Kann man von Science Fiction sprechen, wenn eine Geschichte in unserer unmittelbaren Realität spielt? Sicher! Denn der Begriff hat im Kern ja nichts mit Zukunft, avantgardistischen Technologien oder der Eroberung ferner Sterne zu tun, also nichts mit der Hybris von Elon Musk, sondern schlicht mit Wissenschaft und ihrer Fiktionalisierung.
Angelehnt an Philip K. Dicks dystopischen Klassiker «Do Androids Dream of Electric Sheep?» (Träumen Androiden von elektrischen Schafen?), der später zu «Blade Runner» wurde, fragt man sich nach Piet Baumgartners «Bagger Drama»: Träumen Bagger von elektrischen Baggerführern?
Denn die Bagger und mit ihnen alle anderen Maschinen – das Elektroauto, die elektrische Zahnbürste, der Roomba, das Spitalbett und so weiter – sind in diesem Film sowas wie emphatische Wesen. Sie kümmern sich um den Menschen. Erleichtern ihm sein Leben. Sind ihm eine Hilfe. Gehorchen ihm. Und werden von ihm genauso im Stich gelassen wie der überflüssig gewordene Hund nach einer Scheidung. Auf die Maschine ist Verlass. Auf den Menschen nicht. Das Dystopische entspringt nicht der Wissenschaft. Das Dystopische entspringt dem Menschen.
Die Zärtlichkeit der Maschinen, die Fähigkeit einer mächtigen Baggerschaufel, mit einem sanften Stups eine Bierflasche zu öffnen, ist die Metageschichte von «Bagger Drama». Das, was bleibt. Und was die menschliche Erzählung, das «Drama», so besonders macht. Die Menschengeschichte geht so: Auf einem Dorf im Berner Seeland leidet eine Unternehmerfamilie unter dem Unfalltod ihrer Tochter.
Die Mutter (Bettina Stucky) vermisst ihr Kind auch nach einem, zwei, drei Jahren so heftig wie am ersten Tag nach seinem Tod, der Schmerz zersetzt ihr die Seele, der Vater (Phil Hayes, bekannt aus «Giacobbo/Müller») hat sich mit dem Verlust und dem nimmermüden Vermissen arrangiert. Und der Bruder (Vincent Furrer) der Toten hat sein Coming-out und will das Unternehmer-Erbe nicht antreten.
Die Familie geschäftet mit Baggern. Einer Armee von Baggern. Und sie steckt all ihre Energie, die sie der Trauerbewältigung widmen sollte, in die Bagger. Dressiert und zähmt sie, lässt sie für das Dorf ein Ballett aufführen. Das ist grosse Baumaschinen-Akrobatik und auf jeden Fall mit jener Schweizer Kunst-Tradition von Bernhard Luginbühl und Jean Tinguely verwandt, die aus jedem rostigen Rad eine poetische, kinetische Skulptur zu machen verstand.
Piet Baumgartner (41) erzählt mit «Bagger Drama» eine Anverwandlung seiner eigenen Familiengeschichte, auch die Baumgartners betreiben ein kleines Unternehmen im Berner Seeland, allerdings für Maschinenbau, nicht für Bagger, auch er verlor seine Schwester früh, auch er verliess sein Dorf nach seinem Coming-out und wollte den Familienbetrieb nicht weiterführen.
Die Bagger kamen durch eine andere Arbeit in sein Leben, 2015 drehte er das Musikvideo zu «Trough My Street» von Rio Wolta und liess darin zwei Bagger einen Pas de deux in einer Kiesgrube tanzen. Mit seinem Filmprojekt ging er viele Jahre schwanger, immer musste etwas anderes verwirklicht werden, etwa «EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz», das geradezu wahnwitzig erfolgreiche Stück über Eveline Widmer-Schlumpf im Zürcher Neumarkt Theater. Doch seit dem vergangenen Herbst ist «Bagger Drama» unterwegs, gewinnt Preise an internationalen Filmfestivals und Publikumsherzen.
Mehr noch als gelegentliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen interessierte Baumgartner die sehr schweizerische Eigenart, einem Problem mit Schweigen zu begegnen. Es gewissermassen aus der Welt oder ganz tot zu schweigen. Oder ihm, wenn es gar nicht anders geht, mit einer absoluten Sparsamkeit an Worten zu begegnen. Er hat dem Dorf enorm genau auf den Mund geschaut, die zwei, drei Sätze, mit denen die Mutter das Coming-out ihres Sohnes kommentiert, dürften alle genau so kennen, die vom Dorf kommen und sich dort einmal in einer ähnlichen Situation befunden haben.
Es liegt sehr viel Heimat in Baumgartners Film. Es ist eigentlicher Heimatfilm. Nur dass die Kühe, Geranien und Berge durch Bagger ersetzt worden sind.
«Bagger Drama» läuft jetzt im Kino.