Es war einmal, da hatten vier Jungs aus Magdeburg die Mädchenherzen so richtig krass im Griff. Erst die deutschen, dann die französischen, dann die ... ach, es lässt sich wirklich nicht mehr überschauen, es war ein Monsun, eine heftige, stürmische, schwarz schraffierte Regenzeit, die da niederging auf die zarten, verletzlichen kleineren und grösseren Kinderseelen, und es waren selbst Kinder, die ihn entfesselten.
Jedenfalls sagt das Chefkind und der Haarspray-Botschafter von einst, also Bill Kaulitz, dass Tokio Hotel mit 15, 16, 17 nichts als eine Kinderband war. Jetzt ist er 30. Also alt. So alt nämlich, dass er dringend (mit Hilfe einer Ghostwriterin) seine Autobiografie schreiben musste. Titel: «Career Suicide: Meine ersten dreissig Jahre». Gut, vielleicht war es nicht nur das Alter, sondern die doppelte Unterbeschäftigung im Corona-Jahr 2020: Erstens hat «das fucking Riesen-Schlamassel» Tokio Hotel «kurz nach dem Start unserer lang geplanten Lateinamerika-Tour, genau wie den Rest der Welt, heftig in den Arsch gefickt».
Zweitens grilliert sein Zwillingsbruder Tom, mit dem er sonst monatelang im Wahlzuhause L.A. in einer flotten Villa kiffte, trainierte, Hunde bespasste und musikalisch herumpröbelte, jetzt einfach superhappy mit seiner Heidi deutsche Bratwürste.
Doch Bill hackt der lauernden Schlange Eifersucht sofort selbst den Kopf ab, denn: «Mit Heidi kam die Leichtigkeit in unser Leben. Ein Gefühl, das wir vorher noch nicht kannten. Die Jacht ‹Christina Oh› wäre fast explodiert vor LIEBE, als wir im Sonnenuntergang vor den Capri Rocks schipperten und ALLES zum ersten Mal vollkommen war.» Wow. Wurde schon je eine Schwägerin so euphorisch willkommen geheissen?
Gute Menschen in Bills Leben sind: Tom, ihre sympathische Hippie-Mutter, der hochmusikalische Stiefvater, der den Brüdern überhaupt erst die Musik nahebrachte, Georg und Gustav von Tokio Hotel, ein Freund namens Gühne, Nena, die den Kids regelmässig die durchgeknallten Köpfe zurechtsetzt, und Heidi. Sonst ist die Welt gespickt mit dummen Provinzostlern, «Flachwichsern und Arschlöchern», «Geiern», «Blutegeln» und anderen «Parasiten».
Da sind also diese Jungs, aufgewachsen in menschlicher Warmherzigkeit, aber materieller Armut. Bill will schon mit sechs Nena sein und liebt alles, was anders ist als der graue Kaff-Alltag in der Nähe von Magdeburg, wo es in seiner Wahrnehmung ausser Inzest und Nazis nichts gibt. Tom, der wie sein Bruder nur Einsen schreibt in der Schule (wo war da die Superhochbegabtenföderung?), läuft schon früh mit Dreadlocks rum, bricht jedes Mädchenherz am Wegesrand und will Punk sein, auch so richtig politisch.
Sie machen Musik und gründen die Band Devilish, und während sich Tom zum künftigen Rammelschweinchen entwickelt, drängt Rampenschweinchen Bill ins Fernsehen, und wird durch die Kinder-Ausgabe von «Star Search» mit 13 minimal berühmt. Jedenfalls reicht dies, dass sich Plattenfirmen für die vier zu interessieren beginnen. Und dann passiert's, als die Brüder 15 sind und Tokio Hotel heissen, schlägt «Durch den Monsun» ein wie ein Komet, das Debütalbum «Schrei» ebenfalls, sie sind Nummer 1 mit ihrem Emo-Punk-Pop.
Die Videos sind düster, Schwarz ist wichtig und Wasser muss sein, und wenns die gepeinigte Seele nicht mehr aushält, muss sie sich in einem Schrei Luft machen. Das deutsche Bubenpendant zu Evanescence und Kohorten. Der Erfolg ist irr, Luxusloft in Hamburg mit 16, täglich Gucci und Dior shoppen, Hunderte von Fans, die sie bis vor die Wohnungstür belagern, die «Bild»-Zeitung, die mit vorgehaltener Pistole nach Exklusiv-Storys verlangt, ansonsten wird der Welpenschutz aufgehoben.
Über einen Auftritt im Mai 2006 in der Zürcher Bahnhofshalle schreibt die NZZ: «Es hat etwas Rührendes, wenn Achtjährige aus voller Kehle mitsingen, die Hände in die Luft werfen und nach dem Konzert sagen: ‹Das waren die schönsten zwei Stunden in meinem Leben.›» Für Bill Kaulitz waren es sowas wie die schrecklichsten Momente ihres Tourneelebens: «Echte» Punks mit Plakaten, auf denen «Kill Bill» stand, trafen auf einen Zug voller Fussballfans, die Tokio Hotel eh doof fanden.
Und so geht es durch die paar Karrierejahre, erstes Koks mit 18 in New York, erster Israel-Auftritt einer deutschen Band überhaupt, Riesengewinne und -auftritte an diversen MTV Awards, Abräumen von Preisen (weltbestes Newcomer-Video mit «Ready, Set, Go!»), Auftritt vor 50'000 verzückten Pariser Teens vor dem Eiffelturm ... schliesslich Bills Zusammenbruch vor einem Riesenkonzert in Marseille, Zysten auf den Stimmbändern, Operation, Flucht nach Los Angeles. Alles immer bis ins kleinste Detail geschildert, was auch nötig ist, wenn man damit 400 Seiten füllen will.
Und was ist eigentlich so mit Sex? Nun, bei Tom ist wie gesagt viel los. Bei Bill, der gleichermassen androgynes Sexidol wie ätherische Identifikationsfigur für alle geschlechtlich Verunsicherten oder Unentschiedenen war, irgendwie nicht. Also verquälte Verhältnisse, vorwiegend zu Männern, aber auch zu Frauen.
Bills Welt ist keine Auster, sondern eine «Möse». «Die Musikwelt öffnete sich wie eine warme, feuchte Möse.» – «Das deutsche Essen schmeckte so gut, wie ich es in Erinnerung hatte, und meine Speicheldrüsen squirteten wie eine geile Muschi beim Anblick von Omas Kochkunst.» – «Ich fand, dass meine Stimmbänder aussahen wie eine sehr nasse Muschi mit richtig dickflüssigem weissen Scheidensekret, das vor Geilheit schäumte.»
«Career Suicide» ist genau das, was man von einem Buch wie diesem will: Ein mit Lippenstiftküssen und Swarovski-Steinen geschmückter Starschnitt, in allem total over the top, sein Hintergrundrauschen ein Kreischen aus Millionen Mädchenkehlen, alles fett, der Erfolg, der Stress, das Selbstmitleid. Ein grosses bis grössenwahnsinniges Getöse. Arrogantes Amüsement, zu dem sich Bill am Ende gratuliert: «Das hat du gut gemacht, Bill. Sei mal stolz für 'ne Sekunde. Danke.» Wieso auch nicht? Er hat schon ganz schön was gewuchtet. Magdeburg – Los Angeles.
Ist es jetzt das Buch, die Musik, "Schwanz gesteuert", oder...?
Jedenfalls stehe ich ratlos da und frage mich, warum ich das gelesen habe.
Und warum hab ich nur das Video angeklickt... 🙉