Melling (den man von den Harry-Potter-Filmen her kennt – er spielte den Saugoof Dudley Dursley) oder Thomas Brodie-Sangster (ihn kennt man auch, mit seinem unverwechselbarem Gesicht ... und zwar von ... verdammt, woher kennen wir den schon wieder? GENAU: Der kleine Bub aus «Love Actually»!) – beide spielen Schach-Gegner Beths, die sich zu enge Freunde wandeln. Ebenso gefallen die grossartige Marielle Heller als Adoptivmutter Alma Wheatley und Newcomerin Moses Ingram as Beths rebellische Jugendfreundin Jolene.
Und, oh ja, Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy ist eine Wucht. Natürlich kommt ihr zugute, dass man ihr eine ungemein ikonische Rolle auf den Leib geschneidert hat. Aber, hey, eine ganze Staffel quasi im Alleingang stemmen, das braucht was.
Vor allem ist aber die cinematography und das Set-Design nur noch schön, schön, schön. Etliche Kameraeinstellungen wirken wie Kunstfotos, Gemälde gar. Kommt noch eine historische Sorgfalt dazu und die Serie ist Szene für Szene, schlicht eine Augenweide: Die US Open in Las Vegas, die Mexico City International Tournament 1966, die Weltmeisterschaft in Moskau 1967 – perfekte Ästhetik überall. Dass man der Filmfigur Beth Harmon ein Flair für schicke Mode und aparte Frisuren gegeben hat, tut noch das Seine.
Okay, Hauptdarstellerin wie Ensemble sind vorzüglich, die Serie optisch eine Augenweide. Aber wieso soll nun diese fiktive Geschichte, die in den 60er-Jahren spielt, relevant sein? Haben wir's hier nicht letztendlich mit einem handelsüblichen Aschenputtel-Narrativ zu tun? Sowas lauft gerne mal Gefahr, in die Schnulze abzudriften, nicht?
Zu Letzterem: Nein. Dazu ist das Storytelling – analog dem Charakter der Hauptfigur – viel zu sachlich. Beths Tabletten- und Alkoholsucht wird als Fakt und ohne zu werten dargestellt; Flashbacks zum Selbstmord ihrer Mutter werden aus der Sicht des noch sehr jungen Kindes gezeigt. Emotionen werden durch die Handlung erzeugt, nicht durch dramatische Szenen.
«The Queen's Gambit» ist nun mal eine hochstilisierte Fiktion – und gerade das macht sie zur vielleicht perfekten Serie für die Gegenwart, denn: Wir alle haben uns etwas mehr Schönheit in unserem Alltag verdient.
Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende zu und wir alle haben eine mehr als grosszügige Portion nervenaufreibendes Real-Life-Drama und Gefahr abbekommen gepaart mit Unschärfe und Kompliziertheit. Was wir nun brauchen, sind 7 Folgen optischer Genuss gepaart mit intelligenten Figuren, die sich in einer übersichtlichen Geschichte bewegen. Genau das liefert «The Queen's Gambit».
Ach, vielleicht brauchen wir alle eine innige Umarmung. Und die etwas holzige Beth Harmon ist die, die sie uns geben kann.
Konnte nicht aufhören die Serie zu schauen. Hat mich so gepackt, wunderbar gefilmt. Tolle Story und Schauspieler. 100% Empfehlung.